Dieser Roman ist ein echter Geheimtipp deutscher Literatur. Johann Wolfgang von Goethe schrieb „Die Wahlverwandtschaften“ im reifen Alter von 60 Jahren – und brachte mit diesem Werk viele Kritiker so richtig auf die Palme. Nach dieser Story weißt du, warum sich Goethe im gesetzten Alter ausgerechnet mit Ehebruch und Untreue beschäftigte …
Eduard ist zufrieden, denn er konnte seine liebe Frau Charlotte endlich überzeugen! Gesträubt hat sie sich – eine ganze Weile schon. Doch nun endlich haben sie gemeinsam eine Entscheidung getroffen. Der Hauptmann Otto – Eduards guter alter Freund – wird bei ihnen einziehen. Er ist schließlich in finanziellen Nöten, und alte Freunde helfen einander schließlich. Charlotte ist damit nun endlich einverstanden. Mehr noch: Auch sie denkt nun über etwas ganz Ähnliches nach. Ihre Nichte Ottilie ist in der Mädchenpension, in der sie lebt und ausgebildet wird, nicht gerade glücklich. Vielleicht wäre sie – als Vierte im Bunde – bei ihnen zuhause besser aufgehoben. Und während Charlotte noch das Für und Wider abwägt, ist Eduard begeistert! Natürlich soll Ottilie zu ihnen kommen! Was soll schon passieren …?
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Jetzt runterladen!Eigentlich ist alles in bester Harmonie und Ordnung. In Johann Wolfgang von Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ führen Eduard und Charlotte, nach dem Tod ihrer jeweiligen früheren Partner in zweiter Ehe verbunden, auf ihrem Landgut eine ganz normale Ehe. Eines Tages aber wird aus dem zurückgezogen lebenden Duo ein Quartett. Denn das Ehepaar nimmt Eduards Freund, den Hauptmann Otto, sowie Charlottes Nichte Ottilie bei sich auf, weil Freund und Nichte in einer Notlage sind – der Hauptmann in einer finanziellen, Ottilie in einer emotionalen. Dann geschieht, was manchmal eben geschieht: Eduard verliebt sich in die junge Ottilie und Charlotte in Hauptmann Otto. Schnell finden sich die vier in einem emotionalen Durcheinander wieder, in ungewollten Verwicklungen und Affären über Kreuz.
Heißt Goethe mit dieser Geschichte etwa den Ehebruch gut? Das warfen ihm zumindest kritische Zeitgenossen vor. Schließlich war Goethe, als „Die Wahlverwandtschaften“ 1809 erschien, ein angesehener Autor und gestandener Mann von 60 Jahren. Wie konnte er da für Ehebruch und Untreue eine Lanze brechen?
Goethe selbst nahm solche Kritik amüsiert zur Kenntnis. Er sagte über seine „Wahlverwandtschaften“, dass darin viel mehr versteckt sei, als man beim einmaligen Lesen erfassen könne. Goethe spielte sich nicht als Moralapostel auf, denn er selbst hatte sich in seinem Leben ja auch immer wieder in Liebschaften verstrickt und ging mit Liebesbeziehungen recht unkonventionell um. 18 Jahre lang hatte er unverheiratet mit seiner Geliebten Christiane Vulpius zusammengelebt, mit der er einen Sohn hatte – für damalige Verhältnisse buchstäblich skandalös. Und nachdem Goethe Christiane 1806 endlich geheiratet hatte, verliebte er sich prompt in die junge Minna Herzlieb. Was für eine Verwirrung! Minna hingegen war nicht interessiert. Aber wen das Herz begehrt, das lässt sich eben nicht steuern und auch nur schwer bekämpfen.
So machte Goethe die Irrungen und Wirrungen der Liebe kurzerhand zum Thema seines Romans. Die Natur des Menschen tritt darin auch gegen seine Kultur an, also gegen die geltenden Regeln und Normen der Gesellschaft, wie das Eheversprechen. Das deutet der Titel des Romans „Die Wahlverwandtschaften“ bereits an. Den Begriff „Wahlverwandtschaft“ kannte der universell begabte Goethe übrigens aus der Chemie. Vereinfacht ausgedrückt besagt er, dass bestimmte chemische Elemente bei Hinzukommen anderer – für sie „anziehenderer” – Stoffe unweigerlich ihre bestehenden Verbindungen lösen und neue Verbindungen eingehen. Entsprechend besteht auch zwischen Goethes Romanfiguren eine gegenseitige Anziehung, der sie sich nicht so einfach widersetzen können.
Goethe übertrug also kurzerhand Erkenntnisse aus der Chemie auf Liebesbeziehungen. Kann man menschliches Verhalten nach chemischen Gesetzen erklären? Mit Elementen, die sich anziehen oder einander abstoßen? Goethe interessierte die Frage: Was ist stärker, die vermeintlich natürlichen Kräfte oder kulturelle Bande wie die Ehe? Wer also gewinnt diesen Kampf – der natürliche Trieb oder der freie Wille? Die Wahl, also die freie Entscheidung für einen Menschen? Oder die Verwandtschaft, also die ganz natürlich wirkenden Kräfte, die Menschen aufeinander ausüben?
Im ersten Teil des Romans gestehen Charlotte und Otto sowie Eduard und Ottilie einander ihre (verbotene) Liebe. Doch während die bodenständige Charlotte nach einer heißen Nacht vom Hauptmann künftige Entsagung verlangt, glaubt Eduard seine Frau mit dem Nebenbuhler verbunden und zieht eine Scheidung in Betracht. Charlotte hingegen will die Ehe retten und schlägt vor, Ottilie fortzuschicken. Eduard zögert und zieht sich vorerst auf ein anderes Gut zurück. Auch Otto verlässt das Landgut, die beiden Frauen bleiben zurück. Alles könnte sich wieder zum Guten wenden – aber da stellt Charlotte fest, dass sie schwanger ist ...
„Du sollst nicht ehebrechen“ – allein die Tatsache, dass so eines der zehn Gebote lautet, zeigt, wie alt dieses Thema ist. Wohl so alt wie Liebe und Menschheit selbst. „Die Wahlverwandtschaften“ ist damit auch einer der ersten von vielen folgenden großen Ehebruch-Romanen, darunter weltbekannte Werke wie „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert oder „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi. Aber sah Goethe in der Untreue und im Ehebruch wirklich eine praktikable Lösung?
Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Denn Goethes Figuren leiden an und unter ihren Gefühlen. Charlotte hofft, dass die Nachricht von ihrer Schwangerschaft Eduard zu ihr zurückführen wird, doch der reagiert bestürzt und flüchtet in den Krieg. Ottilie wiederum sieht all ihre Hoffnungen zerstört und zieht sich verzweifelt in sich selbst zurück. Da hilft auch der Trost eines Besuchers nicht weiter, der einen ähnlichen Fall und dessen glücklichen Ausgang schildert. Diese Erzählung hat Goethe als eigenständige Novelle mit dem Titel „Die wunderlichen Nachbarskinder” in den Roman eingefügt.
Seinen Romanfiguren ist indessen keine gute Lösung beschieden, auch wenn es im zweiten Teil zunächst danach aussieht. Eduard kehrt ruhmbedeckt aus dem Krieg zurück und beauftragt seinen Freund Otto (der inzwischen zum Major befördert wurde), Charlotte um die Scheidung zu bitten. Otto könne mit Charlotte und dem Kind auf dem Landgut leben, er selbst würde mit Ottilie auf Reisen gehen. Ottilie, die sich in den zurückliegenden Monaten liebevoll um Charlottes Baby gekümmert hat, will dieser die Entscheidung überlassen. Da passiert ein schrecklicher Unfall: Der kleine Junge fällt aus einem Kahn, der ein rätselhaftes Eigenleben zu führen scheint, in den See. Er ertrinkt, und Ottilie gibt sich die Schuld am Tod des Kindes. In einer Art Selbstbestrafung will sie nun ihrer Liebe zu Eduard entsagen, stellt aber mit Entsetzen fest, dass sie dazu nicht fähig ist. Die beiderseitige Anziehungskraft ist zu stark, sie ist unüberwindbar. Am Ende sterben sie beide, und die trauernde Charlotte lässt sie zusammen zur letzten Ruhe betten.
Keineswegs feiert Goethe in diesem Roman also ein Fest des Ehebruchs. Den Neigungen nachzugeben oder ihnen zu entsagen – beides hat in dieser Geschichte nämlich seinen Platz und vor allem: seinen Preis. Goethe gelingt der Balanceakt und er lässt sich nicht zu einer Wertung hinreißen – zu vielschichtig ist schließlich die menschliche Gefühlswelt. Das Experiment scheitert, weil die Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts jene Freiheit zu neuen Verbindungen nicht zulässt, die in der Chemie ganz logisch funktionieren. In Goethes „Wahlverwandtschaften“ wird also weniger eine einfache Lösung präsentiert, sondern vielmehr ein Dilemma aufgezeigt. Und zwar eines, dass dem einen oder anderen doch ziemlich bekannt vorkommen könnte.
Vielleicht gilt „Die Wahlverwandtschaften“ vielen Literaturkritikern deshalb als ein besonders genialer Meisterstreich des gestandenen Goethe. Denn der Roman ist komplex, ohne kompliziert zu sein; berührend, ohne kitschig zu wirken, und er sensibilisiert für ein sensibles Thema, ohne den moralischen Zeigefinger zu heben.
Erstmals 1807 hatte sich Goethe mit dem Stoff beschäftigt – zunächst war er als Novelleneinlage für seinen Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre” gedacht. Dafür erwies sich die Geschichte aber zu umfangreich, und so machte Goethe in den folgenden beiden Jahren einen eigenständigen Roman daraus. In dieser Zeit tobten die sogenannten Napoleonischen Kriege zwischen dem nachrevolutionären Frankreich und der Koalition europäischer Länder, die sich gegen Napoleons Expansion zur Wehr setzten. Das Kriegsgeschehen bedrohte auch Goethes Existenz in Weimar. Dass er es ebenfalls in seine „Wahlverwandtschaften“ einbezog, weist diesen als zeitgenössisches Werk des frühen 19. Jahrhunderts aus.
Der Dichter verwendet überdies den Kunstgriff des „allwissenden Erzählers“, der durch die Handlung führt und Einblicke in die Gedankenwelt der Romanfiguren gibt. Das Buch beginnt mit der Zeile „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter …”. Später zitiert dieser Erzähler auch aus Ottiliens Tagebuch, dessen Einträge nur dem ersten Anschein nach zusammenhanglose Gedanken wiedergeben. Denn darunter finden sich überraschend ahnungsvolle Lebensweisheiten, die nicht so recht zu dem eigentlich schlichten Gemüt des jungen Mädchens passen wollen. Zum Beispiel: „Niemand ist mehr Sklave, als der[-jenige, der] sich für frei hält, ohne es zu sein.” Goethe nimmt in diesen Tagebucheinträgen sogar Teile der Handlung vorweg, so auch den Tod Ottilies: Sie hört einfach auf zu essen und stirbt den Hungertod.
Nicht zuletzt markiert der Roman den Übergang zu Goethes Alterswerk. Leben und Werk – sie sind bei Goethe immer wieder eng miteinander verflochten. Und das soll auch in seinen letzten Lebensjahren so bleiben. Seine große Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ sowie eine seiner schönsten Dichtungen, die „Marienbader Elegie“, sind dafür Beweis genug …
Zusammenfassung
In Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ beginnen ein Ehepaar, ein Hauptmann und eine junge Frau über Kreuz Liebesbeziehungen miteinander. Vor mehr als 200 Jahren thematisierte Goethe Untreue und Ehebruch. Das sorgte für Kritik.
Der Roman zählt zum Spätwerk Goethes. Als es erschien, war der Dichter 60 Jahre alt und verheiratet. Er verarbeitet in seinem Werk auch seine Liebe zu einer anderen Frau.
Goethe übertrug das chemische Phänomen der „Wahlverwandtschaft“ auf zwischenmenschliche Beziehungen.
Im Kern geht es in der Geschichte aus heutiger Sicht um den Konflikt zwischen Natur und Kultur: Soll der Mensch seinen Leidenschaften nachgeben oder sich den gesellschaftlichen Normen fügen?
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Richtige Antworten:
1. D) Johann Wolfgang von Goethe
2. C) Neue Liebes-Verbindungen
3. A) Neigung vs. gesellschaftliche Regeln
4. B) Verteidigung von Ehebruch
5. C) Faust I
6. A) 60