Im Herbst 1843 kehrt Heinrich Heine erstmals wieder für wenige Wochen von Paris in seine deutsche Heimat zurück. In dieser Story erfährst du, was ihm auf seiner Deutschlandreise widerfährt und welches bahnbrechende Stück dabei entsteht.
Heinrich Heine hat Herzklopfen. Er sitzt in einer Postkutsche, die sich langsam der Grenze nähert. Vor dem Fenster zieht die herbstliche Landschaft vorbei. Viele Stunden ist er schon unterwegs. Schweren Herzens hat er seine Frau Mathilde in Paris zurückgelassen. Sein Ziel ist Hamburg. Dort will er seine alte Mutter besuchen und seinen Verleger treffen. Ganze zwölf Jahre ist Heine nicht mehr in Deutschland gewesen. Gleich wird er seine Heimat wiedersehen. Das Land, aus dem er fliehen musste. Das Land, das er nur noch aus Zeitungen und Briefen kennt. Manche nennen ihn dort einen Vaterlandsverräter. Weil er in Frankreich lebt: beim sogenannten Erzfeind. Weil er die deutschen Verhältnisse auch von dort aus kritisiert. Wie aber werden ihm die Deutschen nach all den Jahren begegnen? Wie wird es sein, durch ein Land zu reisen, in dem er immer Außenseiter war, in dem er aufgrund seiner jüdischen Herkunft angefeindet und ausgegrenzt wurde?
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Jetzt runterladen!Im Spätherbst 1843 reist Heinrich Heine aus dem Pariser Exil nach Deutschland, um seine Mutter in Hamburg zu besuchen. Auf dem Rückweg nach Frankreich beginnt er damit, seine Eindrücke aus all diesen Orten in Gedichtform festzuhalten. Daraus entsteht schließlich eines seiner bekanntesten Werke überhaupt: „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (im Original von 1844: „Wintermährchen”).
Wintermärchen – das klingt nach idyllisch glitzernden Schneelandschaften. Doch weit gefehlt. Der Titel ist ironisch gemeint. Es geht um den politischen und gesellschaftlichen Winterschlaf Deutschlands zur Zeit der Restauration. Denn Deutschland, beziehungsweise der Deutsche Bund mit seinen vielen Teilstaaten, wirkt wie eingefroren, erstarrt in Unfreiheit, Unterdrückung und Zensur. Schließlich herrschen Fürsten und Könige über die deutschen Länder. Demokratie und Mitbestimmung? Fehlanzeige.
Bei seiner Ankunft in der alten Heimat ist der Ich-Erzähler in Heines Gedicht jedoch erst einmal gerührt:
Im traurigen Monat November war's,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.
Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.
Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.
Ein kleines Harfenmädchen sang.
Sie sang mit wahrem Gefühle
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr
Gerühret von ihrem Spiele.
Die Rührung des Reisenden währt jedoch nicht lange. Schon mischen sich kritische Töne in das Lied vom „irdischen Jammertal”:
Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
Das Lied des Harfenmädchens handelt von der christlichen Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits. Der Reisende aber kann dieses veraltete Lied von der irdischen Entsagung nicht mehr hören. Die Kirche will damit doch nur das Volk klein halten und unterdrücken. Also schlägt er schon im ersten Kapitel, dem „Caput I”, ein „besseres Lied” vor. Ein Lied über eine Zukunft, in der alle Menschen glücklich im Hier und Jetzt leben:
Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.
Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.
Seine Hoffnung, dass sich etwas in der alten Heimat zum Besseren gewendet hat, zerschlägt sich bereits an der deutschen Grenze. Zöllner durchwühlen sein Gepäck, kramen und schnüffeln in seiner Kleidung herum, suchen nach geschmuggelter Spitze und verbotenen Büchern. Aber der Reisende schmunzelt:
Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht!
Hier werdet ihr nichts entdecken!
Die Konterbande, die mit mir reist,
Die hab ich im Kopfe stecken.
Nach der Weiterfahrt sieht er in Aachen preußisches Militär:
Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.
Sie stelzen noch immer so steif herum,
So kerzengrade geschniegelt,
Als hätten sie verschluckt den Stock
Womit man sie einst geprügelt.
Und dann diese Pickelhauben! Den Helm mit der markanten Spitze hat der preußische König gerade erst eingeführt, als Heine 1843 durch die deutschen Lande reist. Sie wird zum preußischen Symbol schlechthin werden. Der Reisende in Heines Gedicht lästert indes nicht ohne Vergnügen:
Nur fürcht ich, wenn ein Gewitter entsteht,
Zieht leicht so eine Spitze
Herab auf euer romantisches Haupt
Des Himmels modernste Blitze! – –
Heine verabscheut das Preußentum zutiefst, das im Deutschen Bund immer mehr an Macht gewinnt. Der übertriebene Militarismus, die Deutschtümelei, der engstirnige Hass auf die Franzosen – er ahnt, dass ein deutscher Nationalstaat unter preußischer Führung zu nichts Gutem führen kann. Heute – im Rückblick auf zwei Weltkriege – wissen wir, dass der Dichter mit diesem Gefühl richtig lag. Es ist nicht zuletzt diese Hellsichtigkeit, die „Deutschland. Ein Wintermärchen“ für viele so bedeutend macht.
Das gesamte Versepos, das aus mehr als 500 Strophen besteht, ist durchzogen von bissigen Kommentaren über die politischen und sozialen Verhältnisse, die deutsche Kleinstaaterei und ihre Piefigkeit. Der Ich-Erzähler im Gedicht macht Station in Aachen, Köln und Düsseldorf, freut sich über „die lieben, guten Westfalen” in Hagen, Unna und Paderborn, schläft schlecht in der preußischen Festung Minden, passiert Bückeburg und erreicht schließlich über Hannover sein Ziel Hamburg. Tatsächlich sind all diese Orte Stationen der Rückreise gewesen; für den Hinweg hatte Heine die kürzere Strecke über Brüssel, Münster und Osnabrück gewählt. Und die beschwerliche Reise in „wackelnden” Postkutschen begann er auch nicht im traurigen Monat November, sondern schon im Oktober 1843. Aber das ist eben dichterische Freiheit – und der düstere Nebelmonat passt wohl auch besser ins Stimmungsbild.
Nicht nur die Preußen, auch die römisch-katholische Kirche bekommt im „Wintermärchen” ordentlich ihr Fett weg. In den Straßen der „heil’gen Stadt Köllen” sinniert der Reisende:
Die Flamme des Scheiterhaufens hat hier
Bücher und Menschen verschlungen;
Die Glocken wurden geläutet dabei
Und Kyrie eleison gesungen.
Der unfertige Kölner Dom, dessen Bau zur Zeit der Reformation gestoppt worden war und nun wieder aufgenommen wurde, steht bei Heine für die Rückschrittlichkeit der ganzen deutschen Gesellschaft:
Er ward nicht vollendet – und das ist gut.
Denn eben die Nichtvollendung
Macht ihn zum Denkmal von Deutschlands Kraft
Und protestantischer Sendung.
Ihr armen Schelme vom Domverein,
Ihr wollt mit schwachen Händen
Fortsetzen das unterbrochene Werk,
Und die alte Zwingburg vollenden!
(...)
Er wird nicht vollendet, trotz allem Geschrei
Der Raben und der Eulen,
Die, altertümlich gesinnt, so gern
In hohen Kirchtürmen weilen.
Ja, kommen wird die Zeit sogar,
Wo man, statt ihn zu vollenden,
Die inneren Räume zu einem Stall
Für Pferde wird verwenden.
Dem alten „Vater Rhein” hingegen spendet der Reisende Trost, fühlt sich der Flussgott doch bis auf den steinigen Grund blamiert vom „Rheinlied” des deutschen Vaterlandsdichters Nikolaus Becker! „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein”, hat dieser 1840 in sieben schwülstigen Strophen gedichtet. Mit „Sie” sind die Franzosen gemeint, welche die Übertragung des linken Rheinufers vom Deutschen Bund fordern. Diese sogenannte Rheinkrise von 1840 schürt den Nationalismus in beiden Ländern und löst einen regelrechten Dichterkrieg zwischen beiden Nationen aus.
Im Teutoburger Wald sinniert der Reisende darüber, wie Deutschland wohl aussähe, wenn Arminius der Cherusker nicht in der Varusschlacht die Römer besiegt hätte. „Römische Sprache und Sitten” würden im Vaterland herrschen, und:
Wir hätten einen Nero jetzt,
Statt Landesväter drei Dutzend.
Wir schnitten uns die Adern auf,
Den Schergen der Knechtschaft trutzend.
(...) Doch:
Gottlob! Der Hermann gewann die Schlacht,
Die Römer wurden vertrieben,
Varus mit seinen Legionen erlag,
Und wir sind Deutsche geblieben!
Einige Kapitel später diskutiert der Reisende im Traum mit dem sagenhaften Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser, dem Idol der deutschen Nationalisten. Ihm erklärt er zu dessen Zorn, dass in der Revolution so manches königliches Haupt unter der Guillotine gelandet sei. Doch wenig später leistet er dem beleidigten Rotbart in Stillen Abbitte und wünscht sich das einige Heilige Römische Reich zurück:
Das Mittelalter, immerhin,
Das wahre, wie es gewesen,
Ich will es ertragen – erlöse uns nur
Von jenem Zwitterwesen,
Von jenem Kamaschenrittertum,
Das ekelhaft ein Gemisch ist
Von gotischem Wahn und modernem Lug,
Das weder Fleisch noch Fisch ist.
Jag fort das Komödiantenpack,
Und schließe die Schauspielhäuser,
Wo man die Vorzeit parodiert
Komme du bald, o Kaiser!
Hamburg schließlich, die alte Freie und Hansestadt, erkennt er kaum wieder, aber:
Noch mehr verändert als die Stadt
Sind mir die Menschen erschienen,
Sie gehn so betrübt und gebrochen herum,
Wie wandelnde Ruinen.
Die Mageren sind noch dünner jetzt,
Noch fetter sind die Feisten,
Die Kinder sind alt, die Alten sind
Kindisch geworden, die meisten.
Bei einem nächtlichen Spaziergang trifft er Hammonia, die mythische Schutzgöttin Hamburgs. Sie kocht ihm Tee mit Rum und zeigt ihm die Zukunft Deutschlands in einem Polsterstuhl, den sie von Kaiser Karl dem Großen geerbt haben will:
Siehst du, dort in dem Winkel steht
Ein alter Sessel, zerrissen
Das Leder der Lehne, von Mottenfraß
Zernagt das Polsterkissen.
Doch gehe hin und hebe auf
Das Kissen von dem Sessel,
Du schaust eine runde Öffnung dann,
Darunter einen Kessel –
Das ist ein Zauberkessel, worin
Die magischen Kräfte brauen,
Und steckst du in die Ründung den Kopf,
So wirst du die Zukunft schauen –
Eher noch: riechen, wie Heine in den folgenden Versen eindrücklich schildert. Denn das geheimnisvolle Möbelstück ist nicht das, was wir uns heute unter einem „Sessel” vorstellen! Nein: Dieses Ding ist noch im 19. Jahrhundert ein praktisches Schlafzimmer-Utensil für nächtliche menschliche Bedürfnisse ...
So also sieht Heinrich Heine die Zukunft seines Vaterlands, an dem er doch immer noch hängt. Sein Hamburger Verleger Julius Campe macht sich Sorgen, als er „Deutschland. Ein Wintermärchen“ zum ersten Mal liest. Er warnt den Schriftsteller in einem Brief: „Sie werden sehr für dieses Gedicht zu leiden haben!“ Campe ahnt, dass der Text zu radikal sein könnte. Er bittet Heine um einige Entschärfungen. Im Vorwort von „Deutschland. Ein Wintermärchen“ beklagt der Dichter denn auch, wie viel er auf Wunsch seines Verlegers umarbeiten und streichen musste. Und trotzdem wird Heines Werk bald nach seiner Veröffentlichung in Preußen verboten und beschlagnahmt. Man bezeichnet es als „Schmähschrift“ eines „heimatlosen Vaterlandsverräters”. Im Dezember 1844 erlässt der preußische König Friedrich Wilhelm IV. sogar einen Haftbefehl gegen Heinrich Heine. Der ist da natürlich längst wieder in Paris. Und dort lässt er sich nicht davon abhalten, die deutschen Zustände weiterhin genau im Blick zu behalten und in seinen Reimen gehörig zu kritisieren. Besonders drastisch macht er das in einem Gedicht, das im Vormärz zu einem regelrechten Kampflied der deutschen Arbeiterbewegung wird. Es heißt: „Die Schlesischen Weber“.
Zusammenfassung
In „Deutschland. Ein Wintermärchen“ beschreibt Heine auf satirische Art die politische Erstarrung Deutschlands zur Zeit der Restauration.
Das „Wintermärchen” bildet den Schluss der „Neuen Gedichte”, die 1844 bei Hoffmann und Campe erschienen. In dem Gedicht verarbeitete Heine die Eindrücke einer Deutschlandreise, die er 1843 nach zwölf Jahren in Paris unternahm.
Insbesondere kritisierte er den übertriebenen Militarismus Preußens und ahnt dessen Untergang voraus. Auch die katholische Kirche kommt bei Heine nicht gut weg.
„Deutschland. Ein Wintermärchen“ gilt als ein Meilenstein der politischen Dichtung des Vormärz.
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Richtige Antworten:
1. D) „Deutschland. Ein Wintermärchen“
2. A) Preußen
3. B) Pickelhaube
4. D) Hamburg
5. C) Restauration