Ob Mozart, Beethoven, Chopin oder Schumann, für sie alle war Bachs Stückesammlung „Das Wohltemperierte Klavier“ Teil ihrer musikalischen Ausbildung. In dieser Story erfährst du, weshalb Bach mit diesem Werk Musikgeschichte schrieb und warum einige der Kompositionen im Gefängnis entstanden sind.
Weimar im November 1717: Der Komponist Johann Sebastian Bach sitzt in einer eiskalten Gefängniszelle. „Halsstarrigkeit“ wird ihm vorgeworfen. Und das nur, weil er sich geweigert hat, weiterhin für Herzog Wilhelm Ernst zu komponieren. Aber der hätte jetzt auch wirklich ihm die Stelle als Hofkapellmeister geben können. Verdient hat er die allemal. Immerhin komponiert er schon seit neun Jahren für den Herzog … Einen Vorteil hat die Haft jedoch: Endlich kann er mal für sich komponieren und an seiner Sammlung „Das Wohltemperierte Klavier“ weiterarbeiten. Was als Fingerübung für seine Kinder begonnen hat, würde nun ein Kunstwerk werden …
Nach vier Wochen öffnet sich plötzlich die Zellentür. „Johann Sebastian Bach?“, sagt der Wärter. „Sie sind frei.“ Und nach kurzer Pause fügt er hinzu: „Auch aus Ihrem Arbeitsverhältnis mit dem Herzog sind Sie übrigens entlassen. Scheint so, als hätten Sie einen einflussreichen Freund.“ Rasch sammelt Bach alle Notenblätter zusammen und eilt in Richtung Freiheit.
Die erste App, die dich wirklich schlauer macht.
Jetzt runterladen!Jener einflussreiche Freund, der sich für Bachs frühzeitige Freilassung eingesetzt hatte, war Fürst Leopold von Anhalt-Köthen. Als großer Musikliebhaber wusste er Bachs Talent zu schätzen und gab ihm wenig später die angestrebte Position eines Hofkapellmeisters.
Kaum war der Vertrag unterschrieben, zog Johann Sebastian Bach mit seiner Frau Maria Barbara und den vier Kindern von Weimar nach Köthen. Im Laufe seines Lebens war Bach zweimal verheiratet und Vater von insgesamt 20 Kindern. Zwar erreichten nur zehn von ihnen das Erwachsenenalter - aber gleich vier Bach-Söhne wurden selbst bekannte Komponisten. Kein Wunder, denn Musik war genauso täglicher Bestandteil des Familienlebens wie die Mahlzeiten; und Papa Bach förderte seinen Nachwuchs höchstpersönlich. Dafür verfasste er eigens pädagogische Notenhefte. Das „Klavierbüchlein für Wilhelm Friedemann“ etwa ist seinem ältesten Sohn gewidmet. Die meisten Stücke in diesen Heften übertrug Bach später in seine berühmte Sammlung „Das Wohltemperierte Klavier“.
Das Klavier, wie wir es heute kennen, steckte zu Bachs Zeiten noch in den Kinderschuhen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde jedes Tasteninstrument als Clavier bezeichnet. Bach selbst spielte vor allem Cembalo und Orgel. Doch warum hat er seine Stückesammlung „Das Wohltemperierte Klavier“ genannt?
Das Wort „wohltemperiert“ hat in diesem Fall nichts mit warm und kalt zu tun, sondern meint die Stimmung des Instruments, also die Festlegung der genauen Tonhöhe für jede Taste. Anfang des 18. Jahrhunderts wurden Tasteninstrumente meist nach der sogenannten reinen Stimmung gestimmt. Das hatte jedoch einen Nachteil: Was in der einen Tonart gut und rein klang, konnte in einer anderen Tonart sehr schief klingen. Für einen solchen Tonartwechsel musste ein rein gestimmtes Tasteninstrument also jedes Mal komplett umgestimmt werden. Eine sehr umständliche Prozedur, die Fingerfertigkeit und technisches Wissen erforderte.
Doch warum ist es überhaupt nötig, die Tonarten zu wechseln?
Nun, es ist ein bisschen wie bei der Farbwahl für ein Gemälde: Jede Farbe hat eine andere Wirkung. Blaue Aquarellfarben zum Beispiel wirken eher kühl, rote Acrylfarben geradezu aufgeregt. Auch die sieben Töne einer Tonart bringen ihre jeweils eigene Klangfärbung hervor. Bachs „Präludium in C-Dur“ zum Beispiel wurde – wie der Name schon sagt – aus den leuchtenden Tönen der C-Dur-Tonleiter gebaut.
Vielleicht aber möchte jemand dieses oder ein anderes Stück lieber etwas höher spielen, weil es dann noch heller klingt oder angenehmer zum Mitsingen ist. Würden wir nun das „Präludium in C-Dur“ um vier Töne erhöhen, hätten wir ein Präludium in G-Dur. Neben der Tonhöhe kann aber auch das Tongeschlecht geändert werden. Die beiden Tongeschlechter heißen Dur und Moll. Bleiben wir bei dem Farbvergleich, haben wir es bei Dur mit einer hellen, klaren Färbung zu tun, während Moll eher trüb und matt gefärbt ist.
Die künstlerische Freiheit ist also um einiges größer, wenn die Möglichkeit besteht, ohne viel Aufwand zwischen den Tonarten zu wechseln. Das hatte auch der Musiker Andreas Werckmeister erkannt. Deshalb entwickelte er im Jahr 1681 eine Stimm-Methode, die Pianisten das ständige Umstimmen erspart. Nur wird dabei leider auch der eine oder andere Ton leicht verfälscht. Diese Methode hat Werckmeister wohltemperierte Stimmung genannt. Den Anhängern der reinen Stimmung ging das gegen den Strich. Auch heute gibt es Klassikfans, die der Ansicht sind, dass Tonarten nur in der reinen Stimmung ihre eigene Schönheit entfalten können. Bach sah das anders. Mit seinem Werk „Das Wohltemperierte Klavier“ wollte er auf kunstvolle Weise demonstrieren, dass es mit der temperierten Stimmung sehr wohl möglich ist, schöne Musik zu machen – und zwar in allen 24 Tonarten.
Den 24 Tonarten folgend besteht „Das Wohltemperierte Klavier“ aus 24 Musikstück-Paaren – jeweils zusammengesetzt aus Präludium und Fuge. Den Auftakt gibt die Tonart C-Dur, und danach wandern wir der Reihe nach durch alle Dur- und Moll-Tonarten. Für jede von ihnen komponierte Bach ein Präludium und eine Fuge, wodurch das Charakteristische der einzelnen Tonarten besonders deutlich wird. Präludien und Fugen sind zwar verschiedene Kompositionsformen, doch im „Wohltemperierten Klavier“ treten sie als unzertrennliches Pärchen auf: Mit dem Präludium gibt Bach zunächst die harmonische Grundstimmung einer Tonart wieder, bevor die Fuge dann melodisch darauf aufbaut.
In der Regel ist die Kompositionsform des Präludiums ein instrumentales Vorspiel zu dem eigentlichen Werk. Bei dem rund zweiminütigen „Präludium in C-Dur“ von Bach aber handelt es sich nicht nur um das Intro zu der folgenden Fuge, sondern auch um die meisterhafte Eröffnung eines Gesamtkunstwerks: Gleichmäßig fließend bewegt sie sich durch die Töne der C-Dur-Tonleiter, wodurch sie ebenso eindringlich wie beruhigend wirkt – oder wie Dichterfürst Goethe es einst beschrieb: „als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte.“
Die musikalische Demonstration des Johann Sebastian Bach gelang: Sein Werk trug wesentlich dazu bei, dass sich die wohltemperierte Stimmung im 18. Jahrhundert durchsetzte. Auch er selbst war mit dem Ergebnis offenbar ziemlich zufrieden, denn viele Jahre nach Erscheinen der Stückesammlung fügte er seinem Zyklus noch einen zweiten Teil hinzu. Der ist nach dem gleichen pädagogischen Prinzip aufgebaut wie Teil 1 und genauso meisterlich komponiert. Tatsächlich zog Bach selten eine Trennlinie zwischen Lehrwerk und Kunstwerk. Er nutzte seine Stücke als Unterrichtsmaterial, um Fingerfertigkeit und Musikverständnis seiner Kinder und Schüler weiterzuentwickeln. Aus seiner Sicht war „Das Wohltemperierte Klavier“ ein Büchlein „zum Nutzen und Gebrauch der lernbegierigen musikalischen Jugend“, wie es im langen Untertitel heißt. Und so bescheiden Bach auch gewesen sein mag: Er wäre bestimmt stolz darauf, wie viele große Komponisten er mit seinem lehrreichen Meisterwerk beeinflusst hat. Sogar Ludwig van Beethoven gestand: „Immer, wenn ich beim Komponieren ins Stocken geriet, nahm ich mir das Wohltemperierte Klavier hervor, und sogleich sprossen mir wieder neue Ideen.“
Doch auch jenseits der Tasten hinterließ Bach seine historischen Spuren. In seinen „Brandenburgischen Konzerten“ zog er ganz andere Saiten auf und sorgte dabei sogar noch für Gleichberechtigung im Orchester.
Zusammenfassung
Der Komponist und Kapellmeister Johann Sebastian Bach komponierte zahlreiche Übungsstücke für seine Familie und Musikschüler. Viele von ihnen gelangten in seine Stückesammlung „Das Wohltemperierte Klavier“ BWV 846-869.
Ihr erstes und gleichzeitig bekanntestes Musikstück ist das „Präludium in C-Dur“.
Das „C-Dur“ im Titel bedeutet, dass es sich um Tonmaterial – die sogenannte Ton_art_ – des Tongeschlechts Dur handelt. Ein Stück in C-Dur ist aus den Tönen der C-Dur-Tonleiter komponiert.
Die wohltemperierte Stimmung ist eine Methode, mit der die Tonhöhen eines Instruments so festgelegt werden, dass es in allen Tonarten gespielt werden kann. Anders als bei der reinen Stimmung muss das Instrument bei einem Tonartwechsel also nicht umgestimmt werden.
Mit der Sammlung „Das Wohltemperierte Klavier“ hat Bach der Welt demonstriert, dass Klavierspieler auch mit der vereinfachten, „wohltemperierten“ Klavierstimmung gute Musik machen können – und zwar in allen 24 Tonarten, die es gibt.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. D) Das Wohltemperierte Klavier
2. B) Ein Instrumentalstück mit eröffnendem Charakter
3. A) … für alle Tasteninstrumente
4. C) Leipzig und der Thomanerchor
5. B) Weil es 24 Tonarten gibt