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„Die Mandarins von Paris”

Fragen an eine neue Zeit
Das Bild zeigt eine lebhafte Pariser Straßenszene bei Sonnenuntergang oder Morgendämmerung mit dramatischem rotem Himmel. Menschen gehen auf den Gehwegen und Lichter scheinen aus den Fenstern eines Eckgebäudes, was an die Atmosphäre der "Mandarins von Paris" erinnern könnte.
„Die Mandarins von Paris”
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Inhalte

Intro

In diesem Roman lässt Simone de Beauvoir die französische Hauptstadt der Nachkriegszeit lebendig werden. Das Werk gilt als sogenannter Schlüsselroman. Was das bedeutet und warum auch dieses Buch wieder für allerhand Wirbel sorgte, erfährst du in dieser Story.

Kapitel 1: Ein Manuskript und viele Gerüchte

Das Buch ist noch nicht erschienen und schon eine literarische Sensation! Das Manuskript geht von Hand zu Hand und wird heftig diskutiert: „Dieser Charakter, das ist doch … Und die hier, die ähnelt ja nun wirklich …“ Es scheint, als gäbe es in Paris kein anderes Thema mehr als diesen umstrittenen Roman. Schon bald geht das Gerücht um, seine Autorin könne dafür sogar den Prix Goncourt bekommen … Und tatsächlich: Keine zwei Wochen nach Erscheinen des Romans „Die Mandarins von Paris“ wird Simone de Beauvoir mit dem wichtigsten Literaturpreis Frankreichs ausgezeichnet. Zig Interview- und Fototermine warten nun auf sie, ein Presserummel sondergleichen. Doch De  Beauvoir hat beschlossen, bei dem ganzen Theater nicht mitzumachen. Schon seit Tagen ist sie abgetaucht. Die Presse ist höchst empört, schließlich will man endlich eine Antwort auf die eine Frage, die nicht nur das literarische Paris umtreibt: Wie viel de Beauvoir steckt denn nun in diesem Roman?

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Kapitel 2: Alles in Bewegung

Heute ist klar: In diesem Roman steckt viel de Beauvoir. Immerhin geht es um Freundschaft, Liebe und Politik. Und er spielt in einem Milieu, in dem auch Simone de Beauvoir und ihr Partner Jean-Paul Sartre zuhause sind: die linksintellektuellen Kreise von Paris. Dort verkehren Schriftsteller und Künstler, man ist belesen, gebildet und politisch links. Und ähnlich wie die privilegierten Beamten im chinesischen Kaiserreich, die Mandarine, sind auch sie in gewisser Weise vom restlichen Volk abgeschnitten. So ist dann auch der Buchtitel „Die Mandarins von Paris“ zu erklären. 

„Mandarins“? Die Mandarine waren im alten Kaiserreich China hochgebildete Regierungsbeamte und Politiker, die eine eigene, höchst elitäre soziale Kaste bildeten. Ganz ähnlich schildert Simone de Beauvoir ihre philosophisch gebildete Pariser Literaten-Community. Eindringlich erzählt sie in ihrem Roman von den Herausforderungen, vor denen französische Linksintellektuelle nach dem Zweiten Weltkrieg stehen. Während des Kriegs waren Gut und Böse, Falsch und Richtig leicht voneinander zu unterscheiden gewesen. Jetzt aber ist die Welt kompliziert, alles befindet sich in Auflösung oder im Umbruch. Frankreich ist schwer zerstört und politisch zersplittert. Seine Widerstandsbewegung, die Résistance, hatte zusammen mit Briten und Amerikanern unter großen Opfern gegen die Hitler-Truppen gekämpft, während sich die sogenannte Vichy-Regierung und deren Anhänger den deutschen Besatzern angedient hatten. Daher zählt das Land nicht unmittelbar zu den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs. Das erzeugt Wut und Hass auf die Kollaborateure – also diejenigen Franzosen, die mit den Nazis zusammengearbeitet hatten.

Der beginnende Kalte Krieg reißt eine immer tiefer werdende Kluft zwischen den westlichen und den östlichen Block. Dies stellt auch Frankreich vor innenpolitische Konflikte. Um den dringend nötigen Wiederaufbau voranzubringen, wird sich Frankreich einer der beiden Supermächte annähern müssen: den kapitalistischen USA oder der kommunistischen Sowjetunion. In ihr sehen die meisten Linken nach wie vor all ihre revolutionären Ideale vereint. Doch die schöne Fassade wird bald bröckeln.

Kapitel 3: Enttäuschte Liebe

Die beiden Hauptfiguren in de Beauvoirs Roman heißen Henri Perron und Anne Dubreuilh. Henri ist um die 30, erfolgreicher Romanautor, Journalist und ehemaliger Widerstandskämpfer. Anne ist Psychoanalytikerin und mit dem gut zwanzig Jahre älteren Schriftsteller Robert Dubreuilh verheiratet. Zu ihnen gesellen sich weitere Charaktere wie etwa die ehemalige Sängerin Paule Mureuilh, Annas Freundin und Henris Geliebte. Sie hat ihre Karriere aufgegeben, um ihr Leben Henri zu widmen, doch der enttäuscht sie bitter, als er sich der jungen Schauspielerin Josette Belhomme zuwendet. Die aber war in ihrer Vergangenheit mit einem Nazi-Offizier verbandelt, was Henri in einen fatalen Gewissenskonflikt treiben wird ...

Jede von de Beauvoires Romanfiguren hadert also mit sich, mit seinem Leben und mit der Welt. Paule verschließt ihre Augen vor der Realität und erleidet schließlich einen Nervenzusammenbruch. Henri kämpft mit einer Schreibblockade und gönnt sich eine Auszeit in Portugal. Dort wird er mit sozialen Ungerechtigkeiten konfrontiert und um Hilfe gebeten. Er beginnt, über Sinn und Selbstzweck von Literatur und Journalismus nachzudenken. Kann Literatur überhaupt noch irgendetwas bewirken? Worin besteht die Macht des geschriebenen Wortes?

Robert hingegen hat beschlossen, sich politisch zu engagieren. Nur so lasse sich die Gesellschaft verändern, meint er und sagt: „Man kann kein korrektes Leben in einer Gesellschaft führen, die nicht korrekt ist.“ Seine Frau Anne wiederum beschäftigen private Probleme: Sie fühlt sich einsam und ist unglücklich in ihrer Ehe, weil Robert mehr väterlicher Freund als Geliebter ist. Schließlich geht sie auf Lesereise nach Amerika und stürzt sich dort in eine leidenschaftliche Affäre mit einem Mann namens Lewis Brogan ...

Kapitel 4: Endlich das „Richtige“ tun

Wer nun aber in „Die Mandarins von Paris“ einen reinen Liebesroman vermutet, liegt falsch. Vor dem historischen Hintergrund der Nachkriegsjahre bearbeitet Simone de Beauvoir klassische Themen und Werte des Existenzialismus: Freiheit, Verantwortung und Wahrhaftigkeit, aber auch Angst und Tod. Ihre Charaktere werden ständig vor die Entscheidung gestellt, nach ihren oder gegen ihre Überzeugungen zu handeln. Sie schlagen sich mit Gewissenskonflikten herum, wobei jeder auf seine Art bemüht ist, das Richtige zu tun. Aber was ist das überhaupt, das „Richtige“?

Für den Philosophen Robert ist die Sache klar: Er findet, auch Henri solle sich links-politisch engagieren. Und was wäre dafür besser geeignet als dessen Tageszeitung L’Espoir, die Henri mit Mühe durch die ersten Nachkriegswirren gerettet hat? Doch der Journalist zögert. Bei allen politischen Diskussionen und Erwartungen, die er erfüllen zu müssen glaubt: Er möchte seiner Leserschaft keine Meinung diktieren und pocht auf die politische Unabhängigkeit seiner Zeitung. Dazu gehört für ihn in erster Linie die Wahrhaftigkeit: Auch Unangenehmes, nicht ins erwünschte Bild Passendes darf nicht verschwiegen werden.

Genau das aber fordert Robert von ihm, als sie erfahren, wie die Sowjets mit Regimegegnern umgehen: Das stalinistische Regime hat das grausame und menschenverachtende System der Straflager aus dem einstigen Russischen Zarenreich in den Kommunismus hinübergerettet und lässt darin Andersdenkende und unbequeme Personen verschwinden. Henri verfasst einen Bericht für den L’Espoir. Robert aber will die Veröffentlichung um jeden Preis verhindern, um die französische Linke nicht noch weiter zu spalten und der Rechten keine Steilvorlage für deren antikommunistische Politik zu liefern. Darüber droht ihre Freundschaft zu zerbrechen. Beide Männer ringen mit ihrer persönlichen Verantwortung und der Frage, was richtig und was falsch ist.

Kapitel 5: Der Blick durchs Schlüsselloch

Auch Simone de Beauvoir und ihr Lebensgefährte Jean-Paul Sartre kennen diesen inneren Kampf. Seit Kriegsende gelten die beiden als öffentliche Intellektuelle und zusammen mit dem Schriftsteller Albert Camus zu den Hauptvertretern des französischen Existenzialismus. Man erwartet von ihnen, dass sie zu politischen Themen Stellung beziehen. Immerhin sind de Beauvoir und Sartre Autoren erfolgreicher Bücher und Herausgeber einer politisch-kulturellen Zeitschrift. Und sie stehen im regen Austausch mit lauter bekannten Künstlern. Deshalb wird „Die Mandarins von Paris“ oft als Schlüsselroman gesehen. Von einem Schlüsselroman spricht man, wenn real existierende Personen als fiktive Romanfiguren auftreten, aber mit etwas Kenntnis des Hintergrunds leicht zu erkennen – sprich: zu „entschlüsseln“ sind.

Und der „Schlüssel“ zur Identifizierung der „Mandarins“ liegt in Simone de Beauvoirs eigenem Lebensumfeld dieser Jahre. So trägt Henri einige Züge des Schriftstellers Albert Camus, Mitbegründer des Existenzialismus. Hinter der Figur des Robert Dubreuilh ist – trotz sehr großzügig angelegter dichterischer Freiheit – Jean-Paul Sartre zu erahnen. Roberts Frau Anne, eine erfolgreiche Psychotherapeutin, ist das literarische Pendant der Autorin selbst. Der amerikanische Liebhaber Lewis? Hinter ihm steckt natürlich Nelson Algren, mit dem Simone de Beauvoir auf einer Reise in die USA eine romantische Beziehung einging und dem sie ihren Roman gewidmet hat.

Und dann ist da noch die schillernde Figur des osteuropäischen Einwanderers Victor Scriassine, mit dem die Roman-Anne ein seltsames Date im Ritz-Hotel erlebt: Diese Figur soll den ungarisch-britischen Schriftsteller Arthur Koestler darstellen, der in den späten Vierzigern in den Pariser Linksintellektuellen-Kreisen verkehrte und – angeblich – kurzzeitig mit de Beauvoir liiert gewesen sein soll. Koestler war ursprünglich Kommunist gewesen, hatte sich aber bereits Ende der 1930er-Jahre davon losgesagt. Grund waren die stalinistischen „Säuberungen“ und Schauprozesse in der Sowjetunion: Verbrechen des Sowjet-Regimes gegen die Menschlichkeit, die die Mehrheit der Linken in Europa und Amerika schlicht nicht wahrhaben wollte. Koestlers Roman „Sonnenfinsternis“, der 1940 in England erschien, war eine geharnischte, wenngleich stark umstrittene Abrechnung mit dem Kommunismus – und wurde ein Weltbestseller.

De Beauvoir selbst hat die Interpretation ihres Romans als Schlüsselroman übrigens stets abgelehnt: Sie war ihr zu schlicht. Für die neugierige Öffentlichkeit war und blieb die Lektüre der „Mandarins von Paris“ dennoch der sprichwörtliche Blick durchs Schlüsselloch.

Kapitel 6: Mehr Fragen als Antworten

Der Roman sorgte gehörig für Aufsehen. Doch Simone de Beauvoir war genervt davon, dass alle Welt sich offenbar nur für ihr Privatleben interessierte. Ihr Unmut ist nachvollziehbar, schließlich überzeugt „Die Mandarins von Paris“ vor allem durch literarische Qualität. Wäre der Roman sonst mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet worden, dem renommiertesten Literaturpreis Frankreichs? Tatsächlich ist es de Beauvoirs anspruchsvollster Roman: Es gibt eine vielschichtige Handlung, unterschiedliche Erzählperspektiven und zahlreiche Charaktere. Das Ergebnis ist ein Werk, das Autobiografie, Liebesroman und Zeitgeschichte in einem ist. Und obwohl das Politische im Vordergrund steht, verfolgt de Beauvoir weder politische noch moralische Absichten.

Im Fokus der Handlung steht das „Handeln“ im existenzialistischen Sinne: also definiert als die einzige Möglichkeit zur Verwirklichung des „Ich“. Das menschliche „Sein“ bedeutet für de Beauvoir in erster Linie „Handlung“, deren Ziel die Freiheit ist: Ihr muss der Mensch selbst einen konkreten Inhalt geben. Dazu bedarf es aber auch der Kommunikation mit anderen Menschen, denn deren Freiheit ist Voraussetzung für die eigene Freiheit.

So wirft Simone de Beauvoir zwar viele Fragen auf, doch Lösungsvorschläge sucht man vergeblich. Ihre Leserinnen und Leser müssen sich schon selbst Gedanken machen. Der Erfolg des Romans sollte die Autorin darin bestätigen. Von den Einnahmen kaufte sie sich ihre erste eigene Wohnung, in die sie sich zum Denken und Schreiben zurückziehen konnte – ungestört von aufdringlichen Medienvertretern. 

Jahre später wagte sich Simone de Beauvoir dann an ein Thema, das erneut ein Tabu brach. In ihrem Erzählband „Eine gebrochene Frau“ schreibt sie über Frauen und das Älterwerden.

Zusammenfassung

  • Der Roman „Die Mandarins von Paris“ (Originaltitel „Les Mandarins“) erschien 1954 und wurde mit dem Prix Goncourt, Frankreichs wichtigstem Literaturpreis ausgezeichnet.

  • In dem Roman erzählt De  Beauvoir von den Herausforderungen, vor denen französische Intellektuelle kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs standen. Es geht um Liebe, Freundschaft und Politik. 

  • Die Charaktere in dem Roman ringen mit ihrer sozialen Verantwortung und fragen sich, was richtig und was falsch ist. 

  • De Beauvoirs Roman „Die Mandarins von Paris“ wird oft als sogenannter Schlüsselroman verstanden, in dem die Figuren reale Personen verkörpern. De Beauvoir lehnte eine solche Interpretation als zu schlicht ab, gab jedoch zu, dass sie sich von ihrem Pariser Umfeld hatte inspirieren lassen.

  • In Deutschland ist das Buch in Übersetzung von Ruth Ücker-Lutz und Fritz Montfort beim Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen und auch als E-Book erhältlich.

  • Weitere bedeutende Werke Simone de Beauvoirs sind: „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ (1958), „Das Blut der anderen“ (1945), „Alle Menschen sind sterblich“ (1946) und „Das andere Geschlecht“ (1949); deutsche Ausgaben alle beim Rowohlt Verlag erschienen.

Teste dein Wissen im Quiz

  1. Zu welcher literarischen Strömung gehört der 1954 erschienene Roman „Die Mandarins von Paris“?
    1. A) Positivismus
    2. B) Realismus
    3. C) Empfindsamkeit
    4. D) Existentialismus
  2. Vor welchem historischen Hintergrund spielt Simone de Beauvoirs Roman „Die Mandarins von Paris“?
    1. A) Bürgerkrieg in den USA
    2. B) Frankreichs Nachkriegsjahre
    3. C) Deutsche Kaiserzeit
    4. D) Krieg gegen Deutschland
  3. Als was wird Simone de Beauvoirs Roman „Die Mandarins von Paris“ oft verstanden?
    1. A) Als Krimi
    2. B) Als Parabel
    3. C) Als Science Fiction
    4. D) Als Schlüsselroman
  4. Was ist ein Schlüsselroman?
    1. A) Ein Roman, dessen Figuren reale Personen verkörpern
    2. B) Ein Buch, das in verschlüsselter Schrift geschrieben ist
    3. C) Eine Story über Schlüsseldienste
    4. D) Ein Roman, der im Gefängnis spielt
  5. Mit welchem Literaturpreis wurde „Die Mandarins von Paris“ 1954 ausgezeichnet?
    1. A) Prix Aristeion
    2. B) Prix triennal de Bibliographie
    3. C) Prix Goncourt
    4. D) Prix Médicis

Richtige Antworten: 
1. D) Existentialismus
2. B) Frankreichs Nachkriegsjahre 
3. D) Als Schlüsselroman, in dem die Figuren reale Personen verkörpern
4. A) Ein Roman, dessen Figuren reale Personen verkörpern
5. C) Prix Goncourt

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