Wie konnten die Deutschen das nur mitmachen? Bei der Frage denkt jeder sofort an die Zeit des Nationalsozialismus und die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden. In dem Jugendroman „Die Welle“ von Morton Rhue nimmt ein Geschichtslehrer an einer amerikanischen High School diese Frage seiner Schüler zum Anlass, ein Experiment zu starten. So etwas wie der Nationalsozialismus kann sich nicht wiederholen? Nach dieser Story wirst du darüber anders denken.
Ben Ross sitzt zuhause an seinem Schreibtisch, vor ihm liegen Unterrichtsmaterial und Hausaufgaben seiner Schüler. Doch er kann sich einfach nicht konzentrieren. Zu sehr beschäftigen ihn die Ereignisse der heutigen Geschichtsstunde. Er hat seiner Klasse einen Film über das Dritte Reich in Europa gezeigt, das letztlich den Zweiten Weltkrieg anzettelte. Und die Schüler waren natürlich entsetzt über das, was sie zu sehen bekamen – über die Grausamkeit der Nationalsozialisten sowie ihre Verbrechen an den Juden und Andersdenkenden. Wie die deutsche Bevölkerung das mitmachen konnte, wurde er gefragt. Und das war tatsächlich eine großartige Frage. Die Deutschen hätten doch etwas dagegen unternehmen müssen, haben seine Schüler eingewendet. Es war mühsam gewesen, den Schülern die Mechanismen zu erklären, die den Nazis bei ihrer Schreckensherrschaft halfen: Druck, Kontrolle sowie das Prinzip von Bestrafung und Belohnung hatten dabei eine wichtige Rolle gespielt. Doch Ben merkte, dass seine Erklärungsversuche seine Schüler nicht erreichten. Wie kann ich es ihnen besser begreiflich machen?, fragt er sich. Da kommt ihm plötzlich eine Idee: Er wird es seine Schüler erleben lassen – er wird ein Experiment starten! Eine Gemeinschaft will er gründen, die nach bestimmten Regeln funktionieren wird. Und sie brauchen ein Symbol, etwas, das ihre Gemeinschaft symbolisieren und vereinen wird. Ben nimmt seinen Bleistift und fängt an, auf seinem Block herumzukritzeln. Es dauert eine Weile, bis er zufrieden ist – doch dann hat er es. Er betrachtet das Symbol: eine wellenförmige Linie in einem Kreis. „Die Welle“, flüstert er vor sich hin und lächelt. Was für ein perfekter Name für sein Experiment.
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Jetzt runterladen!Der Nationalsozialismus und das Dritte Reich sind bis heute ein notwendiger Bestandteil des Schulunterrichts. Und wahrscheinlich stellen sich viele Lehrende die Frage: Wie kann ich dieses wichtige Thema so vermitteln, dass es meine Schülerinnen und Schüler erreicht? Wie können sie diese ungeheuerlichen Ereignisse zumindest im Ansatz verstehen?
Ein Geschichtslehrer namens Ron Jones fand im Jahr 1967 eine ungewöhnliche Antwort darauf. Er „gründete“ an einer High School im kalifornischen Palo Alto mit drei seiner Geschichtsklassen eine „Organisation“, die er „The Third Wave“ („Die Dritte Welle“) nannte. Die Schüler bekamen bestimmte Rollen zugewiesen und hatten sich neuen Verhaltensnormen zu unterwerfen, die streng durchgesetzt wurden. Der Slogan „Stärke durch Disziplin“ gehörte dazu, ebenso kurze „zackige“ Antworten – und ein neuer Gruß, der eine Welle symbolisierte.
Slogan Nummer zwei sollte die Stärke durch Gemeinschaft herausbilden. Und im dritten Schritt sollte diese Gemeinschaft Kraft und Einfluss durch gemeinsames Handeln gewinnen. Mit anderen Worten: Bestimmte Schüler wurden ausgewählt, um Regelverstöße in der Gruppe zu melden. Andere hatten den Auftrag, „Nichtmitglieder“ am Betreten des Klassenraums zu hindern. Und alle waren aufgerufen, neue „Mitglieder“ zu rekrutieren.
Allmählich aber regten sich Zweifel in Lehrer Jones. Einerseits hatte die Bewegung etliche vorherige Außenseiter aus ihrem Schneckenhaus gelockt, die nun eifrig mitmachten. Andererseits aber wurden Kritiker gemobbt und ausgegrenzt. Und: Jones hatte den Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, per Abstimmung das Experiment zu beenden. Aber alle stimmten fürs Weitermachen! Sie waren so begeistert vom neuen Gemeinschaftsgefühl und so stolz auf ihre „Dritte Welle“, dass ihnen der Drill und die vielen kleinen Unfreiheiten als notwendig und gut erschienen. Und: Die „Dritte Welle“ bekam immer mehr Zulauf! Hatten anfangs rund 90 Schüler*innen teilgenommen, waren es am Ende mehr als doppelt so viele. Sie hielten sich für einen Teil einer noch viel größeren, landesweiten Bewegung, die einen politischen Umsturz herbeiführen würde ...
Nach mehreren Tagen setzte Jones schließlich eine Schulversammlung an, für die er den angeblichen „Führer“ der „Dritten Welle“ ankündigte. Stattdessen aber erklärte er den Teilnehmenden, wie er sie manipuliert hatte, und zeigte ihnen Filmaufnahmen aus Hitlers „Drittem Reich“. Die begeisterten Anhänger der „Dritten Welle“ erkannten sich wieder: im direkten Vergleich mit den Jugendorganisationen von Nazi-Deutschland zwischen 1933 und 1945!
Seine bestürzenden Erfahrungen aus diesem Experiment fasste Ron Jones zunächst in einem Zeitungsartikel und einige Jahre später dann in dem Buch „No Substitute for Madness: A Teacher, His Kids, and the Lessons of Real Life“ („Kein Ersatz für Wahnsinn: Ein Lehrer, seine Kinder und die Lektionen des wirklichen Lebens“) zusammen. Die Geschichte wurde 1981 für das US-Fernsehen verfilmt. Und eben dieses Experiment inspirierte den US-amerikanischen Schriftsteller Morton Rhue (der eigentlich Todd Strasser heißt) noch im selben Jahr zu seinem Jugendroman „Die Welle“.
Im Roman heißt der Lehrer Ben Ross. Er behandelt in seiner Geschichtsstunde die Verbrechen der Nationalsozialisten in Deutschland und denkt über die Fragen der Klasse nach: Wie konnten die Deutschen dabei mitmachen? Wie konnten sie behaupten, sie hätten nichts von den Gewalttaten der Nazis gewusst? Lehrer Ross überlegt und beschließt dann, es die Schüler selbst ausprobieren zu lassen. Sie sollen die Mechanismen einer machtvollen Gruppendynamik selbst spüren. Er ahnt jedoch nicht, wie erschreckend gut diese Mechanismen greifen werden.
Ross führt drei Grundprinzipien ein: „Macht durch Disziplin“, „Macht durch Gemeinschaft“ und die „Macht durch Handeln“. Im nächsten Schritt führt er ein Logo und einen Gruß ein: eine wellenförmige Bewegung mit dem Arm. Ross selbst inszeniert sich als Anführer der Bewegung und stellt neue Verhaltensregeln auf. Jeder Antwort oder Frage müssen die Schüler nun ein „Mr. Ross“ voranstellen und natürlich vorher vom Stuhl aufstehen. Wer die neuen Regeln befolgt, wird belohnt. Wer nicht, wird vor der ganzen Klasse angeblafft. Und es funktioniert: Morton Rhues Romanfiguren ordnen sich der „Welle“ unter und passen sich an. Die meisten von ihnen befolgen die Regeln nicht nur widerspruchslos, sondern teils mit echter Begeisterung! Zum Beispiel Robert Billings, der bisherige Außenseiter. Er darf sich nun als ein anerkanntes Mitglied der Gemeinschaft fühlen.
Schnell greift die Welle auf die ganze Schule über. Doch während viele der neuen Bewegung begeistert beitreten, werden andere ausgegrenzt, drangsaliert oder gar verprügelt. Freundschaften wie die zwischen Laurie – der kritischen Redakteurin der Schülerzeitung – und dem begeisterten Mitläufer David werden auf eine harte Probe gestellt. Die Bewegung wird immer dynamischer und totalitärer, die Mitgliedschaft wird zum Zwang, und dieser wird nicht mehr hinterfragt.
Die Lage spitzt sich so weit zu, dass andere Lehrer und der Schuldirektor Ross zum Aufhören bewegen müssen. Ja, auch er hat sich in seinem Experiment verloren und ist dem Kult um seine Person verfallen. Letztlich konfrontiert er die Schüler jedoch mit der unmissverständlichen Wahrheit. Bei einer Versammlung aller Welle-Mitglieder kündigt er an, ihnen nun den wahren Anführer der Welle vorzustellen. Dann zeigt er ihnen auf einer großen Leinwand ein Bild. Darauf zu sehen ist: Adolf Hitler. „Ihr wärt alle gute Nazis gewesen“ – so lautet sein hartes Urteil. Und den Schülern wird bewusst, wie leicht sie der Faszination dieser Gruppe und den Mechanismen von Macht, Kontrolle und Gruppendruck erlegen sind. Die Welle hat ihnen allen vor Augen geführt, dass sie selbst nicht immun sind gegen jene Methoden, derer sich totalitäre Systeme bis heute bedienen.
Morton Rhue deckt in seinem Roman die psychologischen Mechanismen auf, nach denen Ideologien und totalitäre System funktionieren. Sie üben Druck durch die Gemeinschaft aus, bestrafen abweichendes Verhalten und belohnen unbedingten Gehorsam. Diese abstrakt klingenden Prinzipien werden mithilfe des Experiments für die Schüler unmittelbar nachvollziehbar.
Eine weitere Verfilmung aus dem Jahr 2008 denkt dieses Sozialexperiment auf drastische Weise zu Ende. Der Film mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle spielt im heutigen Deutschland, gedreht wurde unter anderem in Brandenburg und Berlin. Der deutsche Film endet anders als die US-Filmvorlage, nämlich mit dem Selbstmord des Schülers Tim (Frederick Lau). Dieser Junge war immer der Außenseiter gewesen, in der gleichmachenden Gemeinschaft aber war er ein anerkanntes Mitglied und hatte Erfolg. Er hat am meisten von der „Welle“ profitiert und nach ihrer Auflösung wird er von Wut und purer Verzweiflung übermannt.
Drehbuchautor Dennis Gansel hielt sich bei seiner Adaption enger an die Buchvorlage von Ron Jones und legte noch stärkeren Wert auf die verführerische Anziehungskraft einer solchen Bewegung.
Wie manipulierbar ist der Mensch? Kann er sich dem Druck der Masse und der Faszination, die eine Gemeinschaft auf den Einzelnen ausüben kann, entziehen? Solche Grundfragen erörtert Morton Rhues Jugendroman – und ist damit hochaktuell. Denn „Die Welle“ ist nicht nur ein Buch über die Methoden und Mechanismen zur Zeit des Nationalsozialismus. Es ist ganz grundsätzlich ein Buch über die Verführbarkeit des Menschen. Der Mensch ist und bleibt verführbar, überall und zu allen Zeiten. Bildung und Aufklärung tragen dazu bei, den Menschen weniger manipulierbar zu machen – widerstandsfähiger, kritischer und mutiger. Sie können ihn befähigen, für die eigene Meinung einzustehen und dem Sog der Masse zu widerstehen.
Das Buch zeigt aber auch, dass Aufklärung ein Prozess ist. Ein unendlicher Prozess des Erinnerns und der Sensibilisierung, der nie abgeschlossen ist. Schließlich kennen ja auch die Schüler in dem Roman die Geschichte des Dritten Reichs und folgen dennoch ganz ähnlichen Methoden – besonders dann, wenn sie glauben, sie hätten Vorteile dadurch. Und beim Lesen stellt sich notgedrungen die Frage: Wie hätte ich selbst mich verhalten?
Morton Rhue hat in seinem Roman sehr anschaulich die Mechanismen aufgezeigt, durch die der Mensch verführbar wird. Er legt dabei den Fokus auf die „Täter“ und die Entstehung von Diktaturen. Die britische Autorin Judith Kerr widmete sich dagegen einer anderen Perspektive: In ihrem Roman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ wirft sie einen Blick auf die Opfer des Nationalsozialismus.
Zusammenfassung
Das Jugendbuch „Die Welle“ (englisch „The Wave“) von Morton Rhue erschien 1981 in den USA sowie 1984 in deutscher Übersetzung von Hans-Georg Noack beim Ravensburger Verlag.
Im Roman startet Highschool-Lehrer Ben Ross mit seinen Schülern ein Sozialexperiment, um ihnen die Mechanismen aufzuzeigen, die zur Entstehung der Hitlerdiktatur geführt haben.
Die Story basiert auf einer wahren Begebenheit: 1967 hatte ein Geschichtslehrer namens Ron Jones an einer High School im kalifornischen Palo Alto ein Experiment durchgeführt, das er „The Third Wave“ nannte. Seine Erfahrungen fasste er in dem Buch „No Substitute for Madness: A Teacher, His Kids, and the Lessons of Real Life“ zusammen. Es wurde 1981 für das US-Fernsehen verfilmt; Rhues Roman basiert auf dem Drehbuch zum Spielfilm.
Autor Morton Rhue (eigentlich Todd Strasser) zeigt mit seiner Geschichte auf, wie totalitäre Systeme funktionieren: Sie üben Druck durch die Gemeinschaft aus, bestrafen abweichendes Verhalten und belohnen unbedingten Gehorsam.
„Die Welle“ ist nicht nur ein Buch über die Methoden und Mechanismen zur Zeit des Nationalsozialismus. Es ist ganz grundsätzlich ein Buch über die Verführbarkeit des Menschen.
Eine Verfilmung aus dem Jahr 2008 mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle spielt im heutigen Deutschland. Der Film endet anders als die Buchvorlage, nämlich mit dem Selbstmord des Schülers Tim (Frederick Lau), der in der Welle seine Außenseiterrolle hatte überwinden können.
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Richtige Antworten:
1. A) 1981
2. D) USA
3. B) Reales Sozialexperiment
4. C) Schulklasse verfällt in einem Experiment fanatischer Ideologie
5. D) Faschistische Ideologien können sich jederzeit und überall durchsetzen