Im Februar 2022 begann der russische Angriff auf die Ukraine. In dieser Story erfährst du, wie der russische Präsident Wladimir Putin seinen Ukraine-Krieg vorbereitet hat und welche Kriegsverbrechen die Invasion der Ukraine begleiten.
Ein verschwommener Blick aus dem Fenster, die Kamera wackelt. Das nächtliche Kyiv (Kiew) wird von Straßenlaternen erleuchtet. Wolodymyr Selenskyj schwenkt das Handy. Im Selfie-Modus begleitet man den Präsidenten der Ukraine auf dem Weg durch die Straßen Kiews in sein Büro. Er sagt: „Wir pflegen zu sagen: Montag ist ein harter Tag. Es findet ein Krieg in diesem Land statt.“ In der nächsten Einstellung sieht man ihn dann in seiner tarnfarbenen Jacke hinter seinem Schreibtisch sitzen, im Hintergrund eine mehr als mannshohe Ukraine-Fahne. Trocken beendet Selenskyj den Satz mit den Worten: „Also ist jeder Tag Montag.“
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Jetzt runterladen!Die selbstgedrehten Handyvideos des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kennt im Frühjahr 2022 fast die ganze Welt. Sie zeigen einen Präsidenten, der sich nicht im Bunker verschanzt, sondern präsent ist, um Unterstützung der Ukraine wirbt und der eigenen Bevölkerung Mut zuspricht. Und wie so oft garniert er seine Botschaften mit einer ordentlichen Prise Galgenhumor. Es ist diese bissige Ironie im Angesicht des Horrors, die sich nicht nur der Präsident, sondern viele Ukrainerinnen und Ukrainer in den harten Kriegstagen bewahren. Und dieser Krieg begann für das ganze Land an einem Donnerstag im Februar 2022. Es war der Tag, an dem russische Truppen die Ukraine angriffen. Der Tag, an dem ein autoritär geführtes Land eine Demokratie überfiel – mitten in Europa.
Auf der ganzen Welt zeigten sich führende Politiker von der russischen Invasion überrascht. Doch dieser Krieg war in Moskau offenbar von langer Hand vorbereitet worden. Werfen wir einen kurzen Blick zurück.
Bereits im Sommer des Jahres 2019 begann Russland in den Separatistengebieten der Ostukraine damit, ukrainischen Bürgern russische Pässe auszustellen. So konnte Wladimir Putin später behaupten, „russische Landsleute” zum Beispiel im Donbass hätten Russland um Hilfe gebeten. Denn das Eingreifen zum Schutz eigener Staatsbürger im Ausland lässt die russische Militärdoktrin ausdrücklich zu. Die russische Regierung begründet den Krieg gegen die Ukraine damit, dass Neonazis in der ukrainischen Regierung säßen und dass im Osten ein Völkermord an Russen stattfinde. Beides ist frei erfunden. Schon den Euromaidan hatte Wladimir Putin als faschistisch verunglimpft. Dabei hatten die Menschen dort vor allem für eine engere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union demonstriert.
Putins Propaganda greift eine Erzählung auf, die in Russland weit verbreitet ist. Sie lautet: Die Ukraine werde von Rechtsextremen gesteuert. Das Vorurteil gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg, als manche Ukrainer – gezwungen oder freiwillig – mit Hitlers Wehrmacht gegen die Sowjetunion kollaborierten.
Bei der Annexion der Krim hieß es wiederum, man müsse den Russen dort zu Hilfe kommen. Sie hätten um Schutz gebeten, schließlich habe der Euromaidan die Ukraine ins Chaos gestürzt. In der Welt der Propaganda ist das ein geschickter Schachzug Moskaus: Putin dreht Opfer- und Täter-Rolle um. Russland ist demzufolge nicht Aggressor, sondern Retter in der Not. Nach Putins Lesart gehört die Halbinsel im Schwarzen Meer von jeher zu Russland, spätestens seit ihrer Annexion durch Katharina II. im späten 18. Jahrhundert. In den Jahrhunderten davor war die Krim nämlich ein Protektorat des Osmanischen Reichs. Dass die Krim später zu Sowjetzeiten von Nikita Chruschtschow offiziell an die Ukraine übertragen wurde, bezeichnet Putin als „historischen Fehler”, den es zu „korrigieren” galt…
Im Frühjahr 2021 marschierten dann gut 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine auf. Drei Monate später legte Wladimir Putin in einem Aufsatz dar, was er von der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Ukraine hält: nämlich nichts. Putin behauptet, das Gebiet der Ukraine gehöre zu Russland. Ukrainer seien gar kein eigenständiges Volk. Mit anderen Worten: Wladimir Putin spricht der Ukraine das Existenzrecht als Staat ab.
Im Februar 2022 warnten die USA ihre Verbündeten davor, dass Russland unmittelbar einen Angriff auf die Ukraine plane. Dann ging es Schlag auf Schlag. Am 21. Februar erklärte Putin in einer Fernsehansprache, dass die Ukraine Atomwaffen entwickle und einen Völkermord an den Russen im Osten der Ukraine verübe. Dreiste Lügen, die den geplanten Angriff auf die Ukraine rechtfertigen sollten.
Einen Tag später erkannte Russland die selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten an. Jene Gebiete also, in denen Russland bereits seit 2014 inoffiziell einen Krieg führt. Der Plan dahinter: Die von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete der Ostukraine könnten jetzt darum bitten, Teil Russlands zu werden. Völkerrechtlich sind sie nach wie vor Teil der Ukraine.
Noch am Abend des 22. Februar 2022 ordnete der Kreml die Entsendung von Truppen in diese Gebiete an. Aber auch das war nur ein Zwischenschritt. Die totale Eskalation folgte zwei Tage später. Am frühen Morgen des 24. Februar um kurz vor 4 Uhr mitteleuropäischer Zeit kündigte Wladimir Putin eine „militärische Operation” an. Er behauptete, sie sei auf die von Russland anerkannten Regionen im Osten begrenzt. Kurz darauf begann der Großangriff auf die gesamte Ukraine. Ein Krieg, der in Russland nicht „Krieg” genannt werden darf. Wer es dennoch tut, dem drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Am Morgen des 24. Februar attackierten die russischen Streitkräfte die Ukraine aus verschiedenen Richtungen: Vom Norden, von Belarus aus, vom Osten aus Russland, und im Süden von der Krim her. Hinzu kamen Luftangriffe auf ukrainische Großstädte.
Putin rechtfertigte den Einmarsch mit dem angeblichen Völkermord an Russen im Osten der Ukraine. Und wieder sprach er der Ukraine das Recht auf Staatlichkeit ab. Die moderne Ukraine sei „vollständig von Russland geschaffen“ worden. „Sie ist ein unveräußerlicher Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unserer Religion“, so Putin. Er bezieht sich damit auf die gemeinsamen Wurzeln im Mittelalter: auf die damalige Kiewer Rus. Zwischenzeitlich gehörte der größte Teil der heutigen Ukraine allerdings zum neuzeitlichen Großreich Polen-Litauen und gelangte erst durch die drei Teilungen Polens im späten 18. Jahrhundert unter die russische Kaiserkrone.
Nach dem Einmarsch der Russen rief die Ukraine den Kriegszustand aus. Der ukrainische Präsident Selenskyj wandte sich an die Weltöffentlichkeit und bat um Unterstützung. Viele Staaten Europas verurteilen den russischen Einmarsch als Bruch des Völkerrechts. Doch weil die Ukraine nicht Teil des Verteidigungsbündnisses NATO ist, greifen die westlichen Länder nicht in den Krieg ein. Stattdessen einigten sie sich in Brüssel auf wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland und sie unterstützen die Ukraine nach und nach mit Waffenlieferungen. Auch die Deutschen beteiligen sich – nach einem anfangs strikten Nein. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer „Zeitenwende” und das Kabinett brachte ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auf den Weg. Allerdings wird Deutschlands Einsatz bei Verbündeten in Mittel- und Osteuropa als eher zögerlich wahrgenommen. Das lag unter anderem daran, dass sich die Verhandlungen über einen „Ringtausch” schwerer Waffen mit Nachbarländern wie Polen über viele Wochen hinzogen. Mit diesem „Ringtausch” sollen die ukrainischen Streitkräfte zum Beispiel mit Panzern russischer Bauart versorgt werden, die sie kennen und ohne lange Ausbildung bedienen können.
Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gehen schockierende Bilder um die Welt: gezielte Angriffe auf Wohngebiete, Familien, die tagelang in Kellern ausharren, übermüdete Kinder, zerfetzte Hochhäuser in Kyiv, die zerstörte Hochschule in Charkiw, das beschossene und besetzte Atomkraftwerk der Großstadt Saporischschja am Dnipro (Dnepr).
Belagerten Städten fehlt es an Wasser, Strom und Lebensmitteln. Um überhaupt etwas zu trinken zu haben, schmelzen Bewohner der Stadt Mariupol Schnee, trinken aus Pfützen oder Heizungsrohren. Entsetzen löste auch die Bombardierung eines Kinderkrankenhauses in der Hauptstadt aus – und das während einer vereinbarten Waffenruhe. Kritisiert wird Russland zudem für den Einsatz von Streumunition. Sie enthält hunderte kleine Bomben und gilt als besonders grausam.
Aber die Ukrainer wehren sich. In zähen Kämpfen konnte die ukrainische Armee besetzte Gebiete der Ostukraine zurückerobern. Und neue grausige Bilder gingen um die Welt: Leichen erschossener Zivilisten auf Dorfstraßen, Spuren unvorstellbarer Kriegsverbrechen. Mitte Mai gelang es ukrainischen Truppen, die Belagerung der Stadt Charkiw zu beenden. Am 1. August 1922 begann mit der Belagerung der Stadt Bachmut durch russische Verbände und die private Söldnertruppe Wagner unter ihrem Chef Jewgeni Prigoschin die bisher längste und verlustreichste Materialschlacht des Ukraine-Kriegs. Längst muss Prigoschin die Reihen seiner Söldner durch Strafgefangene ohne ausreichende militärische Ausbildung verstärken. Statt der versprochenen Freiheit finden sie den Tod.
Auch Länder außerhalb der EU versuchen auf diplomatischem Wege zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln – die Türkei etwa oder China. Peking legte einen sogenannten Zwölf-Punkte-Plan für Friedensgespräche vor, den jedoch weder Russland noch die Ukraine akzeptierten.
Allerdings gibt es auch in Russland Widerstand gegen Putins Angriffskrieg. Schon 19 Tage nach Beginn des Militäreinsatzes platzte die Kriegsgegnerin Marina Owsjannikowa mit einem selbst gemalten Plakat in die Nachrichtensendung des russischen Staatsfernsehens und rief: „Glaubt der Propaganda nicht. Sie lügen euch an!“ Sie hatte selbst viele Jahre als Redakteurin für den russischen Staatssender gearbeitet. Nach ihrem Live-Protest gelang der Journalistin die Flucht aus Russland; ihr drohen bis zu zehn Jahre Haft. Viele junge Russen schreckt das nicht ab: Sie treffen sich im Netz, organisieren Kunstaktionen, platzieren Antikriegsbotschaften auf Hochhausdächern, informieren in Blogs und Podcasts über das Meinungsbild abseits der russischen Propaganda.
Millionen Menschen sind seit Kriegsbeginn auf der Flucht, darunter viele Frauen und Kinder. Viele suchen in anderen Regionen der Ukraine Schutz, aber auch in anderen Ländern Osteuropa wie Polen, Rumänien, Moldawien, aber auch Deutschland. Experten erwarten die größte Fluchtbewegung seit 1945. Besonders schwierig ist es für alte, kranke oder behinderte Menschen, die nicht aus den Kriegsgebieten fliehen können. Für sie sieht die Zukunft trübe aus.
Und während die Menschen in der Ukraine um das eigene Überleben und um die Existenz ihres Landes kämpfen, läuft in Russland die Propagandamaschinerie Putins auf Hochtouren. Im Herbst 2022 behauptete das russische Verteidigungsministerium, die Ukraine bereite den Einsatz einer radioaktiv verseuchten „schmutzigen” Bombe vor. Ein Vorwurf, den nicht nur die Ukraine, sondern auch die USA, Frankreich und Großbritannien scharf zurückwiesen. Kyiv selbst lud die internationale Atomenergieagentur IAEA zur Untersuchung der entsprechenden Standorte ein. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg genehmigte die Entsendung zusätzlicher Truppen an die Ostgrenze des NATO-Gebiets als vorbeugende, ausdrücklich nicht eskalierende Maßnahme. In die Ukraine selbst, die kein Mitglied ist, kämen keine NATO-Truppen zum Einsatz.
Apropos NATO: Eines der geläufigsten Argumente Putins lautet: Weil das westliche Verteidigungsbündnis immer mehr Staaten Osteuropas aufnimmt, rücke es gefährlich nahe an Russland heran. Seit 2007 übt Russland Kritik an dieser Osterweiterung und bezeichnet sie als „gegen Russland gerichtet“. Dabei drängen viele osteuropäische Staaten aus Angst vor Russland in die Nato. 2022 haben auch die bis dahin neutralen Länder Finnland und Schweden als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine den NATO-Beitritt beantragt. Seit dem 4. April 2023 ist Finnland offiziell der 31. Mitgliedsstaat der NATO. Für Schweden stand um diese Zeit noch die Zustimmung Ungarns und der Türkei aus.
Putin hat also das Gegenteil von dem erreicht, was er in Bezug auf das Heranrücken des westlichen Verteidigungsbündnisses mit militärischer Infrastruktur an die Grenzen Russlands bezweckt hatte. Es werde eine Reaktion geben, drohte er nebulös und wiederholt. Seine Propagandamaschinerie bringt immer wieder dieses Argument hervor: Bei den Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands 1990 habe der Westen versprochen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Doch dieses Versprechen hat es so nie gegeben, erklären hochrangige Zeitzeugen. Das hätte auch keinen Sinn ergeben, denn damals gab es ja noch die Sowjetunion und deren Bündnis: den Warschauer Pakt, das Militärbündnis des Ostens.
Es stimmt, dass die NATO verschiedene Staaten im Osten Europas aufgenommen hat. Zum Beispiel 1999 Polen, Ungarn und Tschechien. 2004 Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien und die baltischen Staaten. 2009 Albanien und Kroatien. Allerdings geschah das erst, nachdem die Nato 1997 gemeinsam mit Russland Bedingungen für die Aufnahme ausgehandelt hatte, damit sich Russland eben nicht bedroht fühle.
Außerdem: Wer die Nato-Osterweiterung als ursächlich für den Russland-Ukraine-Krieg heranzieht, übersieht etwas ganz Entscheidendes: Jedes Land hat das Recht, selbst zu entscheiden, welchem Bündnis es angehören will.
Zusammenfassung
Bereits im Frühjahr 2021 begann Russland damit, seine militärische Präsenz entlang der ukrainischen Grenze massiv auszuweiten.
Am 24. Februar 2022 startete Wladimir Putin einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Vereinten Nationen werten dies als weiteren Verstoß gegen das Völkerrecht nach der Annexion der Krim und der ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk.
Die russische Regierung begründet den Krieg gegen die Ukraine damit, dass Nazis in der ukrainischen Regierung säßen und dass im Osten ein Völkermord an Russen stattfinde. Beides ist frei erfunden.
Russland beruft sich auf ein angebliches Versprechen der NATO, sich nicht weiter Richtung Osten auszudehnen. Eine solche Zusage hat es nicht gegeben.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. D) Am 24. Februar 2022
2. B) Wolodymyr Selenskyj
3. D) Finnland und Schweden
4. B) Bachmut
5. C) Wagner