„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Dieser berühmte Satz stammt aus Simone de Beauvoirs Buch „Das andere Geschlecht“. Als es 1949 erschien, sorgte es für einen handfesten Skandal. In dieser Story erfährst du, warum es trotzdem einen unvergleichlichen Siegeszug antrat und warum es heute das Standardwerk der Frauenbewegung ist.
Eigentlich sollte Simone de Beauvoir froh und glücklich sein: Ihr Geliebter aus den USA, der Schriftsteller Nelson Algren, ist zu Besuch in Paris. Er begeistert sein Publikum mit Geschichten von allerlei schillernden Gangstern und traurigen Prostituierten. Und Simone wäre auch glücklich, wenn da nicht dieses Getuschel wäre … Denn ganz gleich, wohin sie geht, immer folgen ihr abfälliges Lachen und Wispern. Man zeigt auf sie. Im Café de Flore starren die Leute am Nebentisch sie ungeniert an. Wieder dieses Getuschel. Algren ist völlig klar, dass man dort über seine Freundin spricht. Während die äußerlich gelassen bleibt, könnte Algren explodieren. Unglaublich, das alles! Als er Simone vor zwei Jahren in Chicago kennenlernte, war sie in ihrer Heimat zwar schon eine bekannte Philosophin und Schriftstellerin des Existenzialismus. Doch plötzlich ist sie eine Berühmtheit – und das nur, weil sie ein Buch über Frauen geschrieben hat …
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Jetzt runterladen!Die Lektüre, die solche Wellen schlägt, heißt „Das andere Geschlecht“ und ist 1949 in zwei Bänden erschienen. Eigentlich ist es eher zufällig entstanden. Simone de Beauvoir war auf der Suche nach einem neuen Projekt gewesen. Sie hatte Lust, über sich selbst zu schreiben. Als Erstes wollte sie fragen: Was bedeutet es für mich, eine Frau zu sein? De Beauvoir ging davon aus, dass sie mit der Antwort schnell fertig sein würde. „Schließlich hat mein Geschlecht nie eine Rolle für mich gespielt“, behauptete sie. Doch ihr Lebensgefährte Jean-Paul Sartre gab zu bedenken, dass sie dennoch anders erzogen worden sei als ein Junge. Das müsse man genauer untersuchen.
Und das tat De Beauvoir schließlich. Sie untersuchte. Schon bald stellte sie erstaunt fest: „Diese Welt ist eine Männerwelt, meine Jugend wurde mit Mythen gespeist, die von Männern erfunden worden waren.“ Jetzt war sie Feuer und Flamme und machte sich an die Arbeit: Es sollte eine Studie über die Situation der Frau werden.
Herausgekommen sind gut tausend Seiten, die im französischen Original den Titel „Le deuxième sexe“ tragen. Zu deutsch: „Das zweite Geschlecht“. Noch vor seiner Veröffentlichung sorgte das Buch für Aufregung. Denn in der von De Beauvoir und Sartre herausgegebenen Kulturzeitschrift „Les Temps Modernes“ war ein Textauszug erschienen: ein Kapitel über den Sexus der Frau. Das brachte viele Männerseelen gehörig durcheinander. De Beauvoir wurde mit Briefen bombardiert, in denen man ihr wahlweise vorwarf, sexuell unbefriedigt oder sexsüchtig zu sein. Manche behaupteten, sie sei gestört oder womöglich lesbisch. Die negativen Reaktionen – heute würde man „Shitstorm“ dazu sagen – schildert sie auch im dritten Band ihrer Autobiografie, „Der Lauf der Dinge“. Doch der Skandal war gut fürs Geschäft, denn das Buch entwickelte sich im Nu zu einem Bestseller.
Aber was genau erregte eigentlich die Gemüter? Der nüchterne Schreibstil war es sicher nicht. Der Inhalt aber hat es in sich! Als „Das andere Geschlecht“ Ende der 1940er-Jahre erschien, war die französische Gesellschaft noch katholisch geprägt. Frauen hatten zwar seit Kurzem das Wahlrecht, der Einsatz von Verhütungsmitteln und Schwangerschaftsabbrüche waren jedoch vom Vatikan verboten und wurden hart bestraft. Die Regierung verfolgte eine Politik der aktiven Geburtenförderung, wonach Frauen brav ihre Rollen als Ehefrauen und Mütter zu erfüllen hatten. De Beauvoir empfand das im Grunde als eine gesellschaftliche Versklavung. Kein Wunder also, dass sie in ihrem Buch drastische Worte fand: „Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich selbst: Sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen.“ In de Beauvoirs existenzialistisch geprägter Wissenschaftlichkeit ausgedrückt sieht der Mann sich selbst als das Subjekt, als das Eine. Die Frau hingegen ist aus männlicher Sicht das Objekt, das Andere. Es ist der Mann, der festlegt, wie die Frau ist oder sein soll. Er weist ihr eine Position in der Gesellschaft zu. Da gibt es nur ein Problem: Die Frau sieht sich nämlich ebenfalls als Subjekt, das denkt und handelt. Und sie möchte ebenfalls frei sein und ein selbstbestimmtes Leben führen!
Woran aber liegt es, dass die wenigsten Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen können?, fragt Simone de Beauvoir und stellt schließlich fest: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Kein anderer Satz aus ihrer Feder wird so oft zitiert wie dieser. Was aber bedeutet er genau? Nun, für de Beauvoir ist Biologie kein Schicksal. Deshalb gebe es auch weder typisch weibliche Verhaltensweisen noch typisch weibliche Charaktereigenschaften. Denn neben der Biologie seien es vor allem kulturelle und gesellschaftliche Faktoren, die das Geschlecht bestimmen. De Beauvoir unterscheidet also strikt zwischen dem biologischen Geschlecht und der zugewiesenen Geschlechterrolle. Sie analysiert schonungslos, warum Frauen gesellschaftlich benachteiligt werden und welche Macht Geschlechterrollen und Rollenbilder haben. So werde Weiblichkeit fast zu etwas Heiligem erhöht und jedem Mädchen von klein auf vermittelt, dass es eine richtige und eine falsche Art gibt, weiblich zu sein. Das Ergebnis: Die Frau kann sich nicht frei entfalten und bleibt das Objekt. Das Andere.
De Beauvoir argumentiert auch hier im Sinne des Existentialismus. Der Existentialismus besagt, dass der Mensch völlig frei auf die Welt kommt und sich auf keine vorgegebene Natur berufen kann. Einmal in der Welt, wird er durch sein Handeln bestimmt. Und genau hier hat die Frau ein Problem. Denn sie hat diese Freiheit zur Entscheidung nicht. Aufgrund ihres biologischen Geschlechtes wird ihr eine feste Rolle zugewiesen: die Rolle der Frau. Und wie diese Rolle auszusehen hat, das wird von der männlich geprägten Gesellschaft definiert. Sie hat vor allem hübsch und höflich zu sein. Sie ist eben nur eine Frau, das andere Geschlecht an der Seite des Mannes. Und genau das kritisierte De Beauvoir in ihrem Buch: Eine Frau, die doch eigentlich genau wie der Mann zunächst als Mensch – als freies Wesen – zur Welt kommt, wird erst durch die Gesellschaft zu einem Menschen zweiter Klasse gemacht: zur Frau eben. Simone de Beauvoir aber setzte sich dafür ein, dass auch die Frau endlich von ihrer doch eigentlich naturgegebenen Freiheit Gebrauch machen konnte.
Aber was muss passieren, damit die Situation der Frau sich ändert? Darauf hatte De Beauvoir ganz klare Antworten. So forderte sie zum Beispiel nicht nur, dass Frauen freien Zugang zu Verhütungsmitteln haben müssen, sondern auch legale Schwangerschaftsabbrüche. Es reiche auch nicht, dass Frauen über bürgerliche Freiheiten wie das Wahlrecht verfügen – genauso wichtig sei ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit. Letztlich könnten Frauen aber nur dann wirklich frei sein, wenn sie sich selbst mit den Männern auf eine Stufe stellen – und zwar als Menschen. Ohne die Fesseln starrer Geschlechtszuschreibungen und Rollenbilder. Um das zu erreichen, nahm De Beauvoir alle Menschen in die Pflicht. Denn sie begreift Freiheit als Verantwortung: Wer frei sein will – egal ob Frau oder Mann –, der muss sich auch für die Freiheit anderer Menschen einsetzen. De Beauvoir selbst engagierte sich später in der französischen Frauenbewegung und kämpfte mit anderen Feministinnen unter anderem für die Legalisierung der Abtreibung.
1949 mag man sich über Simone de Beauvoir und ihre Thesen zur Gleichberechtigung noch lustig gemacht haben, doch wer zuletzt lachte, war Simone de Beauvoir: „Das andere Geschlecht“ wurde in der Neuen oder Zweiten Frauenbewegung der 1970er-Jahre das feministische Standardwerk schlechthin – auch in Deutschland. Damals demonstrierten Frauen bundesweit für die Straffreiheit bei Schwangerschaftsabbrüchen.
Bis heute wird es gelesen und diskutiert. Denn was schon de Beauvoir feststellte, gilt noch immer: „Die freie Frau wird gerade erst geboren.“
Um Befreiung geht es auch in einem anderen Roman von Simone de Beauvoir. Er ist preisgekrönt und heißt: „Die Mandarins von Paris“ …
Zusammenfassung
„Das andere Geschlecht“ ist ein sozialgeschichtliches philosophisches Werk in zwei Bänden: „Les faits et les mythes“ („Fakten und Mythen“) sowie „L’expérience vécue“ („Gelebte Erfahrung“). Auszüge erschienen bereits ab 1948 in der Zeitschrift Les Temps Modernes.
Als der zweiteilige Essay 1949 als Buch erschien, war Frankreich noch katholisch geprägt; der Einsatz von Verhütungsmitteln und Schwangerschaftsabbrüche wurden hart bestraft.
Der berühmteste Satz aus Simone de Beauvoirs Buch „Das andere Geschlecht“ lautet: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Aus de Beauvoirs Sicht bestimmt nicht die Biologie über Schicksal und Lebensweg, sondern der kulturelle und gesellschaftliche Einfluss.
Für Simone de Beauvoir war es selbstverständlich, dass der Mensch, der frei sein will, auch Verantwortung für andere Menschen übernimmt.
De Beauvoir engagierte sich in der französischen Frauenbewegung und kämpfte unter anderem für die Legalisierung der Abtreibung.
In Deutschland wurde „Das andere Geschlecht“ u.a. 1951 bei Rowohlt Taschenbuch und 1992 als Neuübersetzung von Grete Osterwald und Uli Aumüller bei Rowohlt veröffentlicht.
Das Werk wurde zum Standardwerk der sogenannten Zweiten Frauenbewegung und zum Fundament der Frauen- und Geschlechterbewegung (Gender Studies).
Weiterführende Literatur: Margarete Stokowski, „Untenrum frei“ (2016); „Die letzten Tage des Patriarchats“ (2018; beide bei Rowohlt erschienen).
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. B) Simone de Beauvoir
2. D) „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“
3. C) Die Rolle der Frau in der Gesellschaft
4. A) Patriarchat
5. B) Vorherrschaft der Männer