Es war das Sexsymbol des 17. Jahrhunderts: das Milchmädchen. Und dafür musste es nicht einmal seine Hüllen fallen lassen. Warum wir heute die versteckte Erotik in Jan Vermeers Milchmädchen-Gemälde nicht mehr erkennen und nur eine einfache Dienstmagd sehen, die ihrer Arbeit nachgeht, erfährst du in dieser Story.
Der Wäscheberg wächst und wächst. Und der Haushalt, um den sie sich kümmern muss, ist kaum zu bewältigen. Acht Kinder, der Hausherr, seine alte Schwiegermutter und dann natürlich noch die Dame des Hauses – da kommt so einiges zusammen. Ihre Hände sind von der Seife und dem Wasser schon ganz rau und rissig, ihr Rücken tut weh vom Schleppen nasser Wäsche. Als Dienstmagd hat sie wahrlich kein leichtes Leben. Und dann muss sie sich ja auch noch um die Küche kümmern. Brot hat sie schon vom Bäcker geholt. Wenn der sie nur nicht immer so lüstern anschauen würde. Langsam gießt sie die Milch in die Schale, um einen Brei für die Kinder zu machen. Und sie denkt nach – über ihr hartes Los und das Leben, das noch vor ihr liegt.
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Jetzt runterladen!Jan Vermeer van Delft schuf das Ölgemälde Dienstmagd mit Milchkrug – auch bekannt als Das Milchmädchen (engl. The Milkmaid) – wahrscheinlich in den Jahren zwischen 1658 und 1660. Monatelang hatte er, wie es so seine Art war, vor der Leinwand gesessen und akribisch an seinem Werk gearbeitet. In jeder Falte des Gewandes des Milchmädchens zeigt sich Vermeers Detailversessenheit. Deutlich ist zu erkennen, dass ihr gelbes Mieder aus einem gröberen Stoff gefertigt ist als der rote Rock und die blaue Schürze. Man erkennt die unterschiedliche Beschaffenheit der Textilien, möchte am liebsten zugreifen und fühlen. Hier rau, dort weich.
Überhaupt hat man den Eindruck, als hätte der Maler besonderes Augenmerk auf die unterschiedlichen Oberflächen und Texturen gelegt. Detailgetreu und mit fast fotografischem Realismus hat er alles festgehalten. Knuspriges Brot mit dicker Kruste in einem geflochtenen Körbchen, Tonwaren auf einem glatten Tischtuch, die massive Fensterbank aus Holz, zersprungenes Glas am Fenster und Delfter Fliesen als Bodenleiste. Vermeers Heimatstadt Delft war schon zu seiner Zeit für blau bemalte Fliesen und das sogenannte Delfter Porzellan bekannt.
Still wirkt die Dienstmagd, völlig in sich und ihr Tun versunken. Mit andächtiger Ruhe und einer gewissen Demut geht sie ihrer Tätigkeit nach. Sie gießt gerade die Milch aus einem Krug in ein anderes Gefäß. Mehr passiert nicht, die Milch fließt, ansonsten ist alles ruhig. Die Zeit scheint still zu stehen. Fast meint man, den Putz von den Wänden rieseln zu hören, der sich schon in kleinen Bröckchen am Boden sammelt. Alles wirkt ein bisschen schäbig. Die Wand ist kahl, rissig, schlecht verputzt. Die Fensterscheiben sind trüb. Und doch fällt noch genug Licht herein, um die Dienstmagd zu beleuchten, die eigentlich nur macht, was sie immer macht: ihre ganz gewöhnliche Arbeit. Und doch steckt hinter dieser harmlosen Abbildung einer gewöhnlichen Magd noch viel, viel mehr...
Auch wenn auf Jan Vermeers Gemälde nur eine einfache Dienstmagd dargestellt ist, so hat sie doch eine ungeheure Präsenz und Ausstrahlung. Ihre Ärmel hat sie hochgekrempelt, und die blasse Haut ihrer Unterarme setzt sich deutlich von den gebräunten, stets beanspruchten Händen ab. Die Dienstmagd wirkt robust, patent, geerdet – als könne sie kräftig zupacken. Und genau das war ja von einer Magd zu jener Zeit gefordert. Sie war bestimmt kein zartes Pflänzchen.
Während wir uns beim Betrachten des Bildes heute in der feinen Malerei Vermeers und seiner Detailverliebtheit verlieren, fiel seinen Zeitgenossen noch etwas ganz anders auf. Für den Betrachter des 17. Jahrhunderts gingen von Vermeers Milchmädchen-Gemälde nämlich eindeutige erotische Botschaften aus.
Dienstmägde und besonders Milchmädchen galten damals als Sexobjekte. Zahlreiche erotische Zeichnungen und Gemälde des 17. Jahrhunderts zeigen teilweise explizit, was „Mann“ sich so alles von den Milchmädchen wünschte. Vermeer blieb da weitaus subtiler. Seine Hinweise und Symbole wurden damals jedoch trotzdem sofort verstanden.
Bei dem merkwürdigen Kästchen, das der Betrachter des Bildes auf dem Boden entdeckt, handelte es sich um ein Gefäß, das mit Kohle gefüllt wurde und die Füße wärmen sollte. Eigentlich ganz harmlos. Aber in den Bildern jener Zeit symbolisierte es das weibliche Verlangen – wärmte es doch nicht nur die Füße der Frau, sondern auch noch alles andere unter ihrem langen Rock. Auch der Milchkrug, in unseren Augen einfach nur ein Gefäß, hat ebenfalls eine doppelte Bedeutung. Wie sich die Zeiten doch ändern! So symbolisierte zu Vermeers Zeit der gekippte Krug, dessen Öffnung zum Betrachter hin zeigt, nämlich das weibliche Geschlecht.
Auch die Bemalung der Delfter Fliesen an der Bodenleiste ist eindeutig zweideutig. Amor ist hier zu sehen, wie er seinen Bogen spannt – bereit zum Abschuss. Und auf der nächsten Fliese ist ein Wandersmann mit seinem Stock zu erkennen. Möglicherweise ein Hinweis darauf, dass der Geliebte des Milchmädchens weitergezogen und die Magd nun für einen anderen frei ist. Die Malerei auf der dritten Fliese ist nicht zu erkennen – das Ende ihrer Liebesgeschichte ist wohl noch ungewiss.
Jan Vermeer (auch bekannt als Johannes Vermeer) widmete sich in mehreren seiner Gemälde einem ähnlichen Motiv: Er stellte eine Frau in einem kleinen Innenraum dar. Und während er den Betrachter so in das Innere der holländischen Bürgerhäuser jener Zeit führte, erzählte er auch von den Gefühlen und Tugenden der Frauen. Durch kleine, intime Szenen aus dem Alltag setzte er dem einfachen Leben – dem Alltäglichen – ein Denkmal.
Auch die Dienstmagd mit Milchkrug ist eine einfache Frau. Dennoch strahlt sie etwas Edles aus, wenn sie da so aufrecht wie eine Statue im Lichteinfall des Fensters steht. Betont wird dieser Eindruck noch von der poetischen Ruhe, die sie umgibt, aber auch von den sinnlichen Farben, die sie kleiden. Rot, blau und gelb. Besonders das leuchtende Kornblumenblau ihrer Schürze sticht hervor. Vermeer benutzte dazu Ultramarin, das teuerste Pigment, das es im 17. Jahrhundert gab. Und so kleidete er eine simple Dienstmagd im übertragenen Sinne in etwas Edles und Kostbares.
Das Tageslicht, das durch das Fenster fällt, bringt das Blau der Schürze zum Leuchten und fällt in einem hellen Strahl direkt auf die zweideutigen Fliesen und den Fußwärmer. Liebe und Sinnlichkeit werden so ebenfalls in den Vordergrund gerückt. Vermeers Lichteffekte sind dabei aber immer subtil, das Spiel zwischen Hell und Dunkel ist nicht so dramatisch und theatralisch wie etwa in den Gemälden von Rembrandt, dem anderen großen Barockmaler der Niederlande.
Obwohl das Milchmädchen nur ein kleines Format hat, gehört es zu den ganz großen Werken, die im Amsterdamer Rijksmuseum gezeigt werden. Dort befindet es sich seit 1908, nachdem es in den Jahrhunderten zuvor einige Male den Besitzer gewechselt hatte. Es ist eines der bekanntesten und beliebtesten Gemälde der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts geworden und schmückt als Kunstdruck oder Leinwandbild sicherlich so manches Zuhause. Vielleicht ist nur noch ein anderes Meisterwerk von Vermeer bekannter: Das Mädchen mit dem Perlenohrring.
Jan Vermeer hätte diesen Ruhm bestimmt genossen, hat er doch sein Lieblingsgemälde Die Malkunst genau diesem Thema gewidmet – dem Ruhm des Malers und seiner Kunst.
Zusammenfassung
Jan Vermeer malte mit unglaublicher Akribie und war so detailversessen, dass jede Falte im Gewand ebenso gut zu erkennen ist wie ein kleiner, schiefer Nagel in der Wand.
Mit Symbolen und Hinweisen gab Vermeer dem Gemälde einen erotischen Unterton. Vermeers Zeitgenossen verstanden die sexuellen Anspielungen sofort, heute sind sie auf den ersten Blick nicht mehr zu erkennen.
Vermeer malte oft Innenräume mit Frauen – er blickte zugleich in die Häuser seiner Zeit wie auch in das Innenleben seiner Protagonistinnen.
Das Gemälde Dienstmagd mit Milchkrug gehört zu den beliebtesten Werken des Amsterdamer Rijksmuseums und der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts.
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Richtige Antworten:
1. B) Rijksmuseum, Amsterdam
2. A) Ultramarin
3. C) Jan Vermeer
4. C) Porzellan
5. D) Frauen in Innenräumen