Stell dir eine Gruppe von Jungen vor, die auf einer einsamen Tropeninsel strandet. Dort sind die Jungs völlig auf sich allein gestellt, fernab der Zivilisation und es gibt weder Erwachsene noch Regeln. Wie das wohl ausgehen wird? Der britische Autor William Golding hat in seinem Jugendbuch „Herr der Fliegen“ dieses Szenario weitergedacht – und es kommt schlimmer, als man ahnt!
Die Sonne versinkt langsam am Horizont und taucht die paradiesische Tropeninsel in rötliches Licht. Das Meer rauscht, und der zwölfjährige Ralph leckt sich über die salzigen Lippen. Es ist sein erster Abend auf dieser Insel – doch er ahnt bereits, dass noch viele weitere folgen werden. Ralph schaut zu den anderen Jungen, die mit ihm den Flugzeugabsturz überlebt haben. Ihre Kleidung ist zerschlissen, ihre Gesichter sind gerötet vom Sonnenbrand. Sie blicken erwartungsvoll und mit großen Augen zu ihm hinauf. Wird er ihr Anführer sein? Ralph hat in das Muschelhorn geblasen, das er am Strand gefunden hat – dies ist von nun an das vereinbarte Signal, sich hier zu versammeln. Doch es braucht mehr, wenn sie hier bis zu ihrer Rettung überleben wollen – sie brauchen Regeln. „Also“, beginnt Ralph, „wir sind auf einer Insel. Wir waren oben auf dem Berg und haben überall herum nur Wasser gesehen. Keine Häuser, kein Rauch.“ Ralph macht eine Pause, lässt seine Worte wirken. „Aber es gibt Schweine. Also werden wir Jäger bestimmen, die für uns Fleisch beschaffen. Und noch was …“ Er nimmt die Muschel von den Knien und mustert noch einmal die sonnenverbrannten Gesichter der Jungen. Dann sagt er: „Es gibt keine Erwachsenen hier. Wir müssen selbst auf uns aufpassen.“
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Jetzt runterladen!Was bleibt vom Menschen, wenn gesellschaftliche Normen und Regeln nicht mehr gelten? Gilt dann allein das Recht des Stärkeren? Wenn die dünne Schicht der Zivilisation aufbricht, was kommt dann darunter zum Vorschein? Das Böse vielleicht? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der englische Schriftsteller William Golding in seinem Werk Herr der Fliegen aus dem Jahr 1954. Fragen, die vermutlich so alt sind wie die Menschheit selbst. Neu war allerdings, dass diese Fragen über die Natur des Menschen in einem Jugendroman behandelt wurden.
Und dann waren die Protagonisten in Goldings Roman ausgerechnet Kinder. Und die verlieren ihre Unschuld schnell. Sehr schnell sogar. Denn die Gruppe von Schuljungen, die auf einer verlassenen Insel strandet, verfällt immer mehr der Wildheit und Barbarei. Die Kinder vergessen alte Werte, sie vergessen ihre Erziehung, ihre Menschlichkeit und kämpfen mal mit-, mal gegeneinander um Macht und um die wenigen Ressourcen auf der Insel – und das mit teils tödlichem Ausgang.
Golding verfasste den Roman nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Erfahrungen, die er dort als Marineoffizier machen musste, hatten sein Menschenbild zutiefst erschüttert. Im Krieg hatte er all die Grausamkeiten gesehen, zu denen der Mensch fähig ist. Und dies verarbeitete er in seinem Roman Herr der Fliegen. Er sagte über das Buch: „Es ist der Versuch, die Mängel der menschlichen Gesellschaft auf die Mängel der menschlichen Natur zurückzuführen.“
Golding glaubte an das Böse im Menschen. Für ihn war jeder Mensch von Natur aus zu Gewalt und Grausamkeit fähig – dazu braucht es bloß drastische Bedingungen und den Zusammenbruch der Ordnung. Es ist diese harte Botschaft, die Herr der Fliegen zu weit mehr macht als einem Jugendbuch. Und William Golding erhielt unter anderem dank dieses literarischen Meisterwerks 1983 den Nobelpreis für Literatur.
Ein Atomkrieg ist ausgebrochen und ein Evakuierungsflugzeug mit Kindern an Bord stürzt über der Südsee ab. Dies ist die Szene, mit der das Buch Herr der Fliegen beginnt. Und der Leser ist sofort mittendrin. Inmitten einer Gruppe von Jungen, die diesen Absturz überlebt hat. Die Kinder sind allein, gestrandet auf einer unbewohnten Insel, ohne Erwachsene und ohne zu wissen, ob jemand zu ihrer Rettung kommt. Sie versuchen, mit der neuen Situation zurechtzukommen und zu überleben. Der zwölfjährige Ralph wird zum Anführer gewählt, doch es dauert nicht lange, bis es zu Auseinandersetzungen mit dem Eliteschüler Jack und dessen Freunden kommt.
Vorerst bilden sich zwei Gruppen. Unterstützt von seinen Freunden Piggy und Simon macht sich Ralph daran, das gemeinsame Überleben zu organisieren. Mithilfe von Piggys Brille gelingt es den Jungen, Feuer zu machen. Aufgaben werden verteilt: Hütten müssen gebaut und Nahrung muss beschafft werden, und das Signalfeuer auf einem Berg muss immer am Brennen gehalten werden, damit vorbeifahrende Schiffsbesatzungen auf die Gestrandeten aufmerksam werden. Aber Jacks Gruppe zeigt wenig Lust auf derlei Arbeiten. Sie streunen lieber mit Messern und Speeren bewaffnet durch die Urwälder, in denen wilde Schweine leben. Gut, auch die Schweinejagd trägt zum Überleben bei. Aber Jack entwickelt sich mehr und mehr zum Tyrannen. Er ärgert und schlägt schwächere Jungen, vor allem auf Piggy hat er es abgesehen.
Überhaupt beginnt die anfängliche Disziplin rasch zu schwinden. Und dann greift ein Gerücht um sich: Ein Monster, das nur „das Tier“ genannt wird, soll auf der Insel sein Unwesen treiben. Immer mehr Kinder verfallen diesem Wahn, der sich zu bestätigen scheint, als in der grünen Wildnis eine unheimliche weiße Erscheinung gesichtet wird. Er ist ein abgestürzter Fallschirmspringer, dessen Leiche an einem Berg zwischen Felsen liegt. Der Wind bläht den Fallschirm auf und bewegt ihn: Das lässt ihnin den Augen der ängstlichen Kinder wie ein „Monster“ aussehen.
Bald ersinnen sie skurrile Rituale, die das Monster besänftigen sollen. Ein Schweinekopf wird als Opfergabe auf einen Pfahl gespießt. Simon gibt dem verwesenden, von Schmeißfliegen umschwirrten Schweinekopf den Namen „Der Herr der Fliegen“. Und als er mit diesem Götzenbild in einen wahnhaften Dialog tritt, glaubt er es spöttisch sagen zu hören: Die Jungen könnten „das Tier“ nicht erlegen – denn das Tier sei in ihnen, in jedem von ihnen selbst. Was folgt, ist eine Spirale der Gewalt, die für einige Kinder tödlich enden wird.
Jacks Gruppe, die sich „Die Jäger“ nennt, trennt sich von den anderen Kindern und bezieht ein neues Lager. Und sie bekommt immer mehr Zulauf. Irgendwann halten neben einigen der kleineren Jungen nur noch Piggy, Simon und die Zwillinge Sam und Eric – die wegen ihrer identischen Verhaltensweisen von allen nur „Samneric“ genannt werden – zu Ralph. Simon fasst sich schließlich ein Herz und steigt auf den Berg, um der unheimlichen weißen Erscheinung auf den Grund zu gehen. Er findet den toten Fallschirmspringer, aber als er die anderen Jungen aufklären will, wird er selbst für das „Monster“ gehalten. Die „Jäger“ jagen und töten ihn. Aus Spiel wird Mord: Die Kinder haben endgültig ihre Unschuld verloren.
Ohnehin sind die „Jäger“ immer blutdürstiger und aggressiver geworden. Sie bemalen ihre Körper und pflegen wilde Rituale. Besonders Roger tut sich dabei hervor: Zuerst quält er Schweine, dann foltert er schwächere Jungen. Eines Tages tötet er Piggy heimtückisch mit einem Felsbrocken, den er von einer Klippe wälzt.
Und auch Ralph gerät schließlich in das Visier von Jack und seinen Jägern. Sie verfolgen ihn über die Insel und legen schließlich Feuer, um ihn in die Enge zu treiben. Moral und Gnade sind zu diesem Zeitpunkt vergessen – es gilt das Recht des Stärkeren. Im finalen Moment stolpert Ralph einem Erwachsenen in die Arme – einem Marineoffizier, der die Flammen von seinem Schiff aus gesehen hat. Ralph bricht in Tränen aus – doch nicht nur aus Erleichterung über seine Rettung, auch wegen des Verlusts seiner kindlichen Unschuld. Denn: Er hat auf dieser Insel etwas erlebt, was vielleicht in jedem von uns schlummert.
Der 1911 in Cornwall geborene William Golding war ein vom Krieg gezeichneter Mann. Seine pessimistische Sicht auf die Gesellschaft und den Menschen im Einzelnen hat er in „Herr der Fliegen“ verarbeitet - zu einer Zeit, als ein neuer, Kalter Krieg zwischen den beiden Großmächten USA und Sowjetunion die Welt beunruhigte. Doch nicht alle Leser konnten mit der harten und unbequemen Botschaft dieses Romans umgehen. Auch weil sie sich an junge Leser richtete! Das führte dazu, dass die Geschichte zunächst von mehr als 20 Verlagen abgelehnt wurde. Auch stilistisch hat es sich Golding nicht leicht gemacht. Der Roman ist eine Mischung aus Abenteuerroman und einer sogenannten Robinsonade – ein Genre, in dem es um Isolation und Gestrandetsein geht. Gleichzeitig nahm Golding in seinem Roman Bezug auf andere Bücher. So sind beispielsweise einige Romanfiguren dem erfolgreichen Jugendbuch „Die Koralleninsel“ von Robert Michael Ballantyne aus dem Jahr 1858 entlehnt. Dieser Roman erzählt eine durchweg idyllische Geschichte von gestrandeten Jungen und stellt den Menschen als rein und gut dar. Golding lieferte mit „Herr der Fliegen“ den radikalen Gegenentwurf. Sein Bild vom Menschen war ein komplett anderes. Er stellt der Menschheit ein düsteres Zeugnis aus, weil er mit seinem Roman sagt: Ein Stück des Bösen steckt in jedem Menschen – sogar in Kindern. Ist erst einmal der dünne Lack der Zivilisation abgeplatzt, dann tritt die natürliche Rohheit des Menschen zutage. So hatte es Golding im Zweiten Weltkrieg erlebt, und so beschrieb er es in seinem Roman.
William Golding glaubte also daran, dass schon junge Menschen zu Schrecklichem fähig sind. Knapp 30 Jahre später zeichnet der US-amerikanische Autor Morton Rhue in seinem Jugendroman „Die Welle“ ein ganz ähnliches Bild – alles beginnt hier jedoch mit dem Experiment einer Schulklasse …
Zusammenfassung
Der englische Autor William Golding schrieb mit „Herr der Fliegen“ (Originaltitel: Lord of the Flies) ein drastisches Jugendbuch über die Eskalation von Gewalt innerhalb einer Gruppe von Jungen, die auf einer Insel strandet.
Wenn es ums nackte Überleben geht und Recht und Gesetz keine Rolle spielen, dann ist der Mensch zu allem fähig – egal, wie alt er ist! Das ist die harte Botschaft dieses Romans.
Golding verarbeitete in seinem Roman die negativen Erfahrungen, die er im Zweiten Weltkrieg gemacht hat. Man könnte auch sagen, dass ihn der Krieg eine grausame Lektion lehrte, die er in ein packendes Stück Literatur verwandelte – dafür erhielt er den Literatur-Nobelpreis.
„Herr der Fliegen“ von William Golding erschien 1951 und galt als das drastischste Kinderbuch seiner Zeit.
Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt, die deutsche Ausgabe ist in mittlerweile 50. Auflage im S. Fischer Verlag erhältlich. 2016 wurde der Roman von Peter Torberg in heutiger Sprache neu ins Deutsche übersetzt.
Einer ersten Verfilmung 1963 in Schwarz-Weiß unter der Regie des Briten Peter Brook folgte eine US-amerikanische Neuverfilmung von Harry Hook im Jahr 1990. Sie wurde auf Hawaii gedreht. Eine neuseeländische Fernsehserie namens „The Tribe“ von 1999 bis 2003 war ebenfalls von „Herr der Fliegen“ inspiriert.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. B) Herr der Fliegen
2. A) 1951
3. D) Auf einer einsamen Insel
4. C) Eskalierende Gewaltbereitschaft
5. A) Jeder Mensch ist zur Grausamkeit fähig