Januar 1942: Mit dem Kriegseintritt der USA hatte Nazi-Deutschland eine weitere Großmacht gegen sich. Doch das schien die Führungsriege um Adolf Hitler nicht weiter zu beunruhigen. Sie beschäftigte sich lieber mit der Frage, wie die Juden Europas am effizientesten vernichtet werden könnten. In dieser Story erfährst du, wie eiskalt der grässlichste Völkermord der Menschheitsgeschichte geplant wurde.
Gemächlich rollt der schwarze Wagen durch den Wald bei Berlin. Er verlässt die Hauptstraße und biegt in einen Weg ein, der am Ufer des Wannsees entlang zu einer großen Villa führt. Der Fahrgast auf der Rückbank lässt seine Blicke über das protzige Gebäude wandern und lächelt spöttisch. Eine Nummer kleiner wäre wohl auch gegangen – aber er kennt den heutigen Gastgeber, den Chef des Reichssicherheitshauptamts, und dessen Hang zum Bombastischen.
Eines ist jedenfalls sicher: Heute ist ein Freudentag für alle arischen Deutschen, denn in wenigen Stunden soll endlich eine wirtschaftlich sinnvolle Lösung für ihr größtes Problem gefunden sein! Am Konzept dafür hat er selbst mitgearbeitet - und es ist gut geworden! All die mühseligen Versuche mit Autoabgasen oder Blausäure werden der Vergangenheit angehören, erst recht die viel zu auffälligen Massenerschießungen auf freiem Feld und in irgendwelchen Wäldern ...
Adolf Eichmann greift nach seiner Aktentasche, setzt die Uniformmütze mit dem Totenkopf auf, rückt sie zurecht und schwingt sich aus dem Wagen. Er ist zuversichtlich: Die „Endlösung der Judenfrage“ wird sauber und effizient sein.
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Jetzt runterladen!Die sogenannte Wannsee-Konferenz zählt bis heute zu den verstörendsten Ereignissen aller Zeiten. Am 20. Januar 1942 kamen in der Villa Am Großen Wannsee 15 Spitzenvertreter der NSDAP zu einer streng geheimen Unterredung mit anschließendem Frühstück zusammen. Vom Ministerialdirektor der Reichskanzlei bis zum Staatssekretär des sogenannten „Generalgouvernements” im besetzten Zentralpolen. Auf der Gästeliste von Reinhard Heydrich, dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD, standen in alphabetischer Reihenfolge: Dr. Josef Bühler, Adolf Eichmann, Dr. Roland Freisler, Otto Hofmann, Dr. Gerhard Klopfer, Friedrich Wilhelm Kritzinger, Dr. Rudolf Lange, Dr. Georg Leibbrandt, Martin Luther, Dr. Alfred Meyer, Heinrich Müller, Erich Neumann, Dr. Eberhard Schöngarth, Dr. Wilhelm Stuckart. Auf der Tagesordnung hingegen stand nur ein einziges Thema: der systematische Völkermord an den Juden Europas. Bis ins letzte technische Detail sollte etwas organisiert werden, was in der menschenverachtenden Nazi-Sprache die „Endlösung der Judenfrage“ hieß. Und als ob dieser Umstand nicht schon entsetzlich genug gewesen wäre, schockiert im Nachhinein vor allem die nüchterne Herangehensweise der Konferenzteilnehmer. Der systematische Völkermord wurde mit einer derart bürokratischen Sachlichkeit durchgesprochen, als handelte es sich um die Planung eines technischen Großprojekts. Adolf Eichmann, im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zuständig für „Juden- und Räumungsangelegenheiten“, führte das Protokoll. Die übrigen Männer am Tisch waren unter anderem für die wirtschaftliche Ausplünderung der Ostgebiete oder für die Ausbeutung von Zwangsarbeitern verantwortlich. Ohne jedes Anzeichen von Mitgefühl berät die Runde darüber, wie sie die Behörden der besetzten Gebiete in die geplanten Massenmorde einbinden oder wie sie die zahllosen Menschen möglichst schnell und reibungslos in die Vernichtungslager im Osten schaffen könnten. Ganz unverblümt habe man die Sache besprochen, sagte Adolf Eichmann später vor Gericht in Jerusalem aus.
Es wurde nicht etwa darüber diskutiert, ob der organisierte Massenmord überhaupt stattfinden sollte, denn die Einsatzkommandos der Nazis hatten in Polen und der Sowjetunion längst damit begonnen. Die große Frage an diesem 20. Januar war vielmehr, auf welche Art und Weise dies am effizientesten geschehen könnte. Also ging man die Landkarte Europas durch und legte fest, in welchem Land wie viele Juden zu sterben hatten – Frankreich: 865.000, England: 330.000, Sowjetunion: 5 Millionen. „Sonderbehandlung“ lautete die zynische Bezeichnung dafür. Gegenstimmen gab es keine, und die einzige Frage, über die am Ende wirklich noch diskutiert wurde, war: Sollten sogenannte „Halbjuden“ auch dieser „Sonderbehandlung“ unterzogen werden?
Die Nationalsozialisten teilten die Menschheit in Rassen ein und setzten zugleich ihren Begriff der „Rasse“ mit dem des Volkes gleich. Das deutsche Volk gehörte nach diesem absurden Weltbild der „arischen“ Rasse an, die allen anderen Rassen von Natur aus überlegen sei. Das Judentum war für sie nicht einfach eine Glaubensgemeinschaft, sondern eine angeblich minderwertige Rasse, die zum Schutz der sogenannten Arier vernichtet werden müsste. Bereits 1935 hatte der Reichstag, der nur noch ein Scheinparlament Hitlers war, in Nürnberg die sogenannten Rassengesetze beschlossen. Darin war nach peniblen Kriterien festgelegt, wer „Reichsbürger“ und wer lediglich „Staatsangehöriger“ sein durfte. Jüdische Menschen und sogenannte „Mischlinge“ verloren mit diesen Gesetzen ihre politischen Rechte im Deutschen Reich. Ebenso waren Sinti und Roma betroffen. Sie alle sollten sterben: Männer, Frauen und Kinder.
Nach nur 90 Minuten hatten 15 Schreibtischtäter das Schicksal von mehr als sechs Millionen Menschen besiegelt. Und schon in den folgenden Tagen wurde mit der Umsetzung ihres Plans begonnen – in Auschwitz, Belzec, Treblinka und weiteren Vernichtungslagern im Osten.
Aber: Woher weiß man eigentlich, was auf der Wannsee-Konferenz tatsächlich vor sich ging? Schließlich war sie ja eine Geheimkonferenz, auf der keinerlei Beobachter zugelassen waren. Und die Abschriften des Protokolls waren gegen Ende des Krieges allesamt vernichtet worden oder gelten als verschollen. Alle außer einer! Letztlich handelt es sich um eine bitterböse Ironie der Weltgeschichte: Einer der Teilnehmer – er war Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt und hieß ausgerechnet Martin Luther – hatte keine Möglichkeit mehr, seine Wannsee-Akte verschwinden zu lassen. Denn er war 1943 bei der NSDAP in Ungnade gefallen und in ein Konzentrationslager abtransportiert worden. Seine Protokoll-Kopie sollte deshalb die einzige sein, die den Amerikanern in die Hände fiel. Aus diesen 15 Seiten erfuhr die Welt, wie die Nazis mit bürokratischer Gründlichkeit das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte planten – um es ohne Verzug in die Tat umzusetzen ...
Im Haus der Wannsee-Konferenz Am Großen Wannsee befindet sich heute eine Gedenk- und Bildungsstätte, die sich mit dem Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden auseinandersetzt. Anlässlich des 80. Jahrestages der Wannsee-Konferenz zeigte das ZDF im Januar 2022 den gleichnamigen Spielfilm des Regisseurs Matti Geschonneck (Besetzung: Philipp Hochmair, Johannes Allmayer, Godehard Giese, Jakob Diehl, Thomas Loibl, Peter Jordan, Sascha Nathan, Frederic Linkemann, Maximilian Brückner, Simon Schwarz, Fabian Busch, Markus Schleinzer, Matthias Bundschuh, Arnd Klawitter, Rafael Stachowiak und Lilli Fichtner).
Zusammenfassung
Auf Einladung des Gestapo-Chefs Reinhard Heydrich trafen sich am 20. Januar 1942 fünfzehn Spitzenfunktionäre des NS-Regimes in einer Villa am Großen Wannsee zu einer streng geheimen Konferenz.
Einziger Tagesordnungspunkt der von Adolf Eichmann protokollierten Konferenz war die industriemäßige Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas.
Auf der sogenannten Wannsee-Konferenz wurde nicht der Holocaust als solcher beschlossen, sondern dessen logistische Umsetzung.
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Richtige Antworten:
1. C) In einer Villa am Berliner Wannsee
2. A) Reinhard Heydrich
3. B) Um die organisierte Vernichtung der europäischen Juden
4. D) Adolf Eichmann