Mit der Berliner Mauer war die Grenze zur Bundesrepublik Deutschland nun endgültig dicht, die Massenflucht eingedämmt. Alle Kräfte sollten auf den Aufbau des Sozialismus konzentriert werden. Auf wen die SED-Genossen dabei ihre größten Hoffnungen setzten − und warum ihre Strategie im DDR-Alltag nur bis zu einem bestimmten Punkt funktionierte, erfährst du in dieser Story.
Es dauert eine Weile, bis alle Klassen der Ernst-Thälmann-Schule ordentlich auf dem Schulhof angetreten sind. Es ist Montagmorgen, der Fahnenappell zum Start in die Unterrichtswoche beginnt. Extra dafür haben alle Mädchen und Jungen die vorgeschriebene Kleidung angelegt: Die oberen Klassen tragen das blaue Hemd mit dem Emblem der FDJ, die Jüngsten das blaue Halstuch der Jungen Pioniere. Seitlich der Freitreppe, die zum Eingang hinaufführt, stehen die vier Jungen und Mädchen bereit, die diesmal die Fahne hissen dürfen. Doch zunächst hat der Freundschaftspionierleiter das Wort: ein Lehrer im gesetzten Alter, der zunehmend Mühe hat, seinen Bauch im FDJ-Hemd unterzubringen. Die Viert- und Fünftklässler lauschen andächtig, die Acht- bis Zehntklässler eher gelangweilt. Ist ja sowieso immer dasselbe, was der „Berufsjugendliche“ da vorn erzählt ...
Der kommt nun endlich zum Schluss und winkt dem Grüppchen am Fahnenmast. Langsam steigt die Flagge empor. Und der Lehrer im Blauhemd setzt zum Finale der Veranstaltung an: Er hebt feierlich die rechte Hand über den Kopf, streckt die Finger und legt den Daumen aufs schüttere Haar. Noch ein Blick in die Runde, dann holt er tief Luft und schmettert aus voller Brust den „Pioniergruß“: „Für Frieden und Sozialismus – Seid bereit!“ Und die Pioniere schmettern begeistert die vorgeschriebene Antwort zurück: „Immer bereit!“
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Jetzt runterladen!„Immer bereit“ sollten sie sein, die Mädchen und Jungen der DDR. Bereit wofür? Nun, das große Ziel hatte die Partei- und Staatsführung festgelegt: Jedes Schulkind sollte zu einem fleißigen und vor allem linientreuen Mitglied der sozialistischen Gesellschaft erzogen werden. In den offiziellen Reden und Zeitungsartikeln wurde das natürlich anders formuliert. Dort war stets von der „allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeit" die Rede. Und das war nicht einfach so dahingesagt. Denn es ging durchaus um eine solide und effizient vermittelte Allgemeinbildung, bei der vor allem die Naturwissenschaften hohen Stellenwert besaßen.
Andererseits gab es kaum eine schulische Aktivität, die nicht mit sozialistischer Belehrung einherging. Sie zog sich durch Lehrbücher und Frontalunterricht ebenso wie durch die Freizeitaktivitäten in den Jugendorganisationen: meist unauffällig und spaßbetont, manchmal aber auch fordernd und vereinnahmend. Schon als Abc-Schützen wurden Jungen und Mädchen in die Pionierorganisation aufgenommen, die ihrerseits Teil der Freien Deutschen Jugend – kurz FDJ − war. Diese wiederum unterstand – wie alle ostdeutschen Massenorganisationen – der Einheitspartei SED. Niemand wurde gezwungen, Pionier zu werden; so weit gingen die Genossen nicht. Aber wenn Eltern die Aufnahme ihrer Kinder in die Organisation verweigerten, waren allerlei kleine Benachteiligungen und Ausgrenzungen im Schulalltag die Folge. Und die entgingen natürlich auch den Klassenkameraden nicht. Sie lernten: Pionier zu sein war richtig. Es nicht zu sein, signalisierte: Mit dir und deiner Familie stimmt irgendetwas nicht …
Also ging man stolz zu den „Pioniernachmittagen“. Dort wurde gebastelt, man las Bücher oder diskutierte über Ereignisse der Weltpolitik. Wie gut ging es doch den Menschen in der DDR! Jeder hatte satt zu essen, niemand wurde von raffgierigen Kapitalisten ausgebeutet! Und natürlich war es toll, dass es den „antifaschistischen Schutzwall“ gab, der die Menschen in der DDR vor all dem schützte! Schließlich standen ja auch die sowjetischen Freunde jederzeit bereit, um dieses schöne Land gegen seine Feinde zu verteidigen! So lernten es die Pioniere und bemühten sich, auch selbst etwas für „ihre“ DDR zu tun. Oft zogen sie mit Handwagen durch die Wohnviertel, um Altpapier und leere Flaschen für allerlei Spendenaktionen zu sammeln. Gemeinsam besuchten sie Museen und Theatervorstellungen, und in den Ferien fuhren sie ins „Pionierlager“. Das war meist ein Zeltplatz oder auch eine Bungalowsiedlung an einem Badesee, manchmal sogar an der Ostsee. Besonders ausgezeichnete Pioniere durften am „Kosmonautentraining“ im Berliner „Pionierpalast“ teilnehmen oder sich auf einem der „Pionierschiffe“ wie richtige Matrosen fühlen.
Doch je älter sie wurden, desto blasser und löchriger wurde die Illusion dieser schönen sozialistischen Welt …
Aus Kindern wurden Jugendliche, und natürlich war auch im Ostteil Deutschlands die Jugendzeit von einer gewissen Rebellion gegen alles geprägt, was als überkommen und „vorgeschrieben“ empfunden wurde. Das fing bei der Kleidung an und hörte bei der Musik noch lange nicht auf. Die DDR hatte auf kulturellem Gebiet einiges zu bieten, aber für junge Leute war selten das Passende dabei. Sie wollten sich modisch anziehen und tanzen gehen − aber nicht zu Walzerklängen wie ihre Eltern, sondern zu dröhnender Rockmusik, amerikanischen Blues-Songs oder flotten Disco-Hits. Die hörten sie jeden Tag im Westradio, während ihnen das Westfernsehen die angesagten Klamotten und Frisuren dazu vorführte. Und die sozialistischen Pädagogen? Die wetterten gegen lange Haare und „Hippie-Kutten“, verboten das Tragen von Jeans im Unterricht und rauften sich in Lehrerkonferenzen verzweifelt die Haare: Wie sollten diese kapitalistisch infiltrierten Jugendlichen jemals den Sozialismus aufbauen?!
Schon in den 50ern hatte die Partei- und Staatsführung versucht, mit eigenen Kreationen den verhassten amerikanischen Rock’n’Roll von den Tanzflächen und aus der Jugendkultur zu verdrängen. Eine davon war der „Lipsi“: ein ziemlich einfach gestrickter Paartanz mit passendem Liedtext. Sein Erfolg beim jungen Publikum hielt sich in sehr engen Grenzen. Es war zum Verzweifeln – für die Genossen! Ende 1965 sprach ein ratlos wirkender Staatschef Walter Ulbricht auf einem Partei-Gipfel seine legendär gewordenen Sätze, mit denen er auf einen der größten Hits der britischen Popgruppe Die Beatles anspielte: „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Jejeje oder wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.“
Was natürlich nicht gelang. Die jungen Menschen waren nicht so recht für die Ideale des Sozialismus zu begeistern. Immer nur dieses „Bau auf, bau auf“ oder wie das alles hieß.
Ulbrichts Nachfolger Erich Honecker versuchte dann in den 70er-Jahren eine andere Strategie. Eine Art kulturelles Tauwetter stellte sich ein: Unter dem staatlichen Plattenlabel „Amiga“ erschienen jetzt nicht nur Pop-Songs und Rockballaden aus der DDR und den sozialistischen „Bruderländern“, sondern auch Original-Alben von Musikgruppen aus Westeuropa und den USA. Diese Lizenz-Produktionen waren natürlich heiß begehrt und die knappen Zuteilungen in den Plattenläden meist innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Anders als die Jeans, die plötzlich auch in den volkseigenen Textilbetrieben der Deutschen Demokratischen Republik genäht wurden. Die „Ost-Jeans“ waren gut gemeint und meist sogar von ordentlicher Qualität – aber sie waren schlicht und ergreifend nicht angesagt.
Und die politischen Pflichtveranstaltungen im Jugendverband nervten nur noch, zumal bei all den Belehrungen und moderierten Diskussionen kaum je ein eigener Gedanke erlaubt war. Stattdessen wurde 1978 der sogenannte Wehrunterricht eingeführt. Er sollte vor allem die Jungen der oberen Jahrgänge für die Offizierslaufbahn in der Nationalen Volksarmee begeistern. Wer sich für mindestens drei Jahre Armeedienst verpflichtete, verbesserte seine Aussichten auf einen der streng limitierten Plätze an der sogenannten Erweiterten Oberschule deutlich. Sie war der Zugang zum heiß begehrten Abitur, das natürlich vorrangig für den Nachwuchs systemtreuer Familien aus der Arbeiterklasse bestimmt war. Wer kein Pionier gewesen war oder – noch schlimmer − nicht der FDJ angehörte, galt als „im Klassenstandpunkt nicht gefestigt“ und hatte schlechte Karten.
Schulstoff und auch die Lehrausbildung an der Berufsschule waren durchgehend politisch gefärbt. Politik und Wirtschaft in Ost und West wurden als unüberwindbare Gegensätze dargestellt, die Staatsgrenze und der Mauerbau um Ostberlin als notwendige Verteidigungsmaßnahmen gegen „Agenten und Saboteure“ aus Westdeutschland und Westberlin gerechtfertigt. „Rotlichtbestrahlung“ nannten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Propaganda-Pflichtstunden. Das Regime gab sich friedlich, die Jugend aber sollte die „Kampfreserve der Partei“ sein. Und die SED-Führung ließ keine Gelegenheit aus, den Mädchen und Jungen die kommunistischen Ideale nahezubringen. Der evangelischen Konfirmation oder der katholischen Kommunion setzten sie die Jugendweihe entgegen, mit der die jungen Menschen feierlich in den Kreis der sozialistischen Erwachsenengemeinschaft aufgenommen wurden. Zuvor hatten sie eine bestimmte Anzahl sogenannter Jugendstunden zu absolvieren, die aus politischem Unterricht, aber auch aus Museums- und Gedenkstättenbesuchen bestanden.
Insgesamt zielte das Bildungssystem der DDR darauf ab, gut ausgebildete Arbeitskräfte für die volkseigenen Betriebe zu gewinnen. Danach richtete sich auch ein Teil der Lehrpläne. Die unteren bis mittleren Jahrgänge erlernten im Fach „Werken“ den Umgang mit Säge und Handbohrmaschine, Schraubendreher und Schleifpapier. Ab der 7. Klasse gab es den sogenannten „Unterrichtstag in der Produktion“, in echten Betrieben also. Dort standen die Mädchen und Jungen zwischen richtigen „Werktätigen“ am Fließband oder in der Schlosserwerkstatt. Und lernten dort ganz nebenbei, dass in der sozialistischen Planwirtschaft Theorie und Praxis oft ziemlich weit auseinander lagen ...
Zusammenfassung
Kinder in der DDR wurden frühzeitig für das herrschende politische System vereinnahmt. Instrument dazu war vor allem die Pionierorganisation. Sie war Teil der „Freien Deutschen Jugend“, der Jugendorganisation der SED.
Die sechs- bis 14-jährigen DDR-Schülerinnen und Schüler wurden zunächst Mitglied in der Pionierorganisation. Ab Klasse 8 übernahm dann die FDJ, die „Freie Deutsche Jugend“. Ihr gehörte man in der Regel bis zum 25. Lebensjahr an.
Die Mitgliedschaft in diesen Gruppen war formal freiwillig. Wer allerdings nicht beitrat, hatte mit Nachteilen zu rechnen, die bis hin zu offenen Repressionen gehen konnten.
Erklärtes Ziel des DDR-Bildungssystems war es, den Nachwuchs zu „allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten“ zu erziehen. Schon in der Schule sollte die Jugend an die Arbeitswelt herangeführt werden.
Auf kulturellem Gebiet versuchte die Staatsmacht, westliche Einflüsse so weit wie möglich einzudämmen. Die Jugend der DDR interessierte sich allerdings mehr für Rock und Disco-Hits aus dem Westradio als für die sozialistischen Kulturangebote.
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Richtige Antworten:
1. C) Jungpioniere
2. D) Lipsi
3. B) UTP
4. A) Der SED
5. C) An der Erweiterten Oberschule
Die Jugend sollte für die Ideale des Sozialismus gewonnen und in ihrem sogenannten Klassenstandpunkt gefestigt werden. Das geschah mit politischem Unterricht, aber auch mit lukrativen Freizeitangeboten.
Die Freie Deutsche Jugend war die staatliche (und einzige zugelassene) Massenorganisation für Kinder und Jugendliche in der DDR. In ihrem Statut hieß es: „Die Freie Deutsche Jugend arbeitet unter Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und betrachtet sich als deren aktiver Helfer und Kampfreserve.“ Obwohl die Mitgliedschaft formal freiwillig war, bestand doch ein sozialer Druck zum Beitritt, denn die FDJ hatte großen Einfluss auf das berufliche und gesellschaftliche Fortkommen. Wer sich verweigerte, galt als unzuverlässig und musste berufliche und sonstige Nachteile in Kauf nehmen. Teil der FDJ war die Pionierorganisation für die Sechs- bis Dreizehnjährigen. Mit dem Schuleintritt wurden die Abc-Schützen „Jungpioniere“, als Viertklässler dann „Thälmannpioniere“.
Die staatlichen Jugendorganisationen boten Aktivitäten wie Ferienlager, Ausflüge und Sportveranstaltungen an, hinzu kamen kulturelle Angebote wie Theater oder Konzerte. In der sogenannten Gesellschaft für Sport und Technik (GST) nahm das Freizeitangebot dann bereits vormilitärische Züge an. Dieser Verband lockte neben Luftgewehr- und Kleinkaliberschießtraining auch mit Segelflug- und Tauchunterricht oder bot die extrem begehrte Führerschein-Ausbildung an. Dafür wurde allerdings erwartet, dass sich die jungen Männer zum verlängerten Armeedienst verpflichteten. Bei allen Angeboten ging es vorrangig darum, die jungen Menschen für den sozialistischen Staat einzunehmen und westliche, „kapitalistische“ Einflüsse zurückzudrängen. Das betraf vor allem die Musik als wichtigen Teil der Jugendkultur.
Das Bildungssystem der DDR zielte darauf ab, gut ausgebildete Arbeitskräfte für die volkseigenen Betriebe zu gewinnen. Das begann in der 4. Klasse mit einfachen Bastelarbeiten im Werkunterricht. Von der 7. Klasse an war der „Unterrichtstag in der Produktion“, kurz „UTP“, Pflichtfach. Es bestand aus der „Einführung in die sozialistische Produktion" (ESP) als Theorieunterricht und der „Praktischen Arbeit“ (PA) in geeigneten Produktionsbetrieben.
Der „Lipsi“ war ein Paartanz, den das DDR-Regime 1959 kreieren und fördern ließ, um die unerwünschten Einflüsse westlicher Tänze wie Rock’n’Roll, Boogie-Woogie oder Twist bei der Jugend zurückzudrängen. Den Namen leiteten seine Erfinder vom lateinischen „lipsiens“ ab, was übersetzt „Der Leipziger“ bedeutet. Die Schritte und Figuren des Lipsi vereinten Elemente aus Gesellschafts- und Volkstänzen. Der Text (es gab mehrere, leicht unterschiedliche Versionen) ging in etwa so „Heute tanzen alle jungen Leute / nur noch im Lipsi-Schritt ... “ Die weitaus meisten jungen Leute fanden den staatlich verordneten „Modetanz“ allerdings nur altbacken und doof. Vor allem, weil der propagandistische Hintergrund nur allzu offensichtlich war. In Leipzig gab es sogar eine Demonstration gegen ihn. Mit regimetypischer Reaktion: Die Staatsmacht ließ die Demo auflösen und 15 der Jugendlichen zu Haftstrafen verurteilen. Aber es half nichts: Der Tanz verschwand unaufhaltsam in der Bedeutungslosigkeit.