Ja, diese verflixte Wirtschaft: Wenn man sie sich selbst überlässt, werden Arbeiterinnen und Arbeiter ausgebeutet, wenn man sie bis ins letzte Detail kontrolliert, funktioniert sie nicht. Ist es überhaupt möglich, die positiven Aspekte der freien Marktwirtschaft beizubehalten, aber auch Gerechtigkeit für die Arbeitenden zu garantieren? Dieser Frage ging John Maynard Keynes in seiner ökonomischen Theorie nach. Wie bereits der deutsche Philosoph und Publizist Karl Marx sah auch Keynes gravierende Fehler im kapitalistischen System und schrieb dem Staat eine wesentliche Rolle bei deren Behebung zu. Unter anderem Vorzeichen allerdings – und mit anderen Mitteln...
Mr. Wiggins ist völlig verzweifelt. Er hat alles verloren. Und er ist nicht der einzige, der am „Black Thursday“ sein gesamtes Vermögen verspielt hat. Jetzt sitzt er auf einem riesigen Berg Schulden. An diesem schwarzen Donnerstag, dem 24. Oktober 1929, ist nämlich die komplette amerikanische Börse eingestürzt. Und das, nachdem die Kurse fast zehn Jahre lang nur gestiegen waren. Es schien, als würden die goldenen Zwanziger niemals enden. Genau wie Mr. Wiggins haben viele Amerikaner so gut wie alles auf Pump gekauft: Häuser, neueste elektrische Geräte und vor allem Aktien. Doch die sind nun keinen Cent mehr wert. Und die Banken fordern ihre Kredite zurück.
Mr. Wiggins kann seine Familie noch einige Monate lang über Wasser halten, dann aber verliert er seinen Job und muss sein Haus aufgeben. Genau wie er stehen Millionen Amerikaner nun vor dem Nichts, oder besser gesagt: in den Schlangen vor den Armenküchen.
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Jetzt runterladen!Der Black Thursday in den USA war der folgenreichste Börsencrash der Geschichte. Ihm folgte die Große Depression, eine Wirtschaftskrise, die schließlich auch Europa erfasste. Und es war die Wirtschaft selbst, die diese Krise verursacht hatte. Banken wollten mit immer neuen Produkten immer höhere Profite erzielen, Verbraucher ließen ihrem Optimismus freien Lauf – und niemand kontrollierte oder regulierte die Märkte.
In dieser Krise wurde deutlich, dass der vollkommen freie Markt, wie er von Adam Smith rund 150 Jahre vorher beschrieben worden war, auf ganzer Linie versagt hatte. Die Folgen dieser Krise, die im Oktober 1929 an der New Yorker Börse begann, bekamen die Menschen auf der ganzen Welt zu spüren. Allein in den USA wurde jeder Vierte arbeitslos, die Durchschnittslöhne fielen um 60 Prozent. So groß der Optimismus noch vor einigen Jahren gewesen war, so gewaltig war nun der Pessimismus in den USA und Europa.
Gab es überhaupt einen Weg aus dieser Krise? Ja, den gibt’s, behauptete zumindest der britische Ökonom John Maynard Keynes. Er zeigte schon als Fünfjähriger mathematisches Talent und wurde von seinem Vater John Neville Keynes und seiner Mutter Florence Ada Keynes liebevoll gefördert. Der Junge ging aufs Eton College und erhielt 1902 aufgrund seiner Begabung ein Stipendium für das King’s College in Cambridge. Neben Mathematik studierte er auch Philosophie und hörte nebenbei Wirtschaftsvorlesungen. Er wurde Schüler Alfred Marshalls, eines der einflussreichsten Nationalökonomen der Zeit. 1906 trat Keynes in den Staatsdienst ein. Aber seine Aufgaben im India Office, einer Londoner Regierungsbehörde zur Verwaltung der englischen Kolonien, langweilten ihn bald. Viel stärker interessierte ihn die Wirtschaftswissenschaft und ihre Verbindung zur Politik – zum Beispiel die Auswirkungen einer globalen Rezession auf den indischen Subkontinent. Sie analysierte er in seinem ersten professionellen Wirtschaftsartikel, den er 1909 im Economic Journal veröffentlichte: einer der führenden Wirtschaftszeitungen in England. Wenige Jahre später war Keynes ein anerkannter Experte und die Regierung baute im Ersten Weltkrieg auf sein ökonomisches Know-how. 1919 vertrat er das britische Schatzamt auf der Friedenskonferenz von Versailles. Dort riet er davon ab, die von Deutschland zu leistenden Reparationen so hoch anzusetzen, wie es die Konservativen forderten. Seine Warnung, dass die Deutschen dann keine Waren mehr importieren könnten und ihre Zahlungsfähigkeit auch alle anderen Nationen schädigen würde, verhallte. Enttäuscht trat er von seinem Amt zurück – und verfasste unter dem Titel „The Economic Consequences of the Peace eine glasklare Analyse der zu erwartenden ökonomischen Folgen des Versailler Friedensvertrags für Europa. Das Buch war eine geharnischte Kritik am Versailler Vertrag und enthielt kühne Prognosen, die durch die späteren Ereignisse von der Hyperinflation bis zum Zweiten Weltkrieg teilweise bestätigt wurden.
1926 folgte sein Werk „The End of Laissez-Faire“ (deutsch: „Das Ende des Laissez-Faire“). Dieser Begriff meint den sogenannten Manchesterliberalismus, der die Zeit des industriellen Wachstums im 19. Jahrhundert prägte. Damals galt die Maxime, dass der Staat den Wohlstand der Bevölkerung am besten fördere, wenn er sich aus dem gesamtwirtschaftlichen Geschehen völlig heraushalte. Anders gesagt kann Laissez-Faire auch mit „Untätigkeit” übersetzt werden – und genau dieses Nichteingreifen des Staates sogar in Krisenzeiten kritisierte Keynes.
Im Jahr 1936 legte er in seinem Buch „The general Theory of Employment, Interest and Money” (deutsch: „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“) das theoretische Fundament für eine neue Wirtschaftspolitik. Keynes kam durch seine Beobachtungen während der Weltwirtschaftskrise zu dem Schluss, dass die Selbstheilungskräfte des Marktes offensichtlich nicht ausreichten, um das wirtschaftliche Gleichgewicht wiederherzustellen. Vielmehr stand für ihn fest: In Krisenzeiten muss der Staat in die Wirtschaft eingreifen und durch Staatsaufträge und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wieder Nachfrage nach Gütern und Waren erzeugen. Denn die war in der Krise zusammengebrochen. Die Folge war Massenarbeitslosigkeit, und sie ließ die Nachfrage immer weiter zurückgehen. Ein Teufelskreis, den Keynes brechen wollte.
Sein Ansatz war völlig neu. Denn er richtete seinen Blick vornehmlich auf die Nachfrageseite einer Volkswirtschaft. Das bedeutet: Wenn Unternehmen und Verbraucher aus finanzieller Not heraus sparen müssen und deshalb weniger kaufen, soll der Staat einspringen. Er soll Steuermittel in die Hand nehmen und mit ihnen die fehlende gesamtwirtschaftliche Nachfrage ausgleichen – im besten Falle bis zur Vollbeschäftigung.
Und diese Eingriffe sollten „antizyklisch” geschehen. Das heißt: In Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs hält sich der Staat zurück und spart das Geld, das er über Steuern einnimmt. Geht es der Wirtschaft jedoch schlecht und die Nachfrage nach Gütern zurück, weil die Menschen weniger Geld ausgeben, dann – so Keynes – ist es Aufgabe des Staates, die Nachfrage zu erhöhen, indem er selbst als Käufer auftritt. Er kann zum Beispiel in die Infrastruktur investieren und dadurch Arbeitsplätze schaffen. Er kann aber auch Produkte kaufen, seien es neue Computer für Behörden oder ein neues Flugzeug für den Präsidenten. Solche Investitionen führen laut Keynes dazu, dass Unternehmen wieder mehr produzieren, Mitarbeiter einstellen und neue Maschinen kaufen. Die neuen Mitarbeiter geben ihr Gehalt aus und erhöhen dadurch wieder die gesamtwirtschaftliche Nachfrage.
Für Keynes war der Weg aus der Krise also klar: Der Staat muss antizyklisch vorgehen: investieren, wenn es der Wirtschaft schlecht geht, und sparen, wenn es ihr gut geht.
Natürlich hat auch Keynes’ Theorie viele Kritiker. Wirtschaftswissenschaftler werfen ihr vor allem vor, den Staat durch die Investitionen, auch Konjunkturmaßnahmen genannt, in Schulden zu stürzen. Keynes schlug zwar vor, der Staat solle in guten Zeiten sparen und die Steuern erhöhen, aber in der Praxis passiert das kaum. In wirtschaftlich guten Zeiten zu sparen, ist nämlich gar nicht so einfach. Denn wie soll ein Staat seinen Bürgern erklären, dass er trotz sprudelnder Steuereinnahmen Einsparungen vornimmt?
Dennoch gehört der antizyklische Ansatz heute in sehr vielen Ländern zur Wirtschaftspolitik in Krisenzeiten und staatliche Überschuldung somit zur Normalität.
Keynes Beitrag bestand also vor allem darin, deutlich zu machen, dass staatliche Eingriffe in die Wirtschaft in Krieg und Frieden manchmal notwendig sind. Bis dahin hatte man der Wirtschaft freien Lauf gelassen und gehofft, dass sie sich selbst aus Krisen befreit.
Ein wichtiger Eingriff war zum Beispiel eine strengere Regulierung und Kontrolle der Banken, die an der Großen Depression nach 1929 nicht gerade unschuldig waren. 1944 auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs stand der Keynesianismus Pate bei der Schaffung einer neuen internationalen Währungsordnung, die vom US-Dollar als Leitwährung bestimmt wird. Sie ist auch als Bretton Woods-System bekannt, benannt nach einem Kurort im US-Bundesstaat New Hampshire. Dort tagten die Finanzminister und Notenbankchefs von 44 Staaten der Welt, um über den Wiederaufbau Europas nach dem Krieg zu beraten. In Bretton Woods wurden die Gründung der Weltbank und des Weltwährungsfonds beschlossen.
Im Nachkriegsdeutschland wiederum hatte der Keynesianismus starken Einfluss auf das sogenannte Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967. Heute ist Keynes Theorie Teil der Wirtschaftspolitik fast jedes Landes, das marktwirtschaftlich organisiert ist, denn seine Ideen haben den Impuls für ein Wirtschaftsmodell gegeben, welches das 20. Jahrhundert prägen sollte: die Soziale Marktwirtschaft.
Aber bevor wir uns die soziale Marktwirtschaft genauer anschauen, blicken wir zunächst auf einen Mann, der staatlichen Eingriffen in den Markt sehr kritisch gegenüberstand: Milton Friedman. Er setzte wieder auf die unsichtbare Hand des Marktes und sah den Staat keineswegs als Retter in der Not. Stattdessen vertraute er auf die Kräfte des Finanzmarkts und prägte eine Gegenbewegung zum Keynesianismus: den Monetarismus.
Zusammenfassung
Die Weltwirtschaftskrise, die 1929 mit einem Crash an der New Yorker Börse begann, machte deutlich, dass der freie Markt sich nicht selbst reguliert.
Die Krise rief den Ökonomen John Maynard Keynes auf den Plan. Er entwarf ein Wirtschaftsmodell, dass Eingriffe des Staates in den Markt aufzeigte.
Nach Keynes soll der Staat antizyklisch agieren: Wenn es der Wirtschaft schlecht geht, soll er investieren, und wenn es ihr gut geht, soll er sparen.
Der Keynesianismus behält die positiven Aspekte des freien Markts bei, fordert aber in Krisenzeiten gezielte Eingriffe des Staates. Indem er die Gesellschaft vor den schlimmsten Folgen wirtschaftlicher Krisen bewahrte, stabilisierte er die Volkswirtschaft etlicher Länder.
Der britische Ökonom wurde für seine Verdienste im Jahr 1942 zum 1. Baron Keynes geadelt. Vier Jahre später starb er in Tilton, East Sussex. Seine Theorie ist Teil der Wirtschaftspolitik fast jedes Landes, das marktwirtschaftlich organisiert ist. Der jungen Bundesrepublik gab sie in den Fünfzigerjahren erste Impulse für die Soziale Marktwirtschaft.
Weiterführende Literatur: Robert Skidelsky, „John Maynard Keynes” (mehrfach preisgekrönte dreibändige Biografie, erschienen 1983, 1992 und 2000); Dorothea Hauser, „Politik und Gefühl” (Einleitung zu „John Maynard Keynes - Freund und Feind - Zwei Erinnerungen”, Berlin 2004)
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Richtige Antworten:
1. C) 1929
2. A) Eingriffe des Staates
3. D) Die Nachfrage
4. B) Der Staat
5. B) ... Steuern senken
6. A) „The general Theory of Employment, Interest and Money”