Sexualisierte Gewalt ist kein Phänomen der heutigen Zeit. Schon in der Bibel kommt sie vor. In dieser Geschichte erfährst du, wie die Malerin Artemisia Gentileschi sich im Zeitalter des Barock diesem Thema näherte.
Die Sonne brennt vom Himmel, Susanna sehnt sich nach einem erfrischenden Bad. Sie lässt ihre Diener Tücher, Öle und Salben bringen und die Tore ihres Gartens verriegeln. Niemand soll sie bei ihrem Bad stören. Susanna ahnt nicht, dass die Gefahr bereits innerhalb der Mauern lauert.
Seit Tagen folgen ihr zwei Männer, beobachten jeden ihrer Schritte. Sie gehören zu den sogenannten Ältesten, also an Lebenserfahrung reichen, hochangesehenen Männern. Sie sind von Beruf Richter und gehen also solche im Haus von Susannas Ehemann in Babylon ein und aus. Die junge, schöne Frau hat es ihnen angetan. Als sie endlich allein ist, gibt es kein Halten mehr. Die Männer kommen aus ihrem Versteck hervor und bedrängen die wehrlose Frau: „Schlaf mit uns! Oder wir erzählen deinem Mann, dass wir dich auf frischer Tat beim Ehebruch mit einem jungen Mann erwischt haben. Darauf steht die Todesstrafe!“
Susanna weigert sich, sie vertraut auf Gott und seine Gerechtigkeit. Erbost wenden sich die Männer ab, eilen zu ihrem Gatten und berichten vom angeblichen Betrug seiner Frau. Jojakim und der herbeigerufene Rest der Gemeinschaft glauben den beiden Ältesten. Ihr Wort hat Bedeutung, Susannas dagegen nicht. Sie wird zum Tod verurteilt. Doch ihr Gottvertrauen wird belohnt. Der junge Prophet Daniel entlarvt dank göttlicher Eingebung die Lügen der beiden Täter und rettet das Leben der unschuldigen Susanna.
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Jetzt runterladen!Die biblische Erzählung von Susanna und den Ältesten, auch bekannt als „Susanna im Bade“, findet sich im Buch Daniel, im Alten Testament. Sie ist ein beliebtes Motiv in der bildenden Kunst und auch so bekannte Künstler wie zum Beispiel Rembrandt van Rijn, Peter Paul Rubens oder Jacopo Tintoretto beschäftigten sich mit diesem Thema. Doch schon zuvor, im Mittelalter, wurde die Geschichte in Bilderzyklen dargestellt. Die falsche Anklage, die Lügen der Ältesten, deren Aufdeckung und Bestrafung standen dabei im Vordergrund. Mit dem 16. Jahrhundert änderte sich die Darstellung. Jetzt lag der Fokus auf Susannas Bad und wie sie von den lüsternen Alten beobachtet und bedrängt wird. Dabei nahmen sich die Maler eine künstlerische Freiheit, die in der Bibel so nicht vorkommt: Sie malten Susanna nackt. Die Künstler nutzten damit ein religiöses Motiv als Vorwand, um eine unbekleidete, erotische Frau darstellen zu können – ein Aktbild. Die reine Aktmalerei ohne thematischen Aufhänger wäre damals nämlich unmöglich gewesen.
Als Vorbild diente ihnen eine Grafik des zeitgenössischen italienischen Künstlers Annibale Carracci. Solche Grafiken ließen sich als „gedruckte Bilder” massenhaft vervielfältigen und in alle Welt verkaufen. Somit waren sie für Maler die häufig einzige Möglichkeit, Stile und Motive ortsfremder Kollegen kennenzulernen. Auch die junge Artemisia Gentileschi orientierte sich am Werk ihres Landsmanns, als sie 1610 ein Ölgemälde dieses Themas schuf. Doch anders als Annibale Caracci reduzierte sie in ihrer Version von Susanna und die beiden Alten die Szene auf das Wesentliche: die schöne, nackte, junge Frau und die beiden aufdringlichen, alten Männer. Kein üppiger Garten lenkt mehr vom Geschehen ab. Selbst die Architektur des Brunnenbeckens nutzt Artemisia geschickt für ihre Bildaussage: Die Brunnenumrandung zieht sie bewusst hoch wie einen steinernen Vorhang, der Susanna eigentlich Sichtschutz bieten sollte und ihre Ehrbarkeit unterstreicht. Die beiden Männer hingegen scheren sich nicht um Anstand und Moral. Sie lehnen sich gaffend über die Brüstung – eine Grenzüberschreitung im doppelten Sinne, die Artemisia gekonnt in Szene setzte. Man hört förmlich ihr bösartiges Raunen, mit dem sie versuchen, die Frau gefügig zu machen. Uns packt schon vom bloßen Hinschauen der Ekel, wir fühlen mit der hilflosen, angeekelten Susanna, und sind versucht, uns mit ihr wegzudrehen und wie sie abwehrend die Hände zu heben. Zugleich führt die junge Künstlerin dem Betrachter in der Figur der Susanna vor, wie meisterhaft ihr bereits die künstlerisch sehr anspruchsvolle Darstellung der Drehung gelingt.
Der berühmte Renaissance-Künstler Michelangelo hatte bereits ein Jahrhundert zuvor diese komplizierten, doch dadurch künstlerisch besonders reizvollen Drehbewegungen in Mode gebracht. Durch Grafiken waren seine Werke weithin bekannt, und auch Artemisia wird sich an seinen Kompositionen geschult haben. Ebenso beherrschte sie bereits die naturgetreue anatomische Darstellung der Muskeln, Knorpel und Knochen unter der Haut. Sie modelliert sie im Spiel von Licht und Schatten. Zarter Glanz unterstreicht die Reinheit der hellen, weichen Haut Susannas. Ein neuerlicher Gegensatz zu den sonnenverbrannten, faltigen Gesichtern der Alten.
Mit diesem Werk wird Artemisia Gentileschi für uns heute erstmalig als Künstlerin sichtbar, denn es ist ihr erstes signiertes und datiertes Gemälde. Es hängt derzeit in der Sammlung Schloss Weißenstein im deutschen Pommersfelden. Aber trotz der Signatur wurde Artemisias Urheberschaft lange abgestritten. Viel zu gut sei das Werk für ein Mädchen, das gerade einmal 17 Jahre alt ist, hieß es. Man vermutete vielmehr, dass sie zusammen mit ihrem Vater daran gearbeitet habe. Tatsächlich ähnelt der Stil dem von Orazio Gentileschi – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Artemisia bei ihm gelernt und seinen Stil und seine Technik vermittelt bekommen hatte. Beide Gentileschis waren in ihrem Stil übrigens hauptsächlich von Caravaggio beeinflusst.
Doch ihre naturalistische, sinnliche Susanna setzt sich von den Frauengestalten Orazios ab. Artemisia stellt eine Frau dar, die sich in einer Notlage befindet. Eine Frau, die entsetzt und angeekelt ist. Ihr Gemälde weckt Zorn und Mitgefühl mit dem Opfer. Das setzt Artemisia Gentileschi von ihren männlichen Künstlerkollegen ab und macht ihr Gemälde einzigartig.
Artemisia schuf des Öfteren mehrere Versionen desselben Themas, wie beispielsweise von Judith und Holofernes. Aber auch von Susanna und den Ältesten (engl. Susanna and the Elders) gibt es mehrere Versionen. Die späteste schuf sie 1652. Es ist zugleich das letzte Gemälde, das sie signierte. Wenig später starb sie.
In ihrer langen Karriere hat Artemisia zahlreiche Gemälde zum Thema Frauen geschaffen und auch sich selbst in mehr als einem Selbstporträt verewigt. Sie malte biblische, mythologische oder historische Gestalten wie Susanna, Judith, Danaë oder Kleopatra. Ihre Figuren sind jung, schön, sinnlich – und oft nackt. Denn auch Artemisia Gentileschi nutzte religiöse oder mythologische Motive als Vorwand für künstlerisch reizvolle Aktdarstellungen. Vor allem Susanna, die in der Bibel Tugend und Keuschheit personifizierte, wurde zum erotischen Motiv. Die Spannung zwischen Keuschheit und Treue einerseits sowie Verführung und Erotik andererseits war den Betrachtern bewusst – entsprechend ergötzte man sich daran. Spätere Frauenakte von Artemisia Gentileschi tragen heroische Züge.
Zusammenfassung
Artemisia Gentileschis erstes signiertes Gemälde überhaupt stammt aus dem Jahr 1610 und heißt „Susanna und die Ältesten“.
In dem Gemälde geht es um eine biblische Geschichte über Keuschheit, Verrat und Gerechtigkeit.
Ab dem 16. Jahrhundert wurde die Darstellung dieser Bibelgeschichte häufig als Vorwand genutzt, um erotische Akte malen zu können.
Susanna wurde in Gemälden ab dem 16. Jahrhundert meist nackt dargestellt, beobachtet oder bedrängt von den beiden Ältesten. So auch in Artemisias Gemälde.
Lange traute man der damals erst 17-jährigen Künstlerin nicht zu, ein derart gelungenes Gemälde selbst geschaffen zu haben. Zu ungewöhnlich war es, dass eine Frau ebenso gut malen können sollte wie ein Mann.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. B) erstes signiertes und datiertes Gemälde
2. A) Bibel, Altes Testament
3. D) Susannas Nacktheit
4. C) 17
5. A) Daniel