Der Titel ist einfach falsch. Und doch wird er dem Gemälde auf ewig erhalten bleiben. Warum Rembrandts Nachtwache gar keine Nachtwache zeigt und wie Rembrandt mit diesem Werk das Gruppenbild als solches revolutionierte, liest du in dieser Story.
Amsterdam im April 1990. Wie jeden Tag strömen die Menschen ins Amsterdamer Rijksmuseum – eine Kathedrale, erbaut für die große Kunst der Niederlande. Sie wollen Die Nachtwache sehen – Rembrandts fabelhaftes Gemälde und eines der bedeutendsten Kunstwerke der Welt.
Einen langen Gang geht es entlang, vorbei an den Werken von Vermeer und Frans Hals. Und dann, am Ende der Ehrengalerie, wie an der Stelle des Hochaltars, offenbart es sich in seiner ganzen Größe: Die Nachtwache. Das Gemälde ist inszeniert wie ein Heiligtum. Die Menschen sammeln sich davor, tuscheln, machen sich gegenseitig auf Details aufmerksam und deuten mit den Fingern. Da löst sich plötzlich ein Mann aus der Menge, in den Händen eine Sprühdose. Gefüllt ist sie mit Schwefelsäure. Sie soll diesen Schatz der Niederlande zerstören. Nur dem beherzten Eingreifen eines Aufsehers ist es zu verdanken, dass dem Gemälde nicht viel passiert. Der geistig verwirrte Mann wird verhaftet.
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Jetzt runterladen!Es war nicht der erste Anschlag auf das Meisterwerk. Im Jahr 1911 war ein junger Mann mit einem Messer auf das Gemälde losgegangen, und 1975 geschah das Gleiche wieder. Dieses Mal war der Schaden so groß, dass Die Nachtwache (niederländisch: De Nachtwacht) vier Jahre lang einer umfassenden Restaurierung unterzogen werden musste.
Der Titel des Ölgemäldes führt übrigens in die Irre. Als Rembrandt van Rijn das Bild schuf, war es nicht einmal üblich, seinen Werken Titel zu geben. Und zu sehen ist gar keine Nachtwache. Dass ein englischer Malerkollege das Bild rund 140 Jahre nach seiner Entstehung irrtümlich The Night Watch nannte, lag schlicht daran, dass die Farben und Firnis-Schichten so nachgedunkelt waren, dass man tatsächlich den Eindruck einer nächtlichen Szene gewinnen konnte.
In Wahrheit zeigt das Ölgemälde, das Rembrandt zwischen 1640 und 1642 schuf, die Bürgerschützenkompanie des zweiten Bezirks von Amsterdam – die Kloveniersgilde. Sie hatte ursprünglich zu den Bürgerwehren Amsterdams gehört, die im späten 16. Jahrhundert gegen die spanischen Unterdrücker kämpften. Mit der neu gewonnenen Unabhängigkeit im Jahr 1609 wandelten sich die Bürgerwehren in sogenannte Geselligkeitsvereine, die nur noch repräsentativen Zwecken dienten. Trotzdem galt es immer noch als große Ehre, einem dieser Verbände anzugehören.
Die stolze Schützengilde wollte nun den Großen Saal - den Festsaal - ihres Hauptquartiers mit Gemälden schmücken, und dazu heuerte sie die bekanntesten Maler Amsterdams an. Rembrandt war der wohl Bedeutendste unter ihnen. Um 1640 war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Als Porträtmaler war er so begehrt, dass er potenzielle Kunden auf eine Warteliste setzte. Auch die 16 obersten Mitglieder der Schützenbruderschaft wollten ihre Porträts auf einem Gemälde verewigt sehen. Und so gaben sie Rembrandt nicht nur den Auftrag, ein großformatiges dekoratives Bild für ihren Prunksaal zu fertigen, sondern in eben diesem auch die prominenten Schützenbrüder zu verewigen. Jeder von ihnen zahlte für sein Porträt – ein gutes Geschäft für den Künstler...
Im Vordergrund des Bildes fällt sofort ein stattlicher, schwarz gekleideter Mann auf. Es handelt sich um den damals 37-jährigen Hauptmann der Schützengilde, Frans Banninck Cocq. Eine leuchtend rote Schärpe aus edlem Stoff liegt um seine Brust. Um seinen Hals schmiegt sich ein steifer, weißer Mühlsteinkragen, auch dieser aus sichtlich kostbarem Material. Den Handschuh seiner linken Hand hält er zusammen mit seinem Offiziersstock in der Rechten. Neben dem Hauptmann steht sein Leutnant Willem van Ruytenburch. Er ist kostümiert, als wolle er zum Ball an den königlichen Hof. Ein bisschen zu viel schimmernde Spitze hier, ein bisschen zu edle Stickerei dort, die hellen Stiefelchen untauglich für einen langen Fußmarsch. Aufmerksam scheint der Offizier den Worten seines Anführers zu lauschen. Wegen dieser beiden prägnanten Hauptfiguren wurde das Gemälde zeitweise auch Die Compagnie von Hauptmann Frans Banning Cocq und Leutnant Willem van Ruytenburgh macht sich zum Abmarsch bereit genannt. Dieser sperrige Titel konnte sich jedoch nicht durchsetzen.
Auf dem Gemälde sind aber nicht nur die 16 zahlenden Auftraggeber Rembrandts zu erkennen, sondern noch weitaus mehr Figuren – 31 sind es insgesamt. Auch der Künstler selbst soll auf dem Gemälde zu sehen sein. Versteckt hinter einem behelmten Mann, lugt er über dessen Schulter. Nur sein Auge ist zu erkennen und ein Stück seiner Malerhaube.
Rembrandt nutzte all diese Statisten, um die Dramatik seiner großen Inszenierung noch zu steigern. Er wollte nicht nur ein bloßes Gruppenbildnis malen, wie es in Holland eine lange Tradition hatte, sondern er wollte eine Geschichte erzählen. Dazu brach er mit den Konventionen des herkömmlichen Gruppenporträts. Auf früheren Gemälden stehen die Porträtierten nämlich brav nebeneinander, wie auf einem Klassenfoto. Rembrandts Figuren aber sind in Bewegung, sie wirken lebendig und aktiv und so erinnert sein Gemälde sogar an ein Historienbild.
Rembrandt bannte ein großes, lautes Theater auf die Leinwand, voller Dynamik und Dramatik. Fast glaubt man, das Stimmengewirr der bewaffneten Männer zu hören. Dazwischen helles Kinderlachen und das aufgeregte Bellen eines Hundes. Es ist ein wilder Haufen, der sich und seine sperrigen Kriegsgeräte erst ordnen muss.
Betont wird der theatralische Effekt des Gemäldes noch durch die prägnante Helldunkelmalerei des Barocks. Chiaroscuro nennt sich dieses Gestaltungsmittel, das einen starken Kontrast zwischen Hell und Dunkel nutzt, um eine besonders dramatische Wirkung zu erzeugen. Und so treten auch Rembrandts Protagonisten aus dem dunklen Schatten hervor und hinein ins Licht. Die Hauptfiguren sind fast festlich beleuchtet. Besonders hell angestrahlt wird ein kleines, blondes Mädchen. Einige Kunsthistoriker vermuten, dass es sich bei dem engelsgleichen Kind um eine Erinnerung an Rembrandts Ehefrau Saskia handelt. Während er an dem Gemälde arbeitete, lag sie im Sterben. Als Die Nachtwache fertig war, war Saskia schon tot.
Tatsächlich spielt das Mädchen eine Schlüsselrolle. An ihrem Gürtel sehen wir ein totes Huhn hängen. Die Männer der Kloveniersgilde wurden auch „Clauweniers“ genannt, was im Holländischen den gleichen Wortstamm hat wie die Krallen des Huhns. Sie sind das Wappenzeichen der Gilde. Somit wird das Mädchen zu einer Art Maskottchen der Büchsengilde.
Die Nachtwache von Rembrandt ist nicht nur sein bekanntestes Werk, sondern auch sein größtes. Als es 1642 in den Großen Saal der Schützengilde kam, maß es noch ungefähr vier mal fünf Meter. Jetzt misst es nur noch 3,63 mal 4,37 Meter. Aber warum?
1715 wurde das Ölgemälde aus dem Hauptquartier der Büchsenschützen in das repräsentative Neue Rathaus gebracht. Um es dort an den vorgesehenen Platz zu hängen, war das Meisterwerk von Rembrandt jedoch zu groß. Kurzerhand schnitt man daher an jeder Seite etwas ab. So verlor der Trommler auf der rechten Seite des Gemäldes seinen Rücken, und an der linken Seite wurden sogar drei Figuren abgeschnitten. Die Abschnitte sind heute nicht mehr erhalten. Wie das Gemälde ursprünglich einmal aussah, zeigt jedoch eine kleine Kopie, die um das Jahr 1653 entstand. Nach dieser Kopie gelang es dem Rijksmuseum Amsterdam im Juni 2021, die fehlenden Teile mithilfe künstlicher Intelligenz nachzubilden. Diese Rekonstruktion entstand im Rahmen der sogenannten “Operation Nachtwache” (engl. “Operation Nightwatch”) - einer umfangreichen und der bis dato größten Untersuchung des barocken Gemäldes.
Um das monumentale Gemälde im Zweiten Weltkrieg vor Beschädigungen und Raub zu schützen, wurde es aus dem Rijksmuseum entfernt und zunächst in die Burg Radboud im niederländischen Medemblik gebracht. Nach ein paar Monaten im dortigen Rittersaal brachte man es dann in einen eigens gebauten Schutzraum in die Nähe von Castricum. Da es wegen seiner Größe nicht durch die Tür passte, wurde es aus dem Rahmen genommen und aufgerollt. Ein knappes Jahr später schaffte man Die Nachtwache schließlich in einen anderen Schutzraum, wo die Odyssee des Gemäldes jedoch noch nicht endete. Einmal noch verlegte man es - in einen Stollen in der Nähe von Maastricht. Nach Kapitulation der deutschen Besatzer kehrte es im Juni 1945 schließlich wieder nach Amsterdam zurück.
Zusammenfassung
Rembrandts berühmtes Gemälde Die Nachtwache ist das Gruppenbild einer Amsterdamer Schützengilde.
Das Gemälde hatte ursprünglich gar keinen Titel. Weil es mit der Zeit so nachgedunkelt war, wurde es fälschlich Die Nachtwache genannt.
Rembrandt schuf mit diesem Werk ein Gemälde, das wie eine Theateraufführung wirkt.
Im 18. Jahrhundert hatte man keine Hemmungen, Teile des riesigen Gemäldes einfach abzuschneiden, damit es besser dorthin passte, wo man es haben wollte.
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Richtige Antworten:
1. B) Die Nachtwache
2. A) Rijksmuseum, Amsterdam
3. C) Barock
4. C) Kloveniersgilde
5. B) Chiaroscuro