In Frankreich entstanden, beeinflusste das Absurde Theater der Fünfzigerjahre auch Dramatiker über die Landesgrenzen hinaus. Einer von ihnen war der damals noch unbekannte Brite Harold Pinter. Nach dieser Story weißt du, weshalb sein Stück „Der Hausmeister“, das ihm 1960 zum Durchbruch verhalf, ein exotisches Exemplar des Absurden Theaters ist.
Ächzend lässt sich Davies auf einen Stuhl plumpsen und schaut sich um. Was für ein Durcheinander. Rostiges Werkzeug, olle Farbtöpfe und Holzbretter neben allerlei Küchengeräten, zig Kartons, ramponierten Möbeln und stapelweise Papier. Eine einzige Rumpelkammer. Davies pfeift durch die Zähne. Aber immerhin mit festem Dach. Das hat er schon viel zu lange nicht über dem Kopf gehabt.
Ja, er ist diesem Mann dankbar, der ihn eben aus einer Rauferei befreit, sich als Aston vorgestellt und ihm einen Schlafplatz angeboten hat. Er will auch gar nicht lange bleiben, bloß nicht zur Last fallen, sich nur kurz ausruhen. Jeden Moment würde er weiterziehen. Obwohl, nun ja. Es gibt ein kleines Problem. Eigentlich wäre er ja schon längst wieder weg, aber so ganz ohne vernünftige Schuhe? Davies blickt auf seine zerschlissenen Sandalen. „Schuhe sind für mich eine Frage von Leben und Tod.“
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Jetzt runterladen!Das Stück „The Caretaker“ von Harold Pinter wurde 1960 in London uraufgeführt. Die deutsche Übersetzung des Titels, „Der Hausmeister“, trifft nicht ganz den Kern dessen, was der Autor in seinem Stück darstellte, denn „Caretaker“ lässt sich ebenso und womöglich treffender mit „Betreuer“ oder „häuslicher Helfer“ übersetzen – eine Person also, die sich nicht nur ums Haus, sondern auch um darin lebende Menschen kümmert. Eine Aufgabe, die der alte Landstreicher gegenüber Aston übernehmen soll – und bei der er gründlich versagt. Weil er nämlich ganz andere Pläne hat.
„Schuhe sind für mich eine Frage von Leben und Tod“: In diesen Satz des Landstreichers Davies hat Harold Pinter die Essenz des Absurden Theaters gepackt. Auch in Pinters „Hausmeister“ geht es vor simpler Kulisse um existenzielle Themen wie die innere Heimatlosigkeit des Menschen und die erfolglose Suche nach dem Sinn des Lebens. Mit Aston und Davies begegnen sich zwei suchende Menschen: Der selbstlose Aston sucht einen Weg aus der quälenden Einsamkeit, der Hallodri Davies nach einem Daseinszweck. Jetzt sind sie hier in Astons schäbiger Kammer und reden, ohne sich wirklich etwas zu sagen zu haben. Vertrauensvolle Nähe will dabei ebenso wenig entstehen wie eine lohnende Perspektive. In einem düsteren Zimmer voller Gerümpel prallen die großen Fragen des menschlichen Daseins auf so etwas scheinbar Banales wie Schuhe. Scheinbar banal deshalb, weil es eben diese schlechten Schuhe sind, die hier den Stillstand des Lebens versinnbildlichen: Ohne vernünftiges Schuhwerk kommt Davies nicht von der Stelle.
Der alte Vagabund erkennt rasch, wie gutmütig der schweigsame und psychisch labile Aston ist, und dringt regelrecht in dessen Leben ein. Aber da hat er die Rechnung ohne Astons jüngeren Bruder Mick gemacht. Der gibt dem Herumtreiber klipp und klar zu verstehen, wer hier das Sagen hat. Es sei schließlich seine Wohnung und Aston nur sein Mieter. Der weltgewandte Mick fühlt Davies auf den Zahn und spielt seine Überlegenheit in allerlei Psycho-Spielchen aus. Immerhin erlaubt er ihm, vorerst zu bleiben – wenn er Aston im Haus unter die Arme greift. Zusammen sollen sie das verlotterte Zimmer auf Vordermann bringen.
Doch daraus wird nichts. Aston, der unter den Folgen einer Elektroschockbehandlung leidet, schafft es weder, die kaputten Möbel und Geräte zu reparieren, noch, den Gartenschuppen zu bauen, von dem er immer wieder redet. Und Davies entwickelt sich allmählich zum Tyrannen. Von den Schuhen, die die Brüder ihm anbieten, will er nichts wissen. Er lungert und mäkelt nur herum, verbreitet miese Stimmung und versucht, die Brüder gegeneinander auszuspielen. Er spekuliert darauf, Aston rauszuekeln, um selbst in dessen Zimmer wohnen zu können. Aber Mick hat längst erkannt, welche Gefahr Davies für seinen vertrauensseligen Bruder darstellt. Also wird er ihn kurzerhand vor die Tür setzen. Panisch versucht Davies ein letztes Mal, sich erst bei Mick, dann bei Aston einzuschmeicheln. Aber Micks Beschützerinstinkt gewinnt die Oberhand, und Astons Urteil ist sein Schweigen. Davies muss zurück auf die Straße. Verzweifelt stottert er: „Was soll ich machen? Wo soll ich hin?“
Der Einfluss von Samuel Becketts absurdem Drama „Warten auf Godot“ ist in Pinters Werk deutlich zu erkennen. „Der Hausmeister“ steht in der Tradition des Absurden Theaters, denn seine Figuren, von denen wir nur Bruchstückhaftes erfahren, ringen vergeblich um existenzielle Fragen und verharren in einem perspektivlosen Dasein. Andererseits trägt dieses Stück sehr viel realistischere Züge als die typischen Dramen des Absurden Theaters; manch einer verstand es sogar als sozialpolitisches Stück.
Pinter selbst hat keine Interpretationshilfen gegeben. Im Gegenteil. Ihm gefiel die Vieldeutigkeit seines Werkes, weil es die Vieldeutigkeit des Lebens widerspiegelt. Er zeigt lediglich drei Menschen vor dem Hintergrund bedrückender Verhältnisse, die nicht in der Lage sind, ihre Pläne in die Tat umzusetzen, geschweige denn ihre Träume zu verwirklichen. Ihre jeweiligen Leben sind wie Astons Zimmer eine chaotische Baustelle, die sie einfach nicht in den Griff kriegen. Weder allein noch gemeinsam. Dafür herrschen untereinander zu viel Misstrauen und Egoismus. Was zurück bleibt, ist der armselige verwirrte und verlorene Mensch, den es genauso vor der unsicheren Zukunft graust wie den Obdachlosen Davies: „Was soll ich machen? Wo soll ich hin?“
Sein Schöpfer Harold Pinter, der es sich übrigens nicht nehmen ließ, bei der Erstaufführung die Rolle des Mick zu spielen, gestand einmal: „Kommunikation ist zu verstörend. Sich in das Leben eines Anderen einzumischen zu beängstigend. Anderen die eigene Armseligkeit in uns zu offenbaren ist eine zu erschreckende Aussicht.“
Harold Pinter wurde 1930 als Sohn eines jüdischen Schneiders in Hackney im Londoner East End geboren. Früh literarisch interessiert, begann er ein Studium an der Royal Academy of Dramatic Art, schloss es aber nicht ab. Vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs verweigerte er den Militärdienst, wofür er zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Jobs als Schauspieler und Sprecher für die englische BBC folgten. Mit 20 veröffentlichte er seine ersten Gedichte und begann bald, auch Dramen zu schreiben. Ab Mitte der 1950er-Jahre erarbeitete er sich mit Stücken wie „The Room“ („Das Zimmer“, 1957), „The Birthday Party“ („Die Geburtstagsfeier“, 1958), „The Hothouse“ („Das Treibhaus“, 1958) oder „The Dumb Waiter“ („Der stumme Diener“, 1959) erste Erfolge. Er schrieb auch Drehbücher aus eigenen Stücken wie etwa „The Servant“ oder „The Trial“. Als begeisterter Schauspieler spielte er bei etlichen Produktionen mit und brachte als Theaterregisseur Werke prominenter Kollegen auf die Bühnen. Später folgten Stücke wie „No Man’s Land“ („Niemandsland“, 1975) und „Betrayal“ („Betrogen“, 1978), die von der Kritik als „Erinnerungsstücke“ bezeichnet wurden.
1977 verließ er seine erste Frau Vivien Merchant, um mit der Autorin Lady Antonia Fraser, der ältesten Tochter des 7. Earl of Longford, zusammenzuziehen. 1980 heirateten sie. In den folgenden Jahren begann Pinter, sich verstärkt politisch zu engagieren. Er setzte sich für die Friedens- und die Anti-Apartheid-Bewegung ein, protestierte gegen Pressezensur und die Todesstrafe, unterstützte die Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ und engagierte sich in den Reihen der internationalen Autorenvereinigung PEN für politisch verfolgte Autoren in Israel, dem Iran und der Türkei.
Harold Pinter schrieb in drei Jahrzehnten 29 Bühnenstücke, 15 dramatische Skizzen und 24 Drehbücher. Für sein Lebenswerk erhielt er mehr als 50 Auszeichnungen, darunter 2005 den Nobelpreis für Literatur und 2007 den Orden der Französischen Ehrenlegion. Festivals und Symposien widmeten sich ihm und seinem Werk. Bei der Verleihung des Nobelpreises stellte die Schwedische Akademie fest: „Dass er eine Position als moderner Klassiker einnimmt, wird dadurch verdeutlicht, dass sein Name als Adjektiv in die Sprache eingegangen ist, um eine bestimmte Atmosphäre in seinen Dramen zu beschreiben: ,pinteresk’“. Als „pinteresk“ gelten seine sparsamen Dialoge mit zahlreichen Pausen, die als „Pinter-Pausen“ berühmt wurden. Das Ganze verstärkt er durch meist ungemütliche Szenenbilder, die beim Zuschauer ein unbestimmtes Gefühl des Unbehagens und zunehmender Bedrohung erzeugen. Britische Medien nannten Pinter den „Meister des Ungesagten“.
Sein letztes Bühnenstück war die Gesellschaftssatire „Celebration“ aus dem Jahr 2000, das er im Sommer des Folgejahrs noch einmal als Regisseur auf dem Lincoln Center Festival zu einem Doppelspiel mit seinem ersten Stück „The Room“ kombinierte. In den folgenden Jahren widmete er sich verstärkt seinen politischen Aktivitäten, schrieb Reden, politische Gedichte und Essays. Er protestierte unter anderem gegen die NATO-Militärschläge gegen Serbien und gegen die amerikanische Invasion des Irak. In dieser Zeit entstanden seine Gedichtsammlung „War“ und Stücke wie „The New World Order“ (Die neue Weltordnung) mit unterschwelliger, aber erkennbarer Kritik an der vereinnahmenden Weltpolitik der USA.
Indessen: So verklausuliert seine künstlerische Sprache auch war, so klare Worte fand Pinter in seinen politischen Reden. In seiner Vorlesung „Kunst, Wahrheit und Politik“, die er 2005 anlässlich der Nobelpreisverleihung an ihn hielt, griff er den amerikanischen Präsidenten George W. Bush und ebenso den britischen Premierminister Tony Blair direkt und scharf an: Der Irakkrieg 2003/4 sei „ein Banditenakt“ gewesen, „ausgelöst durch einen ganzen Berg von Lügen und die üble Manipulation der Medien und somit der Öffentlichkeit; ein Akt zur Konsolidierung der militärischen und ökonomischen Kontrolle Amerikas im mittleren Osten unter der Maske der Befreiung [...]“, sagte er in seiner Nobelprize-Vorlesung. Und das Gefangenenlager Guantanamo sei „eine kriminelle Ungeheuerlichkeit, begangen durch ein Land, das sich selbst zum ,Anführer der freien Welt’ erklärt.“
Unter den bekannten Autoren des Absurden Theaters ist Harold Pinter der wohl politischste. Bis zuletzt blieb er aber auch ein begeisterter Regisseur und Schauspieler. Noch 2006, bereits schwer an Krebs erkrankt, spielte der 76-Jährige in Samuel Becketts Einakter „Krapp’s last Tape“ („Das letzte Band“) einen im Rollstuhl sitzenden Greis, der sich alte Tonbänder anhört und vergangenen Zeiten nachhängt. Am Weihnachtsabend 2008 starb er.
Zusammenfassung
Harold Pinters Theaterstück „Der Hausmeister“ (Originaltitel: „The Caretaker“) handelt von einem Landstreicher, der seine Chance wittert, und zwei Brüdern, die ihm zeitweise Obdach gewähren. Alle drei fantasieren von einer besseren Zukunft, ohne sie je zu erreichen.
Das Drama thematisiert innere Heimatlosigkeit, Einsamkeit und die Frage nach dem Sinn des Lebens, liefert allerdings keine Antworten, was typisch für Dramen des Absurden Theaters ist.
„Der Hausmeister“ berührt existenzielle Themen des menschlichen Daseins ebenso wie soziale und psychologische Aspekte des Miteinanders in einer realistisch anmutenden Szenerie. Damit greift Pinters Drama bereits über das Absurde Theater hinaus.
Weitere bedeutende Werke Pinters sind: „The Dwarfs“ („Die Zwerge“, 1960), „The Lover“ („Der Liebhaber“, 1962), „The Homecoming“ („Die Heimkehr“, 1965), „Old Times“ („Alte Zeiten“, 1970), „One for the Road“ (1984), „Mountain Language“ (1988), „Party-Time“ (1991), „Moonlight“ (1993).
Weiterführende Literatur: Martin Esslin, „Harold Pinter“ (dtv München); Michael Billington, „The Life and Work of Harold Pinter“ (Faber and Faber London).
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. A) Autor des Absurden Theaters
2. C) 1960
3. B) Um einen Landstreicher
4. D) Nobelpreis für Literatur
5. A) Die Frage nach dem Sinn des Lebens