Mehr als 500 Jahre nach ihrer Entstehung ist diese Zeichnung von Albrecht Dürer berühmter denn je. Allerdings hält manch einer die hageren Betenden Hände inzwischen für kitschig. Wieso? Das erfährst du in dieser Story.
Es ist ein ungewöhnlich warmer Oktobertag. Wie jeden Donnerstag steht Agnes hinter ihrem Stand auf dem Nürnberger Markt. Jedermann kennt sie. Immerhin ist sie die Frau des Künstlers Albrecht Dürer. Zwischen Obst- und Gemüsehändlern, umgeben von Käfigen mit ängstlichen Kaninchen und gackernden Hühnern bietet auch sie ihre Ware an: Dürers Werke. Hauptsächlich Drucke mit seiner unverkennbaren Signatur „AD“. Der Verkauf läuft gut. Die Leute stehen Schlange, um noch etwas von diesem berühmten Sohn der Stadt zu ergattern. Ja, ihr Albrecht hat Erfolg. Agnes lächelt in sich hinein. Und den verdankt er nicht zuletzt ihrem Geschäftssinn, der bestens zu Albrechts Ehrgeiz passt. Ihr Albrecht ist der kreative Kopf, der Getriebene, ein Ausnahmekünstler. Klar, dass sie ihr Leben ihm und seiner Kunst unterordnen muss. Seine Malerei steht nun mal immer an erster Stelle. Seit einigen Tagen kommt Albrecht kaum aus seinem Atelier heraus. Diesmal hantiert er jedoch nicht wie wild mit Farben und Formen, nein, diesmal experimentiert er mit Spiegeln...
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Jetzt runterladen!Woran Albrecht Dürer an diesem Tag im Jahr 1508 arbeitete, gehört heute zu den berühmtesten Motiven der Welt: die Betenden Hände (engl. Praying Hands). Nur leicht berühren sich die Handflächen. Lange, schmale Finger liegen entspannt aneinander. Die dazugehörigen Arme scheinen aus dem Nichts zu kommen, die Ärmel des Gewandes sind locker umgeschlagen. Im Mittelpunkt der Zeichnung aber stehen die beiden gefalteten Hände, die zum Gebet gen Himmel gerichtet sind: Kurz geschnittene, gepflegte Fingernägel, Adern und Sehnen, durch die das Leben zu pulsieren scheint. So detailgetreu, so realistisch sind diese betenden Hände gezeichnet. Denn Albrecht Dürer nahm seine eigene linke Hand als Modell. Um genau beobachten zu können, wie zwei Handflächen sich berühren, legte er seine Hand auf einen Spiegel. Und einen weiteren Spiegel nahm er zu Hilfe, damit er auch die jetzt aneinandergelegten Hände betrachten konnte. Dürers Detailversessenheit und Perfektion ist legendär. Auch diesmal überließ er keine noch so leichte Fingerkrümmung dem Zufall. Mit feinen Strichen und Schraffierungen gelang es ihm, selbst feinste Hautfalten an den Gelenken wiederzugeben.
Das Papier für diese Pinselzeichnung ließ Dürer eigens blau grundieren, denn damals gab es noch kein blaues Papier in Dürers deutscher Heimat. Der Maler wollte aber unbedingt die Technik der Weißhöhung anwenden, eine Zeichentechnik, die er in Venedig kennengelernt hatte: Mit Deckweiß setzte Dürer natürlich wirkende Lichtakzente auf den blauen Grund, sodass Fingerspitzen, Handkanten und Ärmelaufschläge hell unter den zarten Pinselstrichen hervortreten. Es hat den Anschein, als stünde der Betende vor einer Kerze oder einer anderen Lichtquelle. Auf diese Weise wird der fromme Akt betont. Das Stück Papier mit der Zeichnung misst übrigens nur knapp 30 mal 20 Zentimeter, was in etwa einer DIN-A4-Seite entspricht. Ursprünglich war es jedoch größer, damit neben den Händen auch die Studie eines Kopfes Platz fand. Für die spätere Teilung des Blattes ist vermutlich der erste Direktor des Wiener Kunstmuseums Albertina verantwortlich: Er soll Anfang des 19. Jahrhunderts einige Dürer-Zeichnungen entwendet haben und dies vertuschen wollen, indem er andere Bögen einfach zerschnitt. So blieb die Anzahl der Dürer-Werke im Bestand zumindest nahezu gleich.
Die Zeichnung ist so meisterhaft ausgeführt, dass sie heute als eigenes Kunstwerk gilt. Dabei war sie wohl nur als Vorstudie zu einem Gemälde gedacht. Ein Jahr zuvor hatte Dürer nämlich von dem wohlhabenden Frankfurter Patrizier Jakob Heller den Auftrag für ein Altarbild bekommen. Er sollte die Krönung und Himmelfahrt Mariens für den Flügelaltar des dortigen Dominikanerkloster malen. Kennengelernt hatten sich der Maler und der Kaufmann in Nürnberg, wohin Heller gute Geschäftsbeziehungen unterhielt. Dürers Briefe an seinen Auftraggeber sind noch erhalten und geben Zeugnis von seiner Arbeitsweise.
So fertigte der Künstler zahlreiche Vorstudien für das Triptychon, das dreiteilige Altarbild, an. Diese Studien zeigen die Köpfe von Aposteln, ihre Füße und eben auch Hände. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Zunft, ging Albrecht Dürer dabei mit größter Sorgfalt vor. Er fertigte nicht nur grobe Skizzen an, sondern vertiefte sich in Details. Tatsächlich sind diese Zeichnungen differenzierter, filigraner und manchmal sogar qualitätvoller als viele seiner Gemälde selbst. Der direkte Vergleich mit den Bildern des sogenannten „Heller-Altars“, den Dürer 1511 in Zusammenarbeit mit seinem Malerkollegen Matthias Grünewald fertiggestellt hatte, fehlt uns aber heute. Das Kunstwerk fiel im Jahr 1724 einem Brand zum Opfer. Erhalten geblieben ist lediglich eine Kopie des Nürnberger Malers Jobst Harrich, die dieser im 17. Jahrhundert angefertigt hatte. Darauf können wir noch sehen, dass sich die Gebetshände des knieenden Apostels auf der rechten Seite der Mitteltafel an Dürers Vorstudie orientieren.
Kaum ein Werk von Albrecht Dürer ist so bekannt wie die Betenden Hände, die mittlerweile zu einer regelrechten Ikone geworden sind. Er selbst behielt diese Studie als Schaustück in seinem Atelier, um möglichen Auftraggebern jederzeit seine Kunstfertigkeit und Perfektion vor Augen führen zu können. Doch wie populär diese Zeichnung eines Tages werden sollte, hätte er wohl nie gedacht … Gefreut hätte es das geschäftstüchtige Ehepaar Dürer aber bestimmt. Immerhin verkauften sie erfolgreich, was immer des Meisters Atelier verließ: Aquarelle, Kupferstiche, Holzschnitte.
Mittlerweile sind Dürers Betende Hände ein echtes Massenphänomen. Fast jeder kennt sie, immer wieder begegnen sie uns in Reproduktionen, ob als Kunstdrucke in schnörkeligen Bilderrahmen, als Holzbilder oder auf Keilrahmen gezogen. Als Symbol der Hoffnung zieren sie Bibeln, Grabsteine, Kondolenzkarten und Traueranzeigen. Als Relief schmücken sie die Wände gutbürgerlicher Wohnstuben, als Skulptur haben viele US-Amerikaner sie im Regal. In Uganda wurden die Betenden Hände zum Briefmarken-Motiv erkoren, und an so manchem deutschen Autospiegel baumeln sie als Duftbäumchen. Immerhin handelt es sich bei den zusammengelegten Händen nicht nur um eine fromme, sondern auch um eine urmenschliche Geste.
Die Grenze zwischen Kunst und Kitsch ist aber bekanntlich schmal, und im Fall von Dürers Betenden Händen offensichtlich überschritten. Vielen Menschen dürfte gar nicht mehr klar sein, dass es sich bei der Originalzeichnung um ein einzigartiges Kunstwerk aus dem frühen 16. Jahrhundert handelt. Zum Kitsch wurde es erst durch die massenhafte Vervielfältigung. Der Popart-Künstler Andy Warhol übrigens, der gerne mit der Verbindung von Kunst, Kitsch und Kommerz provozierte, ließ sich die Betenden Hände sogar auf seinen Grabstein meißeln. Allerdings spiegelverkehrt.
Zusammenfassung
Albrecht Dürers Pinselzeichnung von 1508 wurde als die Betenden Hände weltberühmt und ist mittlerweile zu einem allgegenwärtigen Motiv geworden.
Dürer schuf die ebenso feine wie realistische Zeichnung wohl als Vorstudie für einen betenden Apostel auf einem Altarbild.
Für die Zeichnung nahm Dürer Spiegel zu Hilfe. Die Betenden Hände zeigen also eigentlich nur Dürers gespiegelte linke Hand.
Die Zeichnung diente Dürer später als Schaustück, um mögliche Auftraggeber mit seiner Kunstfertigkeit und Perfektion zu beeindrucken.
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A) Leonardo da Vinci
B) Claude Monet
C) Andy Warhol
D) Jackson Pollock
Richtige Antworten:
1. A) Vorstudie für ein Altarbild
2. C) Albertina, Wien
3. D) Spiegel
4. B) Blau
5. C) Andy Warhol