Was als harmloser Privatunterricht beginnt, verwandelt sich in Eugène Ionescos Theaterstück „Die Unterrichtsstunde“ schnell in ein beklemmendes Szenario von Machtmissbrauch und Gewalt. Nach dieser Story weiß du, wie es dem französischen Dramatiker gelingt, Sprache als Machtinstrument zu entlarven.
Der Professor betrachtet die weinerliche junge Frau. Wie klein und schwach sie doch ist. Und wie kümmerlich sie sich an ihren Schreibtisch klammert – so verloren, zittrig und blass. Dabei war sie noch zu Beginn des Unterrichts so motiviert und wissbegierig. Es ist doch immer dasselbe mit diesen Privatschülerinnen. Und jetzt ist auch sie nur noch ein wimmerndes Häufchen Elend. Nur weil er ihr gezeigt hat, welche Härte es braucht, um mehr zu wissen als die anderen. Bildung ist doch kein Spaziergang! Er wusste, dass sie nicht durchhalten wird – und jetzt klagt sie auch noch über Zahnschmerzen ... Nein, so ein Verhalten kann er nicht dulden. Besser jetzt und hier – besser bei ihm – als später an der Welt zerbrechen.
Sein Blick gleitet über das Mädchen in dem biederen grauen Kleid mit dem kleinen weißen Kragen. Es beginnt, in seinen Fingern zu kribbeln. Ein gefährliches Kribbeln, das er nur zu gut kennt … Er greift in seine Tasche und tastet umher. Er fühlt das Messer. Er streicht über Griff und Klinge. Ganz zart. Ganz sanft. Das Blut pocht in seinen Ohren. Soll er sie von ihrem Elend erlösen? Jetzt gleich? So wie die anderen vor ihr?
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Jetzt runterladen!Im Theaterstück „Die Unterrichtsstunde“ bahnt sich eine Katastrophe an. Dabei beginnt dieses zweite Drama des rumänisch-französischen Schriftstellers Eugène Ionesco eigentlich ganz harmlos: Eine junge Frau erscheint zum Privatunterricht bei einem Professor. Doch so banal der Auftakt des berühmten Einakters, so grotesk die weitere Handlung. Auf fast surreale Weise gerät die Situation aus den Fugen, wobei sich der Autor vor allem auf das Stilmittel Sprache konzentriert. In dem Dialog zwischen dem alten Professor und der anfangs ebenso fröhlichen wie wissbegierigen Abiturientin werden Machtstrukturen und sprachliche Gewalt bloßgelegt. Worte werden zur gefährlichen Waffe.
Zunächst wirkt der Professor noch ein wenig unsicher, ist jedoch äußerst zuvorkommend; er umgarnt seine Schülerin förmlich mit Nettigkeiten und Ermunterungen. Bald jedoch steigert er sich mehr und mehr in die Rolle des dominanten Lehrers hinein, indem er die Schülerin immer rücksichtsloser, immer brutaler mit Fragen und irrwitzigen Übungen drangsaliert, sie beschimpft und beleidigt. Unter den Augen des herrischen Professors wird die junge Frau zusehends verängstigt und verzweifelt, klagt schließlich weinend über starke Zahnschmerzen. Doch der personifizierten Macht, die da vor ihr wütet, kann sie nichts entgegensetzen. Und je schwächer und verletzlicher die Schülerin wird, desto besessener agiert der Professor. Ihre Hilflosigkeit macht ihn rasend, scheint ihm den Verstand zu rauben. Bis er die Schülerin schließlich ersticht und aufschlitzt.
Erst allmählich scheint der Professor zu begreifen, was er angerichtet hat. Hysterisch schreit er nach Marie, seiner Haushälterin. Die kommt herein und scheint erstaunlich cool. „Das war heute schon das vierzigste Mal“, sagt sie vorwurfsvoll – und gibt dem Professor zwei schallende Ohrfeigen! Aber sie werde sich um alles kümmern und diese Tote ebenfalls beseitigen – so wie die übrigen 39 Opfer auch...
Mit dieser Wendung unterstreicht Ionesco das absurd Perverse des Geschehens auf der Bühne. Der Professor, eben noch ein tobender, von Macht zerfressener Wahnsinniger, ist auf einmal ganz kleinlaut. In Gegenwart der resoluten Marie fällt sein Machtgehabe in sich zusammen, und er sorgt sich, dass ihm jemand auf die Schliche kommen könnte. Aber auch da weiß die Haushälterin Rat und zieht eine Armbinde mit einem Abzeichen aus der Schürzentasche: „Nehmen Sie das“, sagt sie, „da brauchen Sie nichts mehr zu fürchten. So ist es politisch.“ Eine Anspielung auf die politischen Morde in totalitären Regimen wie dem Nationalsozialismus in Deutschland und dem Stalinismus in der Sowjetunion.
Während die beiden die Leiche aus dem Zimmer tragen, klingelt es plötzlich an der Tür. Die nächste Schülerin wartet davor. Ist sie Opfer Nummer 41? Mit dieser Frage und einem verstörenden Gefühl angesichts von so viel banalisiertem Grauen entlässt Eugène Ionesco das Publikum.
Der Autor zeigt in seinen absurden Theaterstücken Menschen, die keine Worte mehr finden für etwas, das sie in ihren Grundfesten erschüttert hat. Hitler, Holocaust, der Zweite Weltkrieg: Es sind diese grausigen Erfahrungen, die ihnen die Banalität des Alltäglichen erst so richtig bewusst werden lassen. Mal verlieren sie wie im Stück „Die kahle Sängerin“ erst die verständliche Sprache und dann sich selbst, mal droht wie in „Die Unterrichtsstunde“ der totale Kontrollverlust. Die überzeichneten Stücke des Absurden Theaters inszenieren so den ohnmächtigen Kampf gegen eine gefühlte Sinnlosigkeit.
In seinem Theaterstück „Die Unterrichtsstunde“, das seit seiner Uraufführung 1951 zu den meistgespielten Werken des Absurden Theaters zählt, führt Eugène Ionesco uns drastisch vor Augen, wie sehr sich die Menschen voneinander entfremdet haben und dass Sprache nicht immer das geeignete Instrument ist, um sich zu verständigen. In dem Dialog zwischen dem Professor und seiner Schülerin entfaltet sich die gefährliche Dynamik von Macht und Ohnmacht, von Befehl und Gehorsam, die den Zuschauer wie ein Sog erfasst.
Gleichzeitig übt Ionesco mit seinem Einakter, den er selbst als „komisches Drama“ bezeichnet hat, satirische Kulturkritik an der Bildung. Wer entscheidet eigentlich, was Bildung ist? Und sind gebildete Menschen automatisch mächtiger als ungebildete? Genauso wirft „Die Unterrichtsstunde“ aber auch einen bitterbösen Blick auf den Kampf zwischen den Geschlechtern. Wir sehen einen Mann, der seine Stellung ausnutzt, um eine Frau zu unterdrücken und schließlich gewaltsam zum Schweigen zu bringen. Der Mord durch Erstechen kann somit ebenso als sexueller Gewaltakt, als imaginäre Vergewaltigung verstanden werden.
Eugène Ionesco kam 1909 in Slatina im damaligen Königreich Rumänien, unter dem Namen Eugen Ionescu zur Welt. Als er vier war, zogen seine Eltern mit ihm nach Paris, wo sein Vater als Jurist promovieren wollte. Nach dem Eintritt Rumäniens in den Ersten Weltkrieg ließen die Eltern sich scheiden; Eugen blieb mit seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester in Paris. Später lebten sie auf einem Bauernhof. Nach Kriegsende gingen die Geschwister zum Vater und dessen neuer Frau nach Bukarest, konnten bei ihnen jedoch nicht Fuß fassen. 1926 zerstritt sich der mittlerweile 16-jährige Eugen endgültig mit dem Vater, der für das literarische Talent seines Sohns nur Hohn und Verachtung übrig hatte. Er begann ein Französisch-Studium an der Universität Bukarest, wo er seine spätere Frau Rodica Burileanu kennenlernte. 1936 heirateten sie. In den folgenden Jahren wechselten sie mehrmals zwischen Rumänien und Frankreich, lebten vorübergehend in Marseille, um sich schließlich ab 1942 dauerhaft in Paris niederzulassen. Dort wurde auch ihre Tochter Marie-France geboren.
Eugène Ionesco war Mitte dreißig, als die zersetzenden Folgen des Zweiten Weltkrieges nach und nach zutage traten und Künstler wie er nach Wegen suchten, sich dem Erlebten zu stellen. Sein Weg war das Absurde Theater. Denn, so sagte Ionesco einmal, „wer sich an das Absurde gewöhnt hat, findet sich in unserer Zeit gut zurecht.“
Schon vor seiner Karriere als Dramatiker hatte er unermüdlich geschrieben: Artikel für rumänische Zeitschriften, Gedichte, Essays, Romane. Sein gewaltiges Werk umfasst neben seinen 27 Dramen zahlreiche Schriften und Bücher, darunter die boshaft-spitzfindige „Hugoliade“ (deutsch: „Das groteske und tragische Leben des Victor Hugo“), die theaterkritischen „Notes et Contre-notes“ (Argumente und Gegenargumente), die Erzählung „Rhinoceros“ („Die Nashörner“, 1957/1958 als Bühnenstück), den Roman „Le Solitaire“ („Der Einzelgänger“) oder das Kinderbuch „Contes 1 - 2 - 3 - 4 pour enfants des moins de 3 ans“.
1970 wurde er in die Académie française aufgenommen, eine der ältesten und angesehensten sprachwissenschaftlichen Institutionen Frankreichs. Zudem war er einer von bisher nur 18 Autor*innen, deren Werke zu Lebzeiten in der „Bibliothèque de la Pléiade“ erschienen – einer renommierten Werksausgaben-Sammlung von Klassikern der Weltliteratur.
Nicht ganz so brutal wie Eugène Ionesco in seinem Stück „Die Unterrichtsstunde“, aber ebenso tiefsinnig ging ein anderer berühmter Vertreter des Absurden Theaters vor: der irische Schriftsteller Samuel Beckett. Auch er griff die Stimmung der Nachkriegszeit auf, genauer die emotionale Verunsicherung der Menschen. Eine besondere Rolle spielt dabei das Warten auf einen gewissen Godot.
Zusammenfassung
„Die Unterrichtsstunde“ (Originaltitel: „La Leçon“, Erstaufführung 1951 im Pariser Théatre de Poche Montparnasse) ist ein bedeutendes Werk des Absurden Theaters.
In dem Drama schildert der rumänisch-französische Dramatiker Eugène Ionesco (Eugen Ionescu) die tödliche Eskalation einer Privatstunde.
Das Werk hat eine beklemmende und nahezu surreale Wirkung. Ionesco inszeniert Sprache als Macht: Der Professor benutzt seine Worte systematisch, um die Schülerin zu unterwerfen.
Wie so viele Künstler nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges so kritisiert auch Ionesco die Mechanismen von Macht, Kontrolle, Gewalt und Autorität.
Das Théâtre de la Huchette in Paris hat „Die Unterrichtsstunde“ zusammen mit „Die kahle Sängerin“ („La Cantatrice chauve“) seit 1957 ohne Unterbrechung auf dem Spielplan. Inzwischen konnte es die 19.000. Aufführung feiern und steht damit im Guinnes Buch der Rekorde.
Weitere Werke Ionescos sind: „Les Salutations“, „Die Stühle“ („Les Chaises“), „Opfer der Pflicht“ („Victimes du Devoir“), „Der neue Mieter“ („Le Noveau Locataire“), „Amédée oder Wie soll man ihn loswerden“ („Amédée ou Comment s’en débarrasser“), „Impromptu oder der Hirt und sein Chamäleon“ („L'Impromptu de l'Alma ou Le caméléon du berger“), „Die Nashörner“ („Rhinocéros“), „Fußgänger der Luft“ („Le Piéton de l'air“) sowie „Der König stirbt“ („Le Roi se meurt“), „Das große Massakerspiel“ („Jeux de massacre“), „Macbett“ sowie „Der Mann mit den Koffern“ („L’Homme aux Valises“) und „Welch gigantischer Schwindel“ („Ce formidable bordel“).
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Richtige Antworten:
1. D) …ein Werk des Absurden Theaters
2. C) Eine Privatstunde eskaliert zum Mord
3. A) Die Mechanismen von Macht, Autorität, Kontrolle und Gewalt
4. B) Mit der Sprache
5. D) Die überzeichnete Darstellung
6. C) In Paris
Ionesco war ein rumänisch-französischer Schriftsteller und einer der bedeutendsten Vertreter des Absurden Theaters, das sich um 1950 in Frankreich entwickelte. Sein Bühnenstück „Die kahle Sängerin“ gilt als Gründungsdokument dieser Kunstrichtung. Ionesco war von 1970 bis zu seinem Tod 1994 Mitglied der renommierten Académie française, die sich der „Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache“ verschrieben hat. Er hinterließ ein gewaltiges Werk mit 27 Dramen sowie zahlreichen Schriften und Büchern.
Wesentliche Merkmale des Absurden Theaters sind unlogische, überzeichnete Szenarien, übertrieben banale Dialoge sowie die Orientierungslosigkeit und Ignoranz seiner Figuren. Typisch sind wiederholte Handlungsabschnitte, flache Charaktere und abrupt abgebrochene Spannungsbögen. Die Stücke haben keinen konkreten zeitlichen oder örtlichen Bezug, im Vordergrund steht der gesellschaftskritische Aspekt.
Eine junge Frau erscheint zum Privatunterricht bei einem Professor. Der tritt zunächst leise und höflich auf, wird aber im weiteren Verlauf immer herrischer, höhnischer und aggressiver. Die Schülerin wird im Gegenzug immer kleinlauter und verwirrter. Zum Schluss wird sie vom Professor ermordet. Nach der Tat fällt er buchstäblich in sich zusammen und ruft verzweifelt nach seiner Hauswirtschafterin Marie. Die ohrfeigt ihn und verspricht ihm dann, die Tote unauffällig bestatten zu lassen – so wie die anderen 39 Schülerinnen, die der Professor ermordet hat. Sie bindet ihm eine Armbinde mit einem Abzeichen um und sagt: „Nehmen Sie das, [...]. So ist es politisch.“
In „Die Unterrichtsstunde“ werden die Mechanismen von Macht, Autorität, Kontrolle und Gewalt kritisiert. Eugène Ionesco inszeniert Sprache als Waffe, so wie sie auch in totalitären Regimen als Waffe eingesetzt wird. Nachdem Worte nicht mehr zur Verständigung taugen, wird die Katastrophe unabwendbar: im Stück ist es die Ermordung der Schülerin. Die Armbinde, die die Hauswirtschafterin dem Mörder zur äußerlichen Rechtfertigung der Tat umlegt, betont den gesellschaftskritischen Hintergrund des Dramas.
In dem Drama wird die dargestellte Situation überzeichnet, sodass eine fast surrealistische, beklemmende Wirkung entsteht. Das Absurde, Irrationale siegt über Vernunft und Erkenntnis.
„Wer sich an das Absurde gewöhnt hat, findet sich in unserer Zeit gut zurecht.“ Eine weitere häufig zitierte Aussage von ihm ist: „Die Zukunft ist unser Hemd, aber die Gegenwart ist unsere Haut.“