Am 26. April 1986 explodierte im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl ein Reaktor. Die Katastrophe führte der Welt die Gefahren der Kernenergie vor Augen. Und die deutsche Jugendbuch-Autorin Gudrun Pausewang fragte sich: Was wäre, wenn eine solche Katastrophe in Westdeutschland passiert? Ein Jahr später erschien ihr Anti-Atomkraft-Roman „Die Wolke“. Und er prägte eine ganze Generation.
Das Alarmsignal schrillt in voller Lautstärke durch die Schule. Wie von einem gewaltigen Strom mitgerissen, rennen die Mädchen und Jungen aus den Klassenzimmern und den breiten Schulflur entlang. Es wird geschrien, gestoßen und gedrängelt. Mittendrin die 14-jährige Schülerin Janna-Berta. Schnell wird ihr klar: Das hier ist kein Probealarm. Und schon schnappt Janna-Berta die ersten beunruhigenden Begriffe auf: „Reaktorunglück“, „Strahlung“, „Super-GAU“ und den Namen Grafenrheinfeld hört sie in dem Gewirr aufgeregter Stimmen. Den Namen jenes Ortes, in dem das Atomkraftwerk steht und der keine 90 Kilometer von Schlitz entfernt liegt – ihrer Heimatstadt in Hessen. Janna-Berta drängelt sich an ihren Mitschülern vorbei. Sie muss so schnell wie nur möglich nach Hause! Ihre Eltern sind verreist, aber zu Hause wartet ihr kleiner Bruder Uli, der in die zweite Klasse geht. Doch es herrscht das reinste Chaos. Die Schüler drängen zu den Bushaltestellen. Die Vierzehnjährige blickt sich verzweifelt um, aber ihr Bus ist nirgends zu sehen. Soll sie zu Fuß gehen? Nein, bis zu ihrem Wohnort Schlitz ist es viel zu weit! Aber sie hat Glück: Ein älterer Mitschüler, der schon ein Auto hat, nimmt sie mit. Werden sie es schaffen, bevor die radioaktive Wolke sie einholt? Zu diesem Zeitpunkt weiß Janna-Berta noch nicht, dass ihr kleiner Bruder nur noch wenige Stunden zu leben hat – und dass sie ihre Eltern nie wiedersehen wird ...
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Jetzt runterladen!Gudrun Pausewang kommt in ihrem Jugendroman „Die Wolke“ gleich zur Sache. Sie hält sich nicht mit langen technischen Erklärungen darüber auf, wie ein Reaktorunglück entsteht. Nein, diese Geschichte beginnt unmittelbar mit dem GAU – dem größtmöglich anzunehmenden Unfall. In der Schule der 14-jährigen Janna-Berta wird Alarm geschlagen. Schnell wird allen klar: Etwas Schlimmes ist geschehen. Und es hat mit dem nahegelegenen Atomkraftwerk Grafenrheinfeld zu tun. Eine radioaktive Wolke treibt auf Schlitz zu, die Heimatstadt Janna-Bertas und ihrer Familie. Die Schülerin denkt mit Schrecken an die Katastrophe in Tschernobyl und ihre Folgen – die reale Katastrophe lässt das fiktive Unglück in Pausewangs Roman noch greifbarer werden. Was folgt, sind dramatische Szenen wie aus einem Katastrophenfilm. Janna-Berta schafft es, sich trotz der zunehmenden Panik auf den Straßen nach Hause zu ihrem Bruder Uli durchzuschlagen.
Die Mutter gibt ihnen telefonisch den dringenden Rat, nach Hamburg zu ihrer Tante zu fahren. Weil die Nachbarn schon alle geflüchtet sind, versuchen die Kinder, mit ihren Fahrrädern zum Bahnhof zu kommen. Doch Uli stürzt – und wird von einem Auto überfahren! Janna-Berta selbst gerät in den radioaktiven Regen, als sie in ihrem Schockzustand den toten Bruder begraben will. Schnell bricht die Strahlenkrankheit bei ihr aus. Sie kommt in ein provisorisches Krankenhaus. Die Haare fallen ihr aus und in den Fernsehnachrichten sieht sie das ganze Ausmaß der Katastrophe. Verzweifelt versucht Janna-Berta, etwas über das Schicksal ihrer Angehörigen herauszubekommen. Später wird sie von ihrer Tante Helga erfahren, dass ihre Eltern und ihr jüngster Bruder Kai tot sind. Die Tante nimmt die Waise mit nach Hamburg.
Auch dort ist nichts mehr, wie es war. Die Stadt ist von Evakuierten überfüllt, die Preise für unverseuchte Lebensmittel explodieren, Strahlenkranke werden ausgegrenzt. Dennoch will ihre Tante möglichst schnell zu einem „normalen“ Leben zurückkehren. Janna-Berta möge ihren kahlen Kopf doch bitte unter einer Mütze verstecken, verlangt sie. Und wenn die Großeltern aus dem Urlaub zurückkehren, sollen sie nicht erfahren, dass ihre Eltern und ihre jüngeren Brüder tot sind ...
Von ihrer anderen Tante, Almut, hört Janna-Berta eine furchtbare Geschichte: An dem Morgen, an dem sich der Störfall ereignete, habe das Militär die innerste Sperrzone abgeriegelt und jeden erschossen, der sie verlassen wollte. Weil, so die Begründung, die Menschen so verstrahlt gewesen seien, dass sie eine Gefahr für andere gewesen wären. Und weil sie sowieso keine Überlebenschance gehabt hätten. Vermutlich ist auch Janna-Bertas Vater dort gestorben ...
Anders als Tante Helga engagiert sich Almut für Katastrophenopfer und nimmt auch die junge Waise bei sich auf. Als die Sperrzone 3 aufgehoben wird, in der Schlitz lag, fährt Janna-Berta nach Hause zurück. Dort findet sie ihre Großeltern, die aus dem Urlaub zurückgekehrt sind. Die beiden wissen noch nichts vom Tod der Eltern und Brüder. Und zum Entsetzen Janna-Bertas mokiert sich ihr Großvater auch noch über die „unnötige Aufregung“ um dieses „Großkatastrophenmärchen“. Da nimmt Janna-Berta die Mütze vom Kopf. Und die ganze schreckliche Wahrheit bricht aus ihr heraus.
Gudrun Pausewangs Jugendroman „Die Wolke“ erschien 1987. In den Achtzigerjahren beherrschte der Kalte Krieg das politische Klima. Die Welt erlebte mit Schrecken das atomare Wettrüsten zwischen den Großmächten USA und Sowjetunion. Und dann, 1986, führte die nukleare Katastrophe im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl den Menschen die Gefahren der Atomkraft noch einmal ganz anders vor Augen: Bei der Explosion wurde radioaktives Material in die Atmosphäre geschleudert, und eine radioaktive Wolke zog von der Ukraine bis nach Westeuropa. Millionen litten unter den Folgen der freigesetzten Strahlung.
In dieser Zeit wurden die kritischen Stimmen gegen Atomwaffen und Atomenergie immer lauter. Ein Jahr nach Tschernobyl erschien der Jugendroman „Die Wolke“ von Gudrun Pausewang. Die deutsche Autorin hatte schon vorher in politischen Jugendbüchern vor den Folgen atomarer Katastrophen gewarnt. Zum Beispiel in ihrem Buch Die letzten Kinder von Schewenborn, in dem sie das Szenario eines Atomkriegs entwarf. Pausewang war es wichtig, auch Kinder und Jugendliche auf atomare Gefahren aufmerksam zu machen. Und das tat sie, direkt und unmissverständlich.
Ihrem Jugendroman „Die Wolke“ stellte sie eine Zeitungsanzeige voran, die ein Freundeskreis um Inge Aicher-Scholl vier Wochen nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl in der Wochenzeitung „Die Zeit“ geschaltet hatte. Inge Aicher-Scholl war die Schwester der vom NS-Regime hingerichteten Antifaschisten Sophie und Hans Scholl. In der Anzeige heißt es:
„Mag sein, die deutschen Atomkraftwerke sind doppelt so sicher wie die russischen. Dann passiert es in acht Jahren statt in vier. Und Brokdorf liegt nur 60 km von Hamburg, Wackersdorf nur 130 km von München, Biblis nur 50 km von Frankfurt.“
Gudrun Pausewang war eine Autorin der klaren Worte. Sie wollte ihre Leser nicht schonen. Schließlich würden gerade sie, also Kinder und Jugendliche, ein Leben lang unter den Folgen einer nuklearen Katastrophe leiden müssen. Aber nicht alle hießen ihre deutliche Kritik an der Atomenergie gut. Die Schonungslosigkeit und Dramatik, mit der sie die Folgen einer Reaktorkatastrophe in Deutschland schilderte, hielten ihre Kritiker für Panikmache. Und die Atomkraft war politisch gewollt.
Dagegen formierte sich erstmals in den 1970er-Jahren in Deutschland lautstarker Protest. Mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 bekam die Anti-Atomkraft-Bewegung ein Gesicht im Parlament. Und Gudrun Pausewangs Roman wurde Pflichtlektüre – für Atomkraftgegner und auch an den Schulen mehrerer Bundesländer. Aber als die Autorin 1988 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet werden sollte, gab es Widerstand aus der regierenden CDU und der Atomkraftlobby. Den Preis bekam sie trotzdem.
Heute ist der Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland vollzogen. Die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima hatte 2011 zu einem Kurswechsel in der Atompolitik der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung unter Angela Merkel geführt – sicher auch ein spätes Erbe der unermüdlichen Atomkraftkritikerin Pausewang. Denn die Kinder, die sie nach 1987 mit ihrem Anti-Atomkraft-Roman sensibilisierte, haben gut zwei Jahrzehnte später den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen.
Gudrun Pausewang hat diese Generation durch ihre Bücher mitgeprägt. Vor allem dadurch, dass sie ihre Botschaft an Kinder und Jugendliche adressierte: Sie sollten über alles informiert sein, um sich selbst eine Meinung zu bilden und die Gesellschaft entsprechend mitzugestalten. Dieser Aufruf zu kritischem Denken und zur politischen Teilhabe ist wohl Pausewangs größtes Vermächtnis.
„Die Wolke“ trug dazu bei, das ökologische und politische Bewusstsein einer ganzen Generation zu schärfen. Wenn heutige Jugendbewegungen wie Fridays for Future ihren Protest auf die Straße tragen, spielen die Gefahren der Atomenergie zwar eher eine Nebenrolle. Die grundsätzliche Kritik an politischen Entscheidungen und umweltschädlichen Technologien, die zu Lasten späterer Generationen gehen, aber ist geblieben.
Ein anderes Jugendbuch, das von einem jungen Menschen in einer noch größeren Extremsituation handelt, ist der Roman „Der Junge im gestreiften Pyjama“. Der irische Autor John Boyne nähert sich der größten Katastrophe der Menschheit aus dem Blickwinkel eines Kindes.
Zusammenfassung
Im Roman „Die Wolke“ geht es um die Folgen einer Reaktorkatastrophe und um den Überlebenskampf eines jungen Mädchens. Die 14-jährige Janna-Berta versucht mit ihrem kleinen Bruder Uli vor der radioaktiven Wolke zu fliehen und erlebt das Grauen.
Das Buch erschien 1987 bei Maier Ravensburg und ist auch als Taschenbuch erhältlich (2006, Ravensburger Verlag). Es wurde zum Anti-Atomkraft-Roman schlechthin und trug dazu bei, das ökologische und politische Bewusstsein einer ganzen Generation zu schärfen.
Die Botschaft des Romans richtet sich ganz bewusst an junge Leser: „Die Wolke“ ist eine Aufforderung an Kinder und Jugendliche, genau hinzusehen und politisch mitzudiskutieren – ein Vermächtnis der Autorin, das noch heute nachwirkt.
Eine Verfilmung des Romans entstand im Jahr 2006 unter der Regie von Gregor Schnitzler. In den Hauptrollen sind Paula Kalenberg als Hannah, Hans Laurin-Beyerling als ihr kleiner Bruder Uli, Franz Dinda als ihr Freund Elmar, Carina Wiese als ihre Mutter Paula und Gabriela Maria Schmeide als Tante Helga.
Der Film im Stil eines Katastrophenfilms ist deutlich weniger politisch angelegt und dreht sich in großen Teilen um die Jugendliebe zwischen Hannah (die hier bereits 16 Jahre alt ist) und ihrem Mitschüler Elmar. In der Romanvorlage ist Elmar hingegen ein ehemaliger Klassenkamerad der Heldin, der infolge der Katastrophe Selbstmord begeht.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. B) Die Wolke
2. A) 1987
3. D) Atomare Verseuchung
4. A) Zunehmende Kritik an der Atomenergie
5. C) Schonungslose Schilderung der Folgen eines Reaktorunfalls