Rund ein Jahrzehnt nach der Orangen Revolution folgte die „Revolution der Würde“, auch genannt: „Euromaidan“. Sie war eine der größten zivilen Proteste in der Geschichte Ost-Europas In dieser Story erfährst du, warum Protestierende neben Ukraine-Fahnen auch die EU-Fahne schwenkten – und warum die Situation eskalierte.
Dunkle, dicke Rauchschwaden ziehen über den Majdan Nesaleschnosti, einen der schönsten Plätze Kiews, der nun zum Schlachtfeld geworden ist. Geduckt rennen vermummte Männer über die Straße, wohl Spezialeinheiten der Regierung. Im schwarzen Schutt lodern an manchen Stellen kleine Feuer, immer wieder fallen Schüsse. Auf der einen Seite des Platzes sammelt sich eine Gruppe mit Schutzschilden und Helmen, inmitten zerfetzter Zelte. Einer wirft einen Molotow-Cocktail; das brennende Geschoss setzt ein Stück Rasen in Brand. Ein Mann auf der anderen Seite des Platzes legt an, schießt. Der Majdan versinkt in Gewalt und Chaos.
Wie aber konnte es so weit kommen?
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Jetzt runterladen!Neun Jahre war die Orange Revolution mit ihrem Sieg der pro-westlichen Opposition her, da versammelten sich im Herbst 2013 wieder Menschen auf dem Majdan. Empört über die Politik eines Mannes, der schon einmal Entrüstung hervorgerufen hatte: Wiktor Janukowytsch. Der prorussische Politiker hatte es 2010 geschafft, noch einmal zum Präsidenten der Ukraine gewählt zu werden, diesmal in einer korrekt durchgeführten Wahl. Denn viele Ukrainer waren von der Politik nach der Orangen Revolution enttäuscht. Die Helden von damals, Präsident Wiktor Juschtschenko und seine Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, hatten sich lautstark zerstritten und wichtige Wirtschaftsreformen nicht umgesetzt. Janukowitsch konnte von der Ernüchterung und dem Wunsch nach Stabilität profitieren. Er verlieh seiner Politik zunächst sogar pro-westliche Züge. Doch die Korruption erreichte einen neuen Höhepunkt und er fand einen Dreh, um dem Parlament Befugnisse zu entziehen und seine eigene Macht zu vergrößern. 2013 schließlich ließ er einen wichtigen Vertrag mit der Europäischen Union platzen. Es sollte die Zusammenarbeit in Wirtschaft und Handel intensivieren und die Ukraine auch politisch näher an die EU heranführen. Quasi in letzter Sekunde legte Janukowytsch dieses Assoziierungsabkommen auf Eis – wohl auf russischen Druck hin. Denn Moskau wollte die Ukraine in eine Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan zwingen.
Den Ukrainern platzte der Kragen. Nicht nur, dass es weiterhin Korruption und Reformstau gab und die Politik eng an Russland orientiert war. Jetzt scheiterte auch noch ein Abkommen, von dem sich viele einen wirtschaftlichen Aufschwung erhofft hatten. Aus Protest versammelten sich Tausende auf dem Maidan. Dieser Aufstand wurde zur größten Protestbewegung der Zivilgesellschaft in Europa seit 1989. Die Farbe der Revolution war statt Orange nun Blau-Gelb. Das waren die Farben der Nationalfahne, die an den ukrainischen Himmel über einem reifen Weizenfeld erinnert. Und es waren die Farben der EU-Flagge – mit ihren gelben Sternen auf blauem Grund. Der Protest war pro-europäisch und deshalb wurde die Revolution auch „Euromaidan” genannt.
„Wir treffen uns um 22.30 Uhr am Unabhängigkeitsdenkmal. Zieht euch warm an, bringt Regenschirme mit, Tee, Kaffee, gute Laune und Freunde!“ Das schrieb ein Journalist im November 2013 auf Facebook. Immer mehr Menschen aus dem ganzen Land schlossen sich den Protesten in der Hauptstadt Kyiv (Kiew) an, aber auch in anderen Städten. Die Bewegung war bunt gemischt – vom Studenten über die Businessfrau bis hin zum Rentner. Wohl auch wegen dieser bunten Mischung fehlte es dem Euromaidan oft an einer klaren Strategie und eindeutigen Zielen: Man forderte Janukowytschs Rücktritt, aber auch eine engere Bindung an die EU und die NATO sowie einen Systemwechsel. Wie der genau aussehen sollte, darüber gingen die Meinungen auseinander. Bei der Orangen Revolution 2004 hatten Politiker wie Juschtschenko an der Spitze gestanden – vergleichbare Anführer gab es beim Euromaidan nicht. Diese Revolution hatte viele Gesichter. Es gab landesweite Aufrufe, Produkte und Firmen moskautreuer Oligarchen zu boykottieren. Taxifahrer und andere Freiwillige fuhren Patrouille in der Stadt, um das Zeltlager auf dem Majdan zu sichern. Und: Das Internet spielte jetzt eine besondere Rolle, um die Proteste zu organisieren und Anhänger zu mobilisieren.
Lange blieb es friedlich. Unter den Demonstranten waren aber auch gewaltbereite Radikale. Manche vertraten einen ultra-rechten Nationalismus. Für die Janukowytsch-Regierung und für Moskau ein willkommener Vorwand, um die Bewegung zu diskreditieren und den Einsatz von Waffen zu rechtfertigen. Der Maidan? Ein vom Westen und den USA finanzierter Putsch. Die Demonstranten? Alles Faschisten! So lautete die Propaganda aus Russland. Doch der Euromaidan war keine extremistische Bewegung, sondern ein Massenprotest aus der Mitte der Gesellschaft, wenngleich sich vereinzelt auch Rechtsextreme unter die Demonstrierenden mischten.
Die prorussische Regierung der Ukraine tat alles, um die Kritiker mundtot zu machen. Sicherheitskräfte sollten den Majdan räumen. Studierende und Journalisten wurden geschlagen. Neue Gesetze schränkten die Meinungs- und Versammlungsfreiheit stark ein. Protestierende bekamen Drohnachrichten aufs Handy, dass sie wegen der Teilnahme ins Gefängnis kommen könnten. Doch all diese Drohungen führten dazu, dass die Menschen nur umso entschlossener demonstrierten: Es ging jetzt nicht mehr nur um das Abkommen mit der EU, sondern um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Am 19. Januar 2014 kam es zu schweren Ausschreitungen in Kyiv. Daraufhin schob Bürgermeister Vitali Klitschko mithilfe internationaler Vermittler Gespräche zwischen Vertretern der Regierung und der Opposition an. Am 21. Februar wurde ein Kompromiss unterzeichnet, bei dem sich Janukowytsch mit vorgezogenen Präsidentschaftswahlen einverstanden erklärte. Den Demonstranten war das aber nicht genug: Sie forderten seinen Rücktritt, und zwar sofort. Einen Tag später eskalierte die Situation. Spezialeinheiten schossen mit scharfer Munition auf die Menschen. Das erste Opfer war Serhiy Nigojan, ein 21-jähriger Ukrainer mit armenischen Wurzeln. Mit ihm starben an diesem Tag mehr als 100 Demonstranten und auch einige Polizisten. Einige Teilnehmer lieferten sich Straßenschlachten mit den Spezialkräften, warfen Molotow-Cocktails und bauten Barrikaden. Durch Helme und Gasmasken versuchten sie sich zu schützen. Ins Krankenhaus zu gehen, war gefährlich. Ein 50-jähriger Maidan-Aktivist zum Beispiel ließ in einer Klinik sein verletztes Auge behandeln, er wurde entführt und stundenlang gefoltert, schließlich starb er. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kritisierte die brutale Polizeigewalt und die willkürlichen Festnahmen.
Auch Janukowitschs eigene Leute stärkten ihm nicht mehr den Rücken. Und so floh er nach Russland. Das Parlament enthob ihn schließlich des Amtes. Seine Villa und ein luxuriöses Anwesen mit Hubschrauberlandeplatz, Tennisanlage und Autosammlung wurde der Bevölkerung zugänglich gemacht.
Währenddessen trauerte das Land um die mehr als 100 Getöteten. Unter dem Namen „Himmlische Hundertschaft“ sind sie in der Ukraine zum nationalen Mythos geworden. Den Namen des ersten Getöteten, Serhiy Nigojan, trägt jetzt eine Straße in der Stadt Berezhany in der Westukraine.
Am 21. März unterschrieb eine neue Übergangsregierung schließlich das EU-Assoziierungsabkommen. Nach der Orangen Revolution hatten es die Ukrainer also erneut geschafft, ihr Land durch Massenproteste zu verändern. Moskau aber nutzte das Machtvakuum in der Ukraine für einen verheerenden Übergriff in der Ostukraine: die Annexion der Krim.
Zusammenfassung
Der Euromaidan war eine pro-europäische Protestbewegung in der Ukraine in den Jahren 2013 und 2014. Ausgelöst wurde sie, weil der prorussische Präsident das Assoziierungsabkommen mit der EU auf Eis legte.
Die ukrainische Regierung und Russlands Präsident Putin diskreditierten die Maidan-Proteste als „von Faschisten gesteuert”. Das war sie nicht. Der Protest kam aus der Mitte der Gesellschaft – auch wenn es rechte Nationalisten unter den Protestierenden gab.
Spezialkräfte gingen brutal gegen die Euromaidan-Proteste vor. Mehr als 100 Menschen starben.
Die pro-europäische Maidan-Bewegung war erfolgreich. Der pro-russische Präsident Wiktor Janukowitsch floh nach Russland.
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Richtige Antworten:
1. C) Eine Protestbewegung
2. A) Stopp des Assoziierungsabkommens
3. B) Kyiv
4. C) Teilnahme an einer Zollunion
5. D) Nach Russland