Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Na, schon mal gehört? Die Ballade „Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe gilt als ein – ja, wenn nicht sogar als DAS – berühmteste Gedicht der deutschen Sprache. Was es so besonders macht? In dieser Story erlebst du, wie Goethe die Zuhörer zum Schaudern brachte.
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif ...
Die erste App, die dich wirklich schlauer macht.
Jetzt runterladen!Die Ballade „Der Erlkönig” kennt fast jeder – oder zumindest Auszüge davon. Johann Wolfgang Goethe, damals Anfang 30, schrieb dieses Werk als Teil seines Singspiels „Die Fischerin”, das 1782 am Schloss Tiefurt bei Weimar vor einer Hofgesellschaft von Herzog Carl August uraufgeführt wurde. Doch während Goethes „Fischerin” in Vergessenheit geriet, wurde sein „Erlkönig” ein Riesenerfolg. Er passte hervorragend in die Epoche des Sturm und Drang, jene literarischen Strömung, deren junge Autoren mit emotionalen Gedichten und Romanen gegen die Nüchternheit der Aufklärung anschrieben. Goethe war in dieser Zeit längst ein Star in der deutschsprachigen Literaturszene.
Die achtstrophige Ballade in dem einfachen Reimschema a-a-b-b erzählt von einem nächtlichen Ritt eines Vaters mit seinem kleinen Sohn durch einen Wald. Doch etwas stimmt nicht. Der Junge hat Angst – er sieht etwas Unheimliches. Oder besser gesagt, jemanden: den Erlkönig – eine geheimnisvolle Gestalt aus der Welt des Übernatürlichen. Oder hat der Junge etwa Fieberträume? Denn sein Vater kann den Erlkönig nicht sehen. Er sieht nur einen „Nebelstreif“.
In Goethes Ballade hält also das Übersinnliche Einzug in die Welt der Dichtung. Das war zweifelsohne etwas Besonders in der Epoche der Aufklärung, in der vor allem das zählte, was man erklären und beweisen konnte. Ausgerechnet in dieser Zeit verfasste Goethe nun seine fantastisch anmutende, düstere Ballade. Damit wurde er zur Inspirationsquelle für eine Bewegung, die erst um 1800 die Literatur prägen sollte: die Romantik. Die Romantiker widmeten sich dem Übernatürlichen, dem Ungewissen und thematisierten volkstümliche Sagen.
Und es ist genau dieses Spiel mit dem Ungefähren, das Goethes Ballade für den Leser – heute wie damals – so spannend und interessant macht. Wo reiten sie hin zu so später Stunde? Ist der Junge krank? Und ist es wirklich nur ein Nebelstreif, wie der Vater das Kind mit vernünftigen Argumenten beruhigen will?
Die Antwort gibt in den nächsten Strophen der Erlkönig selbst …
„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind.
Ja, fast großväterlich und freundlich spricht der Erlkönig den Jungen an. „Du liebes Kind, komm, geh mit mir“, sagt er und verspricht Spiele am Strand und goldene Gewänder. Doch der Junge ist verunsichert und wendet sich hilfesuchend an seinen Vater – doch der hört nur das Säuseln des Windes.
Und auch die „Töchter” des Erlkönigs, die dann ihren Auftritt haben, sieht er nicht...
»Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.«
Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. –
Stück für Stück baut sich die Spannung in Goethes Ballade auf. Und bis zum Schluss lässt Goethe den Leser im Unklaren darüber, ob der Erlkönig überhaupt existiert oder nur eine Ausgeburt der Fantasie ist. Mit dem Hinweis auf die „alten Weiden“ hat der Vater zumindest eine weitere Erklärung parat. Und doch verstärkt sich beim Lesen ein ungutes Gefühl. Denn die Welt des Erlkönigs wird mehr und mehr zu einer Welt der Schatten und der Gefahr.
Und dann, ganz plötzlich, scheint der Erlkönig mit dem zögerlichen Jungen die Geduld zu verlieren. Er droht ihm:
»Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.«
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! –
Der Erlkönig greift nach dem Jungen. Und auch der Vater spürt nun, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Er wird hektisch, reitet schneller und schneller durch die stürmische Nacht ...
Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,
Er hält in den Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Müh’ und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.
In dieser letzten Strophe setzt Goethe ein besonderes Stilmittel ein: Mit der letzten Zeile des letzten Verses – der Kadenz – wechselt er ins Präteritum: also in die Vergangenheit. Alle vorherigen Paarreime stehen im Präsens – der Gegenwart. Ein ganz ähnlicher Tempuswechsel findet sich ebenfalls in der letzten Zeile der Kunstballade „Erlkönigs Tochter”, die Johann Gottfried Herder bereits 1779 in seinem Buch „Volkslieder” veröffentlicht hatte: „Da lag Herr Oluf und er war tot”, lautet die letzte Zeile in Herders Gedicht. Dessen Story im Telegrammstil: Herr Oluf reitet zu seiner Braut und weigert sich, unterwegs mit dem unheimlichen Waldwesen zu tanzen.
Es liegt nahe, dass sich Goethe von ihm zu seinem „Erlkönig” inspirieren ließ. Herder wiederum war in der dänischen Volksdichtung fündig geworden, die einen mythischen „Ellerkonge” – einen Elfenkönig – besingt. Das Wort „Elle” oder „Eller” steht zugleich aber auch für die Erle: einen Baum, der gern in sumpfigen und entsprechend unheimlichen Landschaften wächst, wie es sie im 18. Jahrhundert auch in den deutschen Landen vielerorts noch gab. Ob der Elfenkönig nun durch eine versehentliche Falschübersetzung zum Erlenkönig wurde oder beide Begriffe für den höheren Gruselfaktor absichtlich miteinander verwoben wurden, ist in der Forschung umstritten. Die Idee zum „Vater mit seinem Sohn” wiederum könnte Goethe aus Jena mitgebracht haben: Dort soll ein Bauer aus dem Dorf Kunitz mit seinem schwer erkrankten Kind zur Jenaer Universität geritten sein, um dort ärztliche Hilfe zu erbitten. Der Arzt aber habe dem Kind nicht helfen können und es soll auf dem Rückweg gestorben sein.
So eindeutig das Ende der Ballade ist, so fragend lässt es den Leser zurück. Ist der Erlkönig real? Oder spricht der Junge im Fieberwahn? Spielt hier Goethe die Welt mythischer Naturgeister gegen die der Aufklärung aus – besiegt die Fantasie etwa die Vernunft? Oder geht es gar um sexuellen Missbrauch, da der Erlkönig am Ende von „der schönen Gestalt“ des Jungen spricht? Unterschiedliche Interpretationen nennen Argumente für alle diese Möglichkeiten. Aber wie man die Ballade auch deutet: Es bleibt beachtlich, dass Goethe mit einem vergleichsweise kleinen Werk eine so durchschlagende Wirkung erzielte. Es hat viele Künstler, Dichter und Maler inspiriert. So hat zum Beispiel der damals erst 18-jährige Franz Schubert im Jahr 1815 den „Erlkönig“ für Gesang und Klavier vertont. Goethe war zunächst wenig begeistert von der Vertonung seines Werks, soll sich aber Jahre später (1830) nach einer Aufführung doch noch recht angetan gezeigt haben. Frühere Vertonungen stammen unter anderem von Johann Friedrich Reichardt und Carl Loewe, der auch Herders „Erlkönigs Tochter“ vertont hatte. Die erste Vertonung der Ballade erfolgte bereits 1782 durch Corona Schröter, eine gefeierte Sängerin und Schauspielerin dieser Zeit. Sie schrieb ihre eigene Gesangsstimme für das Singspiel „Die Fischerin“, in welchem sie die Hauptrolle spielte.
Bemerkenswert sind auch die vielen Parodien, die es auf den Erlkönig gibt. So ließ zum Beispiel der Komiker Heinz Erhard seinen Erlkönig einst mit folgenden Worten enden:
Noch immer reitet der Vater schnell.
Erreicht den Hof mit Müh und Not
der Knabe lebt, das Pferd ist tot!
Und noch pointierter formulierte es der Komiker Otto Waalkes, der Goethes Ballade auf den Zweizeiler herunterbrach:
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Fleischer, er sucht sein Rind.
Ob Goethe darüber hätte lachen können, wissen wir nicht. Eines können wir aber mit Sicherheit sagen: Goethes Ballade hat Künstler bis in die heutige Zeit beeinflusst.
Im Gegensatz zur berühmten Ballade ist ein anderes Werk Goethes fast schon so eine Art Geheimtipp. Darin beschäftigt sich der schon etwas in die Jahre gekommene Dichter mit Untreue und Ehebruch. Der Roman heißt „Die Wahlverwandtschaften“.
Zusammenfassung
In der fantastisch anmutenden Ballade „Der Erlkönig“ wird der nächtliche Ritt eines Vaters mit seinem kleinen Sohn durch einen Wald geschildert – der Junge stirbt dabei unter mysteriösen Umständen.
Mit dem „Erlkönig“ verfasste Johann Wolfgang Goethe nicht nur eines der bekanntesten deutschsprachigen Gedichte – er lässt auch das Mythische und Unheimliche in die deutsche Dichtung einziehen. Damit inspirierte er die späteren Romantiker.
Das Werk lebt vom Ungewissen und einer steigenden Spannung. Es wird nicht völlig klar: Redet der Junge im Fieberwahn? Oder ist die Gestalt des Erlkönigs wirklich real?
Goethe schrieb den „Erlkönig“ im Jahr 1782 – in dem Jahr, in welchem er am Hof von Herzog Carl August in Weimar geadelt wurde. Die Ballade wurde unter anderem von Franz Schubert und Carl Loewe vertont.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. C) Ballade
2. B) Der Sohn
3. A) Erste naturmagische Ballade
4. C) Romantik
5. A) Vernunft und Übernatürliches
Der „Erlkönig“ in Goethes gleichnamiger Ballade ist ein Naturgeist. Den Namen verwendete zuerst Johann Gottfried Herder bei der Übersetzung einer dänischen Volksdichtung, in der ein „Ellerkonge“ auftritt. Dieser Begriff bedeutet eigentlich „Elfenkönig“. Ob er durch Falschübersetzung zum „Erlkönig“ wurde oder ob Herder (und nach ihm auch Goethe) bewusst die meist sumpfigen und entsprechend unheimlichen Erlenwälder als Schauplatz ihrer Gedichte betonen wollten, ist in der Literaturwissenschaft umstritten.
In dem Werk geht es um den Widerspruch zwischen dem Übernatürlichen und der Vernunft. Der Knabe sieht die unheimliche Gestalt des Erlkönigs, der Vater versucht ihn mit vernünftigen Argumenten davon zu überzeugen, dass sie nicht existiert. Dort sei nur ein „Nebelstreif” und der Wind, der „in dürren Blättern säuselt”. Am Ende aber verliert er das Kind an die Naturgewalt - oder an die Krankheit, die es umbringt. Woran es letztlich stirbt, lässt die Ballade unbeantwortet.
Ja, sowohl vom Entstehungszeitpunkt her (1782) als auch inhaltlich. Die Epoche des Sturm und Drang war eine literarische Gegenströmung zur vernunftbetonten Aufklärung. Junge Autoren schrieben mit emotionalen Gedichten und Romanen gegen die kühle Nüchternheit der Aufklärung an. Im „Erlkönig“ ließ Goethe zudem noch das Mythische und Unheimliche in die deutsche Dichtung einziehen. Damit inspirierte er die späteren Romantiker.
Die erste Vertonung der Ballade erfolgte bereits 1782: Corona Schröter, eine gefeierte Sängerin und Schauspielerin dieser Zeit. Sie schrieb ihre eigene Gesangsstimme für das Singspiel „Die Fischerin“, in welchem sie die Hauptrolle spielte.
Die Idee kam Goethe möglicherweise durch eine Begebenheit in Jena: Ein Bauer aus dem Dorf Kunitz soll mit seinem schwerkranken Kind zur Jenaer Universität geritten sein, um dort ärztliche Hilfe zu erbitten. Der Arzt aber habe dem Kind nicht helfen können und es soll auf dem Rückweg gestorben sein. 1891 wurde an dem Weg eine Steinskulptur des Erlkönigs aufgestellt, die ein älteres hölzernes Denkmal ersetzte.