Ende des 19. Jahrhunderts standen immer mehr Impfstoffe zur Verfügung. Impfkampagnen in ganz Europa bewahrten große Teile der Bevölkerung vor schweren Infektionskrankheiten, denen die Menschen jahrhundertelang schutzlos ausgeliefert gewesen waren. Doch in Lübeck lief im Jahr 1930 etwas gewaltig schief – mit dramatischen Folgen. In dieser Story erfährst du, dass nicht der Impfstoff selbst, sondern menschliches Versagen zum größten Impfunglück der Medizingeschichte führte.
Warm und geborgen im wollenen Umschlagtuch seiner Mutter taucht der Säugling langsam aus dem Schlaf empor. Helles Licht kitzelt seine Augen, er blinzelt und lauscht der vertrauten Stimme seiner Mutter. Etwas Kühles berührt seine Lippen, reflexartig öffnet er sie und saugt an dem unbekannten Gegenstand, der jetzt ein paar Tropfen Flüssigkeit in seinen Mund freigibt. Sie schmeckt nicht gut, sie schmeckt nicht schlecht, aber dem erst wenige Wochen alten Jungen ist das sowieso egal – er schläft schon wieder. Die Mutter ist beruhigt: Diese Schluckimpfung soll ihr Baby gegen jene schwere Krankheit immunisieren, die schon so vielen Menschen den Tod gebracht hatte: die Tuberkulose. Froh trägt sie ihren Jungen nach Hause – und ahnt nicht einmal, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat. Und dabei hatte sie sich gerade von dieser Impfung so viel erhofft...
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Jetzt runterladen!„Tuberkulose!“ – diese Diagnose kam im 19. und noch bis weit ins 20. Jahrhundert für die Erkrankten einem Todesurteil gleich. Besonders stark wütete diese Infektionskrankheit in den Armenvierteln der Städte, wo die Menschen sehr beengt zusammenlebten und die hygienischen Verhältnisse teilweise katastrophal waren. Die Krankheit zerstörte die Lunge und weitere innere Organe. Es gab kein wirksames Mittel gegen die „Schwindsucht“, wie der Volksmund die Tuberkulose nannte. Doch es gab Hoffnung. Nach Jahrzehnten intensiver Forschung hatte der deutsche Mikrobiologe Robert Koch im Jahr 1882 den Erreger entdeckt: den Tuberkelbazillus. In der Medizin war dies ein gewaltiger Fortschritt. Eine wirksame Behandlung der Krankheit war trotzdem noch nicht absehbar, denn die Forschung nach einem geeigneten Gegenmittel erlitt immer wieder Rückschläge. Von der Entdeckung des Erregers bis zur Entwicklung eines verlässlichen Impfstoffs sollten weitere vier Jahrzehnte vergehen.
Den ersten Erfolg verzeichneten die beiden französischen Mediziner und Bakteriologen Albert Calmette und Camille Guérin im Jahre 1921. Sie konnten einen Impfstoff für den Menschen entwickeln, der zu Ehren seiner Erfinder als Bacillus Calmette-Guérin-Impfstoff, kurz BCG-Impfstoff, genannt wurde. Die BCG-Impfung war speziell für die Immunisierung von Neugeborenen bestimmt, denen er in den ersten Lebenswochen zu verabreichen war. In den ersten sieben Jahren seit Einführung der BCG-Schutzimpfung wurden rund 150.000 Kinder erfolgreich damit geimpft. Nur in der Weimarer Republik waren die Gesundheitsbehörden zunächst noch skeptisch. Erst die ermutigenden Ergebnisse aus anderen Ländern und vor allem die positive Beurteilung der Substanz durch den Völkerbund, der Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen, änderten diese Einstellung. 1929 begannen am Allgemeinen Krankenhaus in Lübeck unter Federführung des Klinikleiters Georg Deycke und des Leiters des Gesundheitsamts Ernst Altstaedt die Vorbereitungen für die erste BCG-Impfkampagne in Deutschland.
Sie begann am 24. Februar 1930. In den folgenden Wochen wurden 256 Neugeborene gegen Tuberkulose geimpft, die meisten von ihnen zuhause, einige im Krankenhaus – und alles ganz ohne Piks: Der flüssige Impfstoff wurde in Lübeck oral verabreicht, also in den Mund. Einem Erfolg der Kampagne schien nichts im Wege zu stehen.
Doch knapp zwei Monate nach dem Start der Impfreihe starb das erste Baby. Gab es etwa einen Zusammenhang zwischen dieser Tragödie und der Schluckimpfung? Nach dem Tod weiterer Säuglinge wurde die Impfreihe sofort gestoppt, der noch nicht verbrauchte Impfstoff vernichtet – denn in allen Fällen war die Todesursache Tuberkulose. Die Ärzte waren völlig ratlos. Ein grausamer Verdacht wurde immer wahrscheinlicher: Die geimpften Kinder waren nicht vor Tuberkulose geschützt, sondern damit infiziert worden!
Die Impfkatastrophe zog immer weitere Kreise. Von insgesamt 256 geimpften Säuglingen starben 77 an Tuberkulose; sie hatten im Durchschnitt nur drei Monate gelebt. Viele weitere Kinder erkrankten schwer und sollten ihr Leben lang an gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden. Schon machte eine neue Bezeichnung für das grausige Geschehen die Runde: Lübecker Totentanz.
Aber was waren die Ursachen des Lübecker Impfunglücks von 1930? An den direkt aus dem Pariser Institut Pasteur gelieferten Impfkulturen konnte es nicht gelegen haben, sie wurden schließlich schon seit Jahren mit Erfolg eingesetzt. Also musste der Fehler in Lübeck passiert sein. Und tatsächlich sollte die Aufarbeitung des Unglücks schwere Versäumnisse ans Licht bringen.
Untersuchungen ergaben, dass eine ganze Kette von Fehlern das Lübecker Impfunglück ausgelöst hatte. Der verabreichte Impfstoff war verunreinigt. Wie konnte das passieren? Diese so genannte Kontamination war möglich geworden, weil in dem Labor unterschiedliche Bakterienkulturen nebeneinander gelagert und verarbeitet wurden. Genau davor hatte das Institut Pasteur ausdrücklich gewarnt! Die versiegelten Ampullen trugen den Hinweis, dass der für ihre Verarbeitung bestimmte Brutschrank keine anderen Bakterienkulturen und schon gar keine infektiösen Tuberkulosekulturen enthalten dürfe. Und genau das war in Lübeck der Fall. Bei ungenauer Bezeichnung der einzelnen Chargen waren sogar Verwechslungen möglich. Zudem versäumten es die Ärzte auch noch, vor der Verabreichung der Impfdosen im Tierversuch zu prüfen, ob sie ansteckende Keime enthielten – obwohl diese Tierexperimente zur Sicherheit üblich waren.
Hinzu kam: Die Verarbeitung der Kulturen im Labor oblag der Krankenschwester Anna Schütze, die als zuverlässig und gründlich bekannt war, aber keine bakteriologische Ausbildung hatte. Für die Impfstoffherstellung setzte die Schwester die Bakterienkulturen auf einen Nährboden aus Hühnerei und stellte sie für 14 Tage in den Brutschrank. Anschließend wurde alles zerrieben, mit einer Traubenzucker-Glyzerinlösung gemischt und in Fläschchen für die Schluckimpfung abgefüllt. Irgendwo auf diesem Herstellungsweg mussten die BCG-Impfkulturen also durch die infektiösen Tuberkulosekulturen verunreinigt worden sein.
Und die Mediziner begingen einen weiteren folgenschweren Fehler: Sie waren sich ihrer Sache so sicher, dass sie es versäumten, die geimpften Säuglinge auf etwaige Krankheitszeichen zu untersuchen oder sie zumindest zu beobachten. Schon bald nach den ersten Impfungen bemerkten Krankenschwestern bei den Babys Hautausschläge und häufiges Erbrechen, hielten dies aber für belanglose Nebenwirkungen. Auch die Ärzte nahmen davon kaum Notiz. Erst Diagnosen von Lymphknotenschwellungen, erheblichem Gewichtsverlust oder Lungenentzündungen bei einigen Impflingen alarmierten die Mediziner – doch nun war es zu spät. Um weitere derartige Unglücke zu verhindern, mussten die Versäumnisse schonungslos analysiert und entsprechend geahndet werden.
Die juristische Aufarbeitung des Unglücks wurde nach einem der beiden Entwickler des Impfstoffs als Calmette-Prozess bezeichnet und auch im Ausland mit großem Interesse verfolgt. Er dauerte vier Monate und deckte alle Fehler und Versäumnisse auf, die zur Katastrophe geführt hatten. Die Richter des Landgerichts verurteilten die Leiter des Allgemeinen Krankenhauses und des Lübecker Gesundheitsamtes wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu Haftstrafen: Georg Deycke zu zwei Jahren Gefängnis, Altstaedt zu 15 Monaten.
Doch das Image der Impfung war nachhaltig beschädigt worden. Obwohl das Impfen selbst gar nicht ursächlich für das Unglück von Lübeck gewesen war, sondern die durch menschliches Versagen verursachten Verunreinigungen, war das Vertrauen der Bevölkerung in den Impfschutz schwer erschüttert. Und bis heute ranken sich um das Thema Impfen allerhand Mythen und Irrtümer, und mit der Corona-Pandemie traten auch die Impfgegner wieder auf den Plan.
Zusammenfassung
Zu Beginn der 1920er Jahre wurde ein Impfstoff gegen die tödliche Infektionskrankheit Tuberkulose entwickelt. Nach anfänglicher Skepsis wurde er auch in Deutschland verabreicht.
Eine Kette von Fehlern und Versäumnissen führte im Jahr 1930 zum Impfunglück von Lübeck. Dabei starben 77 der 256 geimpften Neugeborenen an Tuberkulose – der Krankheit, gegen die sie immunisiert werden sollten.
Als Ursache für die Katastrophe gilt die Verunreinigung des Impfstoffs durch nicht sachgemäße Lagerung.
Das Lübecker Impfunglück brachte einen schweren Rückschlag für das Vertrauen der Bevölkerung in den Impfschutz.
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Richtige Antworten:
1. A) Verunreinigung des Impfstoffs
2. C) 1930
3. D) Tuberkulose
4. B) Neugeborene
5. A) 77