Darf ein Stück wirklich so heißen? Diese Frage wird jedes Mal diskutiert, wenn Jean Genets Drama, „Die Neger“, aufgeführt werden soll. Das Wort wird heute aus guten Gründen nicht mehr verwendet, weil es abwertend gemeint und schlicht rassistisch ist. In dieser Story erfährst du, was der rebellische Autor mit dem drastischen Titel bezweckt hat und warum er ausgerechnet einen rassistischen Begriff für ein antirassistisches Stück gebraucht.
Eine wehrlose weiße Frau. Nackt liegt sie da, umgeben von lauter Schwarzen Männern, die nun mit einem grausigen Ritual beginnen. Hoch über ihnen auf der Tribüne thront der weiße Hofstaat, der im nächsten Augenblick Zeuge eines Mordes werden wird: die Königin und ihre Untertanen, darunter der Gouverneur, der Richter und ein Missionar. Sie alle schauen hinab auf die Gruppe Schwarzer, die soeben eine weiße Frau ermorden. Entsetzt oder auch nur überrascht scheint keiner der weißen Höflinge zu sein. Sie kommentieren das Geschehen sogar ausgiebig. So sind sie eben, die da unten – triebgesteuert wie die wilden Tiere. Trotzdem: Sie werden sich für ihre Tat verantworten müssen.
Die erste App, die dich wirklich schlauer macht.
Jetzt runterladen!Was ist das für eine bitterböse Szene, die uns der französische Schriftsteller und Dramatiker Jean Genet da vorsetzt? Rücksichtslos, fast gewaltsam konfrontiert er uns mit diesem Zerrbild rassistischer Klischees und Vorurteile.
Und das ganz bewusst. Denn Genets viel diskutiertes Werk aus dem Jahr 1958 ist ein anti-rassistisches Stück – weil es uns vor Augen führt, wie absurd es ist, Menschen nach Hautfarben einzuordnen. Schon in der Vorrede zu seinem Werk fragt Genet, was ein Schwarzer überhaupt sei – „und vor allem, welche Farbe hat er?“ Trotzdem sorgt jede neue Inszenierung dieses Stücks für heftige Debatten und Proteste. Stein des Anstoßes ist allein der Titel, weil das N-Wort heute allgemein als Beleidigung im Zeichen weißer Vorherrschaft gilt. Dem rebellischen Dramatiker ging es darum, ein provokantes Stück gegen einen von der weißen Mehrheitsgesellschaft ausgeübten Rassismus zu schreiben. Gegen Vorurteile, Machtausübung und Ausgrenzung, die durch nichts gerechtfertigt sind.
Ausgrenzung hatte Jean Genet selbst von Kindesbeinen an erlebt. Er war erst sieben Monaten alt, als seine Mutter ihn der öffentlichen Fürsorge Paris übergab. Er wurde bei Pflegeeltern im Dorf Alligny-en-Morvan untergebracht. Eigentlich hatte er es dort gut, und auch das Lernen fiel ihm leicht. Was ihm hingegen schwer fiel, war, Regeln einzuhalten. Als die Fürsorge ihn mit 14 Jahren in ein öffentliches Ausbildungszentrum steckte, lief er davon und schlug sich auf der Straße mit kleinen Diebereien durch. Er wurde geschnappt, bei neuen Pflegeeltern untergebracht, lief wieder weg. Schließlich landete er in der Besserungskolonie Mettray für jugendliche Kriminelle. Von dort entkam er nur, weil er sich bei der Fremdenlegion verpflichtete – der berühmt-berüchtigten französischen Söldnerarmee. Lange hielt er den harten Drill dort nicht aus und wurde in Unehren entlassen, nachdem seine homosexuelle Neigung entdeckt worden war. Auch in der regulären Armee kam er nicht zurecht. Genet desertierte, klaute, landete im Gefängnis, kam wieder frei, vagabundierte quer durch Europa, lebte zeitweise in Marokko, wurde erneut inhaftiert. Auch als er 1942 mit 32 Jahren sein erstes Gedicht „Le Condamné à mort“ („Der zum Tode Verurteilte“) schrieb und seinen ersten Roman „Notre-Dame-des-Fleurs“ („Unsere liebe Frau von den Blumen“) begann, saß er im Gefängnis.
Wie die meisten seiner Werke ist dieser Roman stark von eigenen Erfahrungen geprägt. Jean Genets Helden sind Schwule und Kriminelle, Zuhälter und Prostituierte – kurz: von der Gesellschaft Verstoßene, Randexistenzen. Mit ihnen identifizierte sich der Autor, der selbst zeit seines Lebens Dauergast vor Gericht war. Seine Sprache ist derb und direkt, sein Stil provokant, die Geschichten hoch erotisch – sein späterer Freund Jean-Paul Sartre nannte das Werk „das Epos der Masturbation“. Und von seinem Schriftstellerkollegen François Mauriac wurde Genet als „Orpheus der Gosse“ bezeichnet. Aber dieser freizügig homosexuelle, alle gängigen Tabus brechende Roman öffnete ihm die Tür in die künstlerisch-intellektuellen Kreise von Paris.
Der berühmte Schriftsteller Jean Cocteau las das Gedicht und den Roman und erkannte sofort das überragende Talent des jungen Autors. Er wurde sein Mentor und half ihm zusammen mit anderen prominenten Pariser Kunstschaffenden aus der Klemme, als ihm 1948 nach diversen Bewährungsstrafen eine lebenslange Haftstrafe drohte. Genet stand mit allerhand Diebstählen, Unterschlagung, Desertion, Landstreicherei, Passfälschung und sogenannten „unzüchtigen“ Handlungen im Strafregister und wäre bei einer erneuten Verurteilung nach damaligem Recht für immer im Gefängnis gelandet. Cocteau und Sartre schrieben einen offenen Brief an den Staatspräsidenten und erwirkten die Begnadigung ihres Künstlerfreundes.
In Saint-Germain-des-Prés kam Jean Genet mit weiteren Prominenten wie dem Maler Pablo Picasso, dem Philosophen Jean-Paul Sartre oder der Schriftstellerin Simone de Beauvoir zusammen. Genet schrieb in dieser Zeit wie besessen, innerhalb weniger Jahre entstand sein Hauptwerk aus Gedichten, Romanen und Dramen, das 1949 in einer Neuausgabe unter dem Titel „Sämtliche Werke“ erschien. Aus der verkrachten Existenz war ein angesehener Schriftsteller geworden, den Sartre „ein literarisches Genie“ nannte und dessen Stil er mit dem von Descartes verglich.
Doch dann folgte eine tiefe kreative Krise. Genet brachte kaum noch etwas zu Papier, litt unter Depressionen und einer unerwiderten homosexuellen Liebe; er versuchte sogar mehrmals, sich umzubringen. Erst Mitte der 1950er-Jahre ging es wieder aufwärts. In dieser Zeit lernte er den Maler und Bildhauer Alberto Giacometti kennen, mit dem ihn bald eine enge und für beide inspirierende Freundschaft verband. Solchermaßen beflügelt, schuf Genet seine drei abendfüllenden absurden Bühnenstücke „Der Balkon“, „Die Neger“ und „Die Wände“. Zwischendurch stand er wieder einmal vor dem Richter, diesmal wegen pikanter Illustrationen zu seinen Werken „Die Galeere“ und „Querelle de Brest“. Ein „Verstoß gegen die guten Sitten“, befand das Gericht und verdonnerte ihn zu acht Monaten Haft auf Bewährung.
Das Jahr 1964 brachte erneut einen schweren Rückschlag. Der Selbstmord seines Freundes, des jungen Artisten Abdallah Bentega, erschütterte Genet so sehr, dass er schwor, nie wieder etwas zu schreiben. Seinem Ruhm schadete das nicht: Seine Bücher verkauften sich bestens, Theater in Paris, London und New York spielten seine Stücke. Und: Sein Werk wurde politischer.
Bereits in seinem 1966 uraufgeführten Bühnenstück „Die Wände“ kritisierte er den französischen Krieg gegen Algerien und zog damit den Unmut rechtsgerichteter Kreise auf sich. Aufführungen wurden gestört, Theatereingänge blockiert. Zwei Jahre später brachen die Studentenunruhen der „68er“ aus, die fast ganz Europa und auch die USA erfassen sollten. Von da an widmete Genet seinen rebellischen Geist nur noch seinen politischen Aktivitäten. Er reiste ohne Visum in die Vereinigten Staaten, sprach auf Kundgebungen gegen den Vietnamkrieg, setzte sich für die Interessen Schwarzer Bürgerrechtler ein. Sein Stück „Die Neger“ lief in den USA mit großem Erfolg, es traf vor dem Hintergrund der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung den Nerv von Publikum und Kritik.
1970 lernte Genet den Palästinenserführer Jassir Arafat kennen und nahm öffentlich Partei gegen die israelische Landnahme im Nahen Osten. Damit schwamm er gegen den Strom der Pariser Linksintellektuellen, die mehrheitlich pro-israelisch eingestellt waren. Es kam zum Bruch mit Sartre. Wenig später sympathisierte Genet auch noch mit der deutschen linksextremistischen „Rote Armee Fraktion“ (RAF) und äußerte sich in der Zeitung Le Monde positiv zu gewaltverherrlichenden Schriften der terroristischen Baader-Meinhof-Gruppe. Es gab einen Skandal, und die meisten seiner Pariser Freunde wandten sich nun endgültig von ihm ab.
Zunehmend machten ihm nun auch Krankheiten zu schaffen, er musste sich einer Krebsbehandlung unterziehen. Noch immer schwer leidend reiste er im September 1982 in den Libanon und erfuhr in Beirut von Massakern, die die libanesische Phalange-Miliz unter den Augen der israelischen Armee in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Chatila begangen hatte. Daraufhin schrieb Genet seinen Essay „Quatre heures à Chatila“.
Im November 1985 stellte er, oft im Krankenbett im Liegen schreibend, sein letztes Buch fertig: „Un Captif amoureux“ („Ein verliebter Gefangener“). Es erschien 1986. Im selben Jahr starb Jean Genet. Sein Leichnam wurde in Marokko bestattet, so wie er es sich gewünscht hatte.
Mit „Die Neger“ ist dem Rebellen Jean Genet ein politisches Theaterstück gelungen, das mit den surrealen Momenten und der übertriebenen Darstellung in einer traumähnlichen Szenerie eindeutig die Züge des Absurden Theaters trägt. Dabei bediente er sich der Methode des „Spiels im Spiel“ und bestand darauf, dass alle Rollen mit Schwarzen besetzt werden, auch die der vermeintlich Weißen, die das „Tribunal“ darstellen. Ihre Schauspieler tragen weiße Masken, sind aber darunter deutlich als Schwarze zu erkennen.
Nach dem inszenierten Sexualmord macht sich das Tribunal auf den Weg in den afrikanischen Urwald, um über die Täter zu Gericht zu sitzen. Dafür müssen seine weißen Mitglieder jedoch von der Tribüne herabsteigen, sodass sie den Schwarzen nun auf Augenhöhe begegnen. Und siehe da: Die Machtposition des Tribunals gerät ins Wanken, bis die Weißen schließlich bereit sind, sich hinrichten zu lassen. Das Verwirrspiel um Rollen, Machtpositionen und Hautfarben gipfelt in dem Moment, als die weißen Masken fallen und Schwarze Menschen darunter zum Vorschein kommen. Wer hat hier eigentlich über wen gerichtet? Gibt es sie noch, die Macht der vermeintlich Weißen?
In dem 1959 uraufgeführten Stück werden eine diskriminierende Gesellschaft und Machtstrukturen an den Pranger gestellt. Rassistisches Denken wird regelrecht ad absurdum geführt. Als Zuschauer bleibt einem die Luft weg; augenblicklich hinterfragt man seine eigenen Sicht- und Denkweisen, Werte- und Vorurteile.
Ein Jahr nach der Uraufführung von Genets antirassistischem Verwirrspiel kam Harold Pinters Theaterstück „Der Hausmeister“ auf die Bühne. Aber obwohl auch dieses Werk sozialkritische Themen berührt, ging es dem britischen Dramatiker des Absurden Theaters vor allem darum, die innere Heimatlosigkeit eines Obdachlosen und seines gutmütigen Wohltäters zu inszenieren.
Zusammenfassung
In Jean Genets Theaterstück „Die Neger“ (Originaltitel: „Les nègres“) sitzt ein weißer Hofstaat über eine Gruppe von Schwarzen zu Gericht, die eine weiße Frau ermordet haben.
Der 1959 uraufgeführte Einakter kritisiert Rassismus, Diskriminierung, Vorurteile und tradierte Machtstrukturen.
Aufgrund der traumartigen Szenerie, surrealer Momente und des Verwirrspiels mit Masken gilt Genets Stück als typisches Werk des Absurden Theaters. Hier wird rassistisches Denken ad absurdum geführt. Um den diskriminierenden Titel gibt es bis heute heftige Debatten.
Weitere Werke von Jean Genet sind unter anderem die Romane „Miracle de la Rose“ („Wunder der Rose“, 1946, Band II), „Querelle de Brest“ (1947; 1982 von Rainer Werner Fassbinder verfilmt), „Pompes funèbres“ („Das Totenfest“, 1947, Band III), „Journal du voleur“ („Tagebuch eines Diebes“, 1949) und „Un Captif amoureux“ („Ein verliebter Gefangener“, 1986, Band IV)
sowie die Dramen „Les Bonnes“ („Die Zofen“, 1947), „Haute Surveillance“ („Unter Aufsicht“, 1949), „Le Balcon“ („Der Balkon“, 1957), „Les Paravents“ („Die Wände“, 1961), „Splendid’s“ (1941/uraufgeführt erst 1994) sowie „Elle“ („Sie“, uraufgeführt 1990 in Parma).
Außerdem schuf er Gedichte, zahlreiche Essays und einen 26-minütigen Film, der zunächst verrissen und dann Kult wurde: „Un Chant d’Amour“ („Ein Lied von der Liebe“).
Genets Romane, Gedichte, Dramen und Essays sind in Deutschland in einer mehrbändigen Werkausgabe beim Merlin Verlag erschienen.
Weiterführende Literatur: „Hubert Fichte – Jean Genet“, Rimbaud, Aachen 1992
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. D) Autor des Absurden Theaters
2. A) Von Außenseitern
3. B) Jean Genet
4. C) Rassismus
5. A) Nachkriegszeit
Jean Genet (1910–1986) war ein französischer Schriftsteller, Dichter und Dramatiker des Absurden Theaters. Er hinterließ ein umfangreiches Werk aus Romanen, Dramen, Gedichten und Essays. Genet wuchs als „Zögling“ der öffentlichen Fürsorge auf und saß wegen kleiner Straftaten und sogenannter Sittlichkeitsdelikte oft im Gefängnis. Ein Großteil seiner Werke spielt im „Milieu“, seine Helden sind Homosexuelle wie er selbst, Prostituierte, Zuhälter, Straftäter – kurz: Randexistenzen der Gesellschaft. In seiner späteren Schaffensphase war er stark politisch engagiert.
Das Stück heißt „Die Neger“. Genet hat es 1958 geschrieben, im Jahr darauf wurde es uraufgeführt. In den USA kam es unter dem Titel „The Blacks“ in die Theater und lief mit großem Erfolg, weil es zur Zeit der afroamerikanischen Schwarzen Bürgerrechtsbewegung buchstäblich offene Türen einrannte.
Nein. In dem Drama führt Genet gerade die rassistische Diskriminierung Schwarzer Menschen, Kolonialdenken, Vorurteile und tradierte Machtstrukturen ad absurdum. Er bestand zudem darauf, dass auch die „weißen“ Rollen ausschließlich von Schwarzen Darstellern übernommen wurden. Vor der deutschen Uraufführung am Staatstheater Darmstadt versuchte Genet sogar gerichtlich zu verhindern, dass weiße Schauspieler mit schwarz geschminkten Gesichtern auftraten. Regie und Theaterleitung hätten das Stück offensichtlich nicht verstanden, argumentierte er. Das Amtsgericht wies seinen Antrag jedoch ab.
Vor den Augen eines „weißen“ Tribunals begeht eine Gruppe „Schwarzer“ einen ritualisierten Sexualmord an einer weißen Frau. Das erhöht sitzende Tribunal trägt weiße Masken, die Personen darunter sind aber als Schwarze erkennbar. Sie kommentieren das Geschehen hämisch, brechen dann aber zu einer „Strafexpedition“ in den „Dschungel“ auf, wo sie den „Schwarzen“ auf einer Ebene gegenüberstehen. Es kommt es zu einer grotesken Verhandlung, bei der die „Weißen“ nacheinander zur eigenen Hinrichtung gehen. Am Ende nehmen sie ihre Masken ab und geben sich als Schwarze zu erkennen, die das weiße Publikum nur getäuscht haben.
Trotz des rassistischen Schimpfworts im Titel und der grotesk-grausamen Anfangsszene steckt das Stück voller positiver Symbolik für die Farbe Schwarz. Alles Liebevolle, Gute und Schöne in der Welt werde schwarz sein: Milch, Reis, Tauben, der Himmel und die Hoffnung, heißt es darin. Die Schwarzen revoltieren gegen die Vorherrschaft der Weißen, bringen deren Ordnung und Machtgefüge ins Wanken. Am Ende sind sie vom diskriminierenden Klischee des „Negers“ und ihrer Abhängigkeit von den Weißen befreit.
Die Uraufführung am 28. Oktober 1959 im Théâtre de Lucète stieß auf ein geteiltes Echo. Kritiker bewerteten es als böse und beleidigend, andererseits erhielt es noch im selben Jahr den „Grand Prix de la Critique“ und wurde mit fast 170 Aufführungen auf verschiedenen Bühnen ein Publikumserfolg. Im modernen New York lief es als Off-Broadway-Inszenierung, also in der zweithöchsten Kategorie, und wurde mit Lob überhäuft. Bei den Wiener Festwochen 2014 wollte die Regie den provokanten Titel umschiffen und plante, das Stück in „Die Weißen“ umzubenennen oder wenigstens den amerikanischen Titel „The Blacks“ zu verwenden. Das wurde ihr untersagt; daraufhin kam es zu Protesten antirassistischer Gruppen – und wieder einmal zu schlechten Kritiken.