Zur Ausrottung bestimmter Krankheiten wurde in Deutschland vereinzelt eine Impfpflicht verhängt – zum letzten Mal im Jahre 2020. Solche Impfpflichten stellen aber heute die absolute Ausnahme dar. In der Regel setzt der deutsche Staat beim Impfen auf Freiwilligkeit – und das hat vor allem historische Gründe.
Der Slogan auf dem selbstgebastelten Plakat ist eindeutig: „Nein zur Medizindiktatur!“ Rund 2.000 Menschen ziehen im September 2019 durch das Zentrum Berlins. Die Demonstration richtet sich gegen das geplante Masernschutzgesetz, mit dem die Bundesregierung für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine Impfpflicht gegen diese Krankheit einführen will. Unter den Teilnehmern sind neben besorgten Eltern auch Reichsbürger und Influencer aus rechtsextremen Kreisen, die auf vielen Demos – egal wogegen – mitlaufen. Von einem zur Bühne umfunktionierten Lastwagen fordert ein rappender Verschwörungstheoretiker: „Bitte, bitte impft sie nicht, verabreicht ihnen nicht das Gift.“ Bei der Abschlusskundgebung vor dem Brandenburger Tor ergreift ein anderer Star der Szene das Wort und ruft mit bereits vielfach widerlegten Behauptungen zum Boykott der Impfung gegen Masern auf. Ob die Eltern, die aus aufrichtiger Sorge um das Wohl ihrer Kinder an der Demonstration teilnehmen, wissen, dass sie hier vereinnahmt werden?
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Jetzt runterladen!Die Impfpflicht gegen Masern erfolgte nicht willkürlich, sondern aus aktuellem Anlass. Denn in den Vorjahren waren die Fallzahlen in Europa und weltweit kontinuierlich gestiegen, allein in Deutschland waren 2019 mehr als 500 Masernfälle gemeldet worden. Trotz umfangreicher Aufklärungskampagnen war die Impfquote nicht ausreichend, um eine weitere Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Zum Schutz der öffentlichen Gesundheit wurde daher zum 1. März 2020 für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine Impfpflicht verhängt. Sie betrifft alle nach 1970 geborenen Menschen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung arbeiten oder betreut werden. Dazu gehören Kitas und Schulen, Gesundheitseinrichtungen wie Arztpraxen und Krankenhäuser sowie Gemeinschaftsunterkünfte für Geflüchtete und Asylbewerber. Damit wurde in Deutschland seit langer Zeit erstmals wieder eine Impfung gegen eine bestimmte Krankheit verpflichtend. Doch wie hatte sich die Situation seit der Erfindung wirksamer Impfstoffe gegen zahlreiche Infektionskrankheiten entwickelt?
Die Anfänge der Impfpflicht in Deutschland reichen bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Mit der ersten massentauglichen Impfung gegen Pocken im Jahr 1796 war in der Medizin ein neues Zeitalter angebrochen. Immer mehr Länder und Regionen setzten auf eine verpflichtende Impfung gegen die Seuche. Vorreiter auf deutschem Gebiet waren Hessen und Bayern, die 1807 eine Impfpflicht einführten. Weitere Regionen folgten, eine flächendeckende Impfpflicht wurde jedoch erst Jahrzehnte später erlassen. Einen schweren Rückschlag verursachte der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Französische Kriegsgefangene brachten die Pockenviren mit nach Deutschland und lösten eine Epidemie aus. Rund 150.000 Menschen erkrankten. Zur Eindämmung der Seuche wurde 1874 das Reichsimpfgesetz erlassen. Mit diesem Gesetz übernahm das neu gegründete Deutsche Reich die Verantwortung für die Gesundheitsvorsorge. Die Bevölkerung wurde durchgeimpft, die Pockenerkrankungen in Deutschland gingen rasch zurück.
Nach dem Ersten Weltkrieg, zur Zeit der Weimarer Republik, bestand der Staat weiterhin auf einer Impfpflicht – aber er setzte sie nicht konsequent genug um. Im sogenannten Dritten Reich wuchs die Zahl der Impfgegner, da einige führende Nationalsozialisten Anhänger der rassistisch durchsetzten „Neuen Deutschen Heilkunde“ waren. Andererseits benötigte die Hitler-Diktatur gesunde Soldaten für ihre Kriege. Also warb sie intensiv für Impfungen gegen die Pocken und andere Krankheiten, ohne jedoch eine Impfpflicht zu erlassen. Mit der aggressiven Propaganda wurden sehr hohe Impfquoten erreicht, bei einigen Impfungen wie etwa der Schutzimpfung gegen Diphtherie mehr als 90 Prozent. Die politischen Veränderungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollten sich allerdings gravierend auf die Impfpflicht auswirken.
Die beiden deutschen Staaten gingen getrennte Wege: In der DDR war die Gesundheitsvorsorge Staatsangelegenheit, denn mit einer gesunden Bevölkerung sollte die Überlegenheit des sozialistischen Systems demonstriert werden. Deshalb wurden Impfungen gegen Krankheiten wie Pocken, Tuberkulose, Tetanus, Keuchhusten und Diphtherie systematisch durchgeführt – die meisten bereits in Kindertagesstätten und Schulen. Wer sich einer Impfung verweigerte, musste mit Sanktionen rechnen. Daraufhin gingen die Infektionszahlen deutlich zurück. Allerdings konnte manche Krankheit nicht ausgerottet werden, weil moderne Laborausstattungen in der DDR bereits in den 1970er-Jahren Mangelware und die Produktionsmethoden veraltet waren. So konnten zum Beispiel keine neuen Mehrfachimpfungen entwickelt werden, und vereinzelt sank auch die Qualität der Impfstoffe.
In der Bundesrepublik hingegen blieben die meisten Impfungen freiwillig, der Staat sprach nur Impfempfehlungen aus. Nach dem Verschwinden der Pocken Ende der 1970er-Jahre wurde auch diese Impfpflicht aufgehoben. Nach der Vereinigung beider deutscher Staaten bestand 30 Jahre lang überhaupt keine Impfpflicht. Erst seit 2020 gilt sie einrichtungsbezogen gegen die hochgradig ansteckenden Masern. Ein Eilantrag einer Elterninitiative vor dem Bundesverfassungsgericht war zuvor gescheitert.
Im selben Jahr kam die Corona-Pandemie. Täglich schreckten neue Meldungen über Infektionszahlen und Todesopfer die Bevölkerung, medizinisches Personal und Beschäftigte im Pflegebereich arbeiteten bis zur Erschöpfung, die Gesundheitsämter kamen mit der Registrierung der Infizierten und der Überwachung der Quarantäne kaum noch hinterher. Es musste schnellstmöglich ein Impfstoff her, um die Corona- bzw. Covid-19-Pandemie einzudämmen. Tatsächlich dauerte es nur wenige Monate, bis nicht nur ein, sondern gleich mehrere Impfstoffe gegen das Coronavirus Sars-Cov-2 entwickelt waren.
Gleichzeitig schieden sich die Geister der Bevölkerung über Risiken und Nebenwirkungen der Impfstoffe. Das Bundesgesundheitsministerium und der spätere Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach initiierten zusammen mit dem Robert-Koch-Institut (RKI) eine gewaltige Impfkampagne, in deren Verlauf sich der größte Teil der Bevölkerung im Lauf des Jahres 2021 bereitwillig und mehrfach immunisieren ließ. Nicht nur, um sich vor Ansteckung oder zumindest vor schweren Krankheitsverläufen zu schützen, sondern auch, um endlich wieder am neu erwachenden gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben zu können. Gaststätten und viele Geschäfte öffneten ihre Türen nur für Geimpfte mit entsprechendem Impfnachweis oder Genesenennachweis. Ungeimpfte mussten draußen bleiben. Das wurde als verdeckter Zwang empfunden und führte zu Protesten; Impfgegner pochten in Demonstrationen und Sozialen Medien auf ihre körperliche Unversehrtheit. Denn jede Impfung kann unbestreitbar auch stärkere Nebenwirkungen bis hin zu bleibenden Impfschäden verursachen; andererseits gab es sogenannte Impfdurchbrüche, also Ansteckungen trotz Impfung. Gesundheitsministerium, RKI und Ständige Impfkommission (STIKO) wurden unterdessen nicht müde, zur Abwägung von Risiken und Nutzen aufzurufen, denn zumindest schützt die Immunisierung vor schweren Verläufen einer Covid-19-Infektion.
Im Herbst 2021 debattierte der Bundestag über eine allgemeine Corona-Impfpflicht für Deutschland. Sie verfehlte die nötige Mehrheit, aber das Parlament beschloss im Frühjahr 2022 eine zeitlich befristete einrichtungsbezogene Corona-Impfpflicht: Wenigstens Beschäftigte in Pflegeheimen und Kliniken sollten gegen Corona geimpft sein, um hochbetagte, schwer und chronisch kranke Menschen zu schützen. Im Infektionsschutzgesetz (IfSG) wurden die Kriterien für den sogenannten vollständigen Impfschutz und den Nachweis des Impfstatus neu geregelt. Das führte zu Unfrieden in den ohnehin schon hoch belasteten Einrichtungen, denn Pflegerinnen ohne Impfnachweis drohte nun ein Tätigkeitsverbot, bereits im Sommer wurden erste Bußgelder gegen ungeimpfte Pflegerinnen verhängt.
Gesundheitsminister sowie SPD und Grüne in der Ampelkoalition wollten zudem ab März 2022 eine verpflichtende Corona-Impfung für über 60-Jährige einführen. Die CDU-CSU war dagegen, sie wollte lieber im Herbst anhand der dann herrschenden Infektionslage über eine verpflichtende Corona-Schutzimpfung entscheiden. Nach hitzigen Debatten blieb es bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, um besonders gefährdete Menschengruppen auf passivem Wege zu schützen. Diese Regelung ist seit dem 1. Januar 2023 wieder außer Kraft, auch weil sich die Omikron-Variante mit milderen Krankheitsverläufen durchgesetzt hatte.
Zusammenfassung
In deutschen Gebieten wurde erstmals 1807 eine Impfpflicht verhängt. In der Folgezeit wurde bei Impfungen teils auf Verpflichtung, teils auf Freiwilligkeit gesetzt.
Gegen die Pocken wurde in Deutschland im 19. Jahrhundert die Impfpflicht eingeführt, den Anfang dabei machten 1807 Hessen und Bayern.
2020 wurde in Deutschland für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine sogenannte einrichtungsbezogene Impfpflicht gegen Masern erlassen. Es handelte sich dabei um die erste verpflichtende Impfung seit mehreren Jahrzehnten.
Um Gefahren und Auswirkungen der Corona-Pandemie in Deutschland einzudämmen, beschloss der Bundestag eine einrichtungsbezogene Corona-Impfpflicht. Sie endete zum 1. Januar 2023.
Trotz anhaltender und nachgewiesener Erfolge stehen in Deutschland viele Menschen der Impfpflicht skeptisch gegenüber.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. B) Pocken
2. A) Masern
3. C) Omikron
4. B) Infektionsschutzgesetz
5. A) Corona-Impfpflicht für über 60-Jährige