Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts breiteten sich die Pocken in ganz Europa rasant aus. Die Krankheit wird durch Tröpfcheninfektion und durch das Sekret aus geplatzten Pusteln übertragen. Einen wirksamen Impfschutz gegen das Pockenvirus gab es nicht. Eine Methode aus dem Orient aber änderte alles. In dieser Story erfährst du, worum es sich dabei handelte und wie es gelang, die Pockenerkrankung erfolgreich zu bekämpfen.
Am Ende ist es ein Kampf auf Leben und Tod. Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen – mit Kopfschmerzen und leichtem Fieber. Vermutlich hat sie sich eine Erkältung eingefangen, kein Wunder bei dem regnerischen Wetter in London. Doch die Beschwerden klingen einfach nicht ab, im Gegenteil – von Tag zu Tag geht es der Lady schlechter. Sie hat hohes Fieber, der Schweiß dringt aus allen Poren. Auch die Ärzte sind ratlos, alles haben sie versucht – Alkohol und Aderlass, ein Heilkraut nach dem anderen, immer stärkere Medikamente, eben alles, was die Medizin im Jahre 1715 so hergibt. Doch der Zustand der 26-Jährigen bleibt unverändert kritisch, und es kommt noch schlimmer: Als die ersten eitergefüllten Pusteln am ganzen Körper auftauchen, steht die niederschmetternde Diagnose fest: Lady Mary Wortley Montagu ist an Pocken erkrankt. Der Blick in den Spiegel lässt sie verzweifeln. Die Ärzte rechnen mit dem Schlimmsten. Aber dann stabilisiert sich der Zustand der Patientin wieder. Das Fieber sinkt, die Pusteln bekommen Krusten und heilen schließlich ab. Zwar entstellen zahllose Pockennarben ihr Gesicht, aber sie hat die Krankheit überlebt – im Unterschied zu vielen anderen Infizierten...
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Jetzt runterladen!Nach ihrer vollständigen Genesung sollte die englische Adelige den Kampf gegen die Pocken zu ihrer Lebensaufgabe machen. Ein Jahr nach ihrer fast tödlich verlaufenen Erkrankung ging Lady Montagu mit ihrem Mann, der den Posten des englischen Botschafters im Osmanischen Reich angenommen hatte, nach Konstantinopel. Doch auch dort grassierte Orthopoxvirus Variola, wie der Erreger auf lateinisch heißt. Je nach Verlaufsform kann die Infektion zum Tod unter anderem durch Lungenentzündung führen, auch Erblindung und auf jeden Fall die entstellenden Narben zählen zu den bleibenden Schäden dieser hochansteckenden Infektionskrankheit.
Vor allem auf den dicht bevölkerten Basaren der Metropole am Bosporus hatte das Variolavirus leichtes Spiel. Eines Tages aber wurde Lady Montagu Augenzeugin einer Methode, mit der medizinkundige Frauen dort die Seuche bekämpften: Sie ritzten die Haut von gesunden Menschen auf und strichen etwas Eiter aus Pockenpusteln nur leicht erkrankter Patienten hinein. Die auf diese Weise Infizierten reagierten mit unbedenklichen Symptomen wie Ausschlag, leichtem Fieber und mäßigem Hautausschlag, der jedoch rasch wieder verschwand. Und tatsächlich blieben diese Menschen vor den Pocken verschont, während viele nicht Geimpfte an der Krankheit starben. Lady Montagu war von dieser kontrollierten Infektion fasziniert. 1718 ließ sie ihren Sohn in Konstantinopel auf dieselbe Art impfen. Ihre Beobachtungen hielt sie in Tagebucheinträgen fest und beschloss, dieses Verfahren der Immunisierung auch in ihrer Heimat England populär zu machen. Doch wie würde man dort auf diese „Pockenschutzimpfung” reagieren? Schließlich waren die englischen Mediziner bisher wenig aufgeschlossen gegenüber Verfahren, die in anderen Teilen der Welt praktiziert wurden. Und Methoden aus dem Orient wurden meist nur belächelt.
Tatsächlich stieß Lady Montagus Impf-Enthusiasmus nach ihrer Rückkehr zunächst auf wenig Begeisterung. Die von Männern dominierte Ärzteschaft in England nahm den Vorschlag einer Frau nicht sonderlich ernst, manche reagierten mit Hohn und Spott. In der Bevölkerung war das Urteil noch drastischer: Wie konnte man gesunde Kinder mit einer tödlichen Krankheit infizieren? Doch Lady Montagu blieb hartnäckig und überzeugte schließlich den englischen König Georg I. davon, das Verfahren wenigstens zu erproben. Der Monarch erklärte sich bereit, die orientalische Art der Pockenimpfung zunächst an einigen Sträflingen zu testen. Nachdem diese von ihren leichten Symptomen genesen waren, brachte man sie in Kontakt mit Pockenkranken – und sie blieben gesund. Georg I. gab grünes Licht für weitere Anwendungen. Nachdem auch einige Waisenkinder erfolgreich gegen die Seuche immunisiert worden waren, ließ der König auch seine eigenen Enkel mit dem Virus infizieren. Nun war das Eis gebrochen. Immer mehr Menschen ließen sich gegen die Pocken impfen, die man im deutschsprachigen Raum auch als „Blattern“ bezeichnete. Von England aus verbreitete sich das Verfahren über weite Teile Europas. Lady Montagu wurde zu einem der ersten Medienstars in England. Allerdings war sie auch weiterhin teils harscher Kritik ausgesetzt. Immerhin: Das Presse-Echo gab ihr Recht. Denn um den König für diese heftig umstrittene Sache zu gewinnen, bedurfte es nicht nur einer begeisternden Idee, sondern auch großen diplomatischen Geschicks.
Die Methode der Infektion gesunder Menschen mit Pockenviren nennt man Variolation – vom lateiniscchen variola, was „Pocken“ bedeutet. Das Verfahren war nicht frei von Risiken, in Einzelfällen erlitten auch geimpfte Personen schwere Krankheitsverläufe. Es kam sogar vor, dass Geimpfte während ihrer kurzen Inkubationszeit die Pocken auf Nichtgeimpfte übertrugen, die dann schwer erkrankten und im Extremfall sogar starben. Mancherorts kam es erst durch die Impfung zu lokalen Ausbrüchen der Seuche. Kurz: Die Hoffnung auf Ausrottung der tödlichen Seuche wurde enttäuscht. Dennoch: Das aus dem Orient importierte Verfahren war ein herausragender medizinischer Fortschritt, der weitere Forschungen auf dem Gebiet der Pockenbekämpfung motivierte. Bis zur ersten wirksamen Schutzimpfung gegen Pocken sollten noch ein paar Jahrzehnte vergehen, und erneut wurde England zum Schauplatz einer bahnbrechenden Entwicklung.
Am 1. Juli 1796 saß ein ziemlich ängstlich dreinblickender achtjähriger Junge namens James Phipps auf dem Behandlungsstuhl des englischen Arztes Edward Jenner und ließ den zweiten Teil eines nicht ungefährlichen Experiments über sich ergehen. Sechs Wochen zuvor hatte ihn der Arzt mit den für den Menschen harmlosen Kuhpocken infiziert. Der kleine James reagierte mit Hautveränderungen, leichtem Fieber, Appetitlosigkeit und Juckreiz. Jetzt aber könnte es ganz anders ausgehen ...
An diesem Tag bekam der achtjährige James Phipps seine zweite Pockenimpfung, und zwar mit den echten, für den Menschen gefährlichen Variolaviren. Der Junge aber zeigte keinerlei Symptome – er war immun gegen die echten Pocken. Dafür hatte offenbar seine erste Impfung mit den ungefährlichen Kuhpocken gesorgt. Genau das hatte der britische Arzt Edward Jenner mit seinem Experiment beweisen wollen. Doch wie war der Arzt überhaupt auf die Idee zu diesem Experiment gekommen?
Seit Jahren war Jenner besessen von der Vision, die unheilbringenden Pocken auszurotten. Er hatte bemerkt, dass sich Melkerinnen häufig mit Kuhpocken infizierten – einer Virusvariante der echten Pocken. Die Krankheit verlief in aller Regel mild, sie zeigte sich durch Bläschen an den Händen, die meist spurlos abheilten. Das Spannende an der Sache war: Diese Melkerinnen erkrankten nicht mehr an den weitaus gefährlicheren echten Pocken! Ihre leichtere Krankheit war vermutlich ein Schutz vor der mörderischen Seuche, und genau dies konnte Edward Jenner mit seinem Experiment an dem Jungen James Phipps bestätigen. Nach der absichtlichen Infektion mit Kuhpocken hatte dessen Körper Abwehrkräfte entwickelt, die ihn vor den echten Pocken schützten. Eine medizinische Sensation.
Für seine Kuhpockenimpfung prägte Jenner den Begriff vaccination, abgeleitet vom lateinischen Wort vacca für Kuh bzw. vaccinia für den Erreger. Das Verfahren ließ er nicht patentieren, weil er befürchtete, dies könnte die Kosten für eine Behandlung in die Höhe treiben und würde die ärmere Bevölkerung von der Impfung ausschließen. Dies war ein entscheidender Faktor für die Verbreitung der Pockenimpfung. Jedem Arzt war klar, dass mit Jenners Erfindung ein neues Zeitalter begann: Erstmals gab es eine wirksame und ungefährliche Impfung gegen eine Seuche, der man so viele Jahrhunderte ausgeliefert gewesen war. Immer mehr Mediziner begannen, Patienten auf die von Jenner entwickelte Art zu behandeln. In den kommenden Jahrzehnten setzte sich diese Pockenimpfung in Europa und später auch auf anderen Kontinenten durch – trotz massiver Widerstände der katholischen Kirche, die in diesem Eingriff eine Missachtung des göttlichen Willens sah. Dies hatte zur Folge, dass die Pockenschutzimpfung in streng katholischen Ländern verzögert einsetzte. Aber ihr Siegeszug war nicht mehr aufzuhalten.
1967 startete die Weltgesundheitsorganisation WHO die erste großangelegte Impfkampagne mit verpflichtender Teilnahme der Bevölkerung aller Gebiete, in denen die Pocken ausbrachen. Die Hotspots befanden sich damals in Ostafrika, vor allem im Wüstenstaat Somalia mit seinen weit auseinander liegenden Siedlungen und nomadisch lebenden Volksgruppen. Nur mit konsequenten Massenimpfungen war der hoch ansteckende Infektionskrankheit beizukommen; eine gewaltige logistische Aufgabe. Kontaktpersonen Erkrankter wurden in Quarantäne isoliert und ihr gesamtes Umfeld mit dem Pockenimpfstoff versorgt. Die Impfung war Pflicht, die größte Herausforderung bestand jedoch darin, den Impfstoff aus den Laboren auch in die abgelegensten Regionen der Erde zu bringen. Es gelang. Bis Ende 1977 war Ostafrika pockenfrei. Der letzte Pockenfall war ein junger Koch aus Somalia. Er genas und sollte später einer der wichtigsten lokalen Impfkoordinatoren der WHO werden.
Mit der erfolgreichen Kampagne in Ostafrika ist es der Menschheit zum ersten und bisher einzigen Mal gelungen, eine Pandemie dauerhaft zu besiegen. Am 8. Mai 1980 konnte die Weltgesundheitsorganisation die Pocken für weltweit ausgerottet erklären. Die Impfpflicht wurde daraufhin wieder aufgehoben.
Neben der WHO gibt es in vielen Ländern nationale Behörden, die für den Schutz der Bevölkerung vor Infektionskrankheiten zuständig sind, in den USA zum Beispiel die Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta, in Russland das staatliche Forschungszentrum für Virologie und Biotechnologie in Nowosibirsk. Beide verfügen auch noch über echte Virenstämme, um im Bedarfsfall schnell neuen Impfstoff herstellen zu können. In Deutschland ist es das Robert-Koch-Institut (RKI)
Aber wer war eigentlich Robert Koch, und warum wurde ein so wichtiges nationales Institut nach ihm benannt?
Zusammenfassung
Im Osmanischen Reich war eine Methode der kontrollierten Pockeninfektion verbreitet. Anfang des 18. Jahrhunderts erreichte sie auch Mitteleuropa.
Dieses Verfahren der Infektion gesunder Menschen mit Pockenviren bezeichnet man als „Variolation“. Der Begriff stammt vom lateinischen variola ab_,_ was „Pocken“ bedeutet.
Das Verfahren war für viele Menschen hilfreich, aber noch nicht ausgereift. Bis zur ersten wirksamen Schutzimpfung gegen Pocken sollten noch einige Jahrzehnte vergehen.
Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte der britische Arzt Edward Jenner eine wirksame und ungefährliche Immunisierung mit den harmlosen Kuhpocken. Weil sich Jenner das Impfverfahren nicht patentieren ließ, konnte es sich schnell, wirksam und kostengünstig verbreiten.
In den 70er-Jahren organisierte die Weltgesundheitsorganisation WHO eine global angelegte Impfkampagne gegen die Pocken.
Durch eine Impfpflicht konnten bis 1980 die Pocken vollständig ausgerottet und damit erstmals eine Pandemie durch flächendeckende Impfungen beendet werden. Nach dem Erfolg der global angelegten Kampagne wurde die Impfpflicht wieder aufgehoben.
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Richtige Antworten:
1. B) Eine englische Adelige
2. A) Pockenviren
3. C) Variolation
4. A) Blattern
5. D) Kuhpocken
6. B) Die WHO