September 1814: Napoleon Bonaparte, der jahrelang die Geschicke Europas bestimmt hatte, war besiegt. Wie sollte es nun weitergehen? Darüber berieten die führenden Staatsmänner fast neun Monate lang beim Wiener Kongress. Ziel der europäischen Fürsten war es, die alte Ordnung vor der Französischen Revolution wiederherzustellen. Die Folgen dieses Treffens waren gewaltig…
Selbstbewusst betritt er das Parkett: Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord. Er war Bischof gewesen, dann Teilnehmer der Französischen Revolution und später Außenminister im Dienste Napoleons. Doch dessen Eroberungspolitik konnte er nicht mittragen, und darum hat er dem alten Königshaus wieder zur Krone verholfen. Dafür hassen ihn viele Franzosen, dessen ist sich Talleyrand bewusst. Doch hier in Wien ist er angetreten, um das Beste für seine Nation zu erreichen – für das besiegte, gedemütigte Frankreich und seinen neuen König. Mögen ihn seine Feinde ruhig einen „Wendehals“ nennen! Talleyrand vertraut auf sein diplomatisches Geschick. Und etwas Wichtiges hat er ja schon erreicht: Der Verlierer Frankreich darf beim Wiener Kongress zusammen mit den Siegern am Verhandlungstisch sitzen! Aber Talleyrand will mehr. Soll Frankreich künftig bedeutungslos sein, ein politisches Leichtgewicht neben den Großmächten Russland, Preußen, Österreich und Großbritannien? Das wird er verhindern. Und er weiß auch schon, wie.
Die erste App, die dich wirklich schlauer macht.
Jetzt runterladen!Dass ausgerechnet das besiegte Frankreich auf dem Wiener Kongress im Kreis der Siegermächte mitdiskutieren durfte, ist aus heutiger Sicht tatsächlich ungewöhnlich. Schließlich ging es nach dem Ersten Pariser Frieden darum, die Folgen der napoleonischen Herrschaft rückgängig zu machen. Napoleon hatte halb Europa an sich gerissen, er hatte Fürsten entmachtet und Ländergrenzen neu gezogen. In den von ihm besetzten Gebieten hatte er aber auch viele Dinge modernisiert, angefangen vom Zivilrecht über die Verwaltungsstrukturen bis hin zur Gewerbefreiheit. Und im Gefolge all dieser Reformen war auch etwas vom Geist der Französischen Revolution in die besetzten Gebiete herübergeweht.
Nun jedoch, im Herbst 1814 nach den Koalitionskriegen, hockte Napoleon besiegt auf der Mittelmeer-Insel Elba – und in Österreichs Hauptstadt Wien trafen sich Kaiser, Könige und hochkarätige Politiker aus rund 200 europäischen Staaten zu einem Kongress, der an Prunk und Pracht, Galaabenden und rauschenden Ballnächten in der Geschichte unübertroffen war.
Der Zweck des Wiener Kongresses war allerdings von ernster Natur: Es ging darum, über die Zukunft Europas zu entscheiden und die politische Karte des Kontinents neu zu zeichnen. Wobei „neu“ die Wahrheit nur teilweise trifft: Denn die Herren, die in Wien tagten, wollten die alte Ordnung wiederherstellen, so wie sie vor Beginn der Französischen Revolution von 1789 geherrscht hatte. Dafür hat die Geschichtswissenschaft den Begriff Restauration geprägt. Er kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „wiederherstellen". Und genau das war das Ziel des Wiener Kongresses: Der Zustand Europas vor der Revolution sollte wieder hergestellt werden. Die Könige und Fürsten wollten ihre Macht zurück.
Nach dem Verständnis der Fürsten und Herzöge, der Könige und Kaiser war ihre adelige Geburt ein von Gott gegebenes Vorrecht, das ihnen kein Mensch nehmen durfte. Der Adel war zum Herrschen bestimmt, und das einfache Volk hatte ihm zu dienen. Dieses Weltbild galt seit vielen Jahrhunderten – aber die Französische Revolution hatte es nachhaltig erschüttert. Daher legten die Kongressteilnehmer in Wien größten Wert darauf, die alten Königs- und Fürstengeschlechter in den einzelnen Staaten als die einzig legitimen, also rechtmäßigen Herrscher zu bestätigen: in Preußen die Hohenzollern, in Österreich die Habsburger, in Frankreich die Bourbonen – und so weiter und so fort. Das war das Prinzip der Legitimität. Und nicht zuletzt galt es, die zurückgewonnene Macht vor neuen Übergriffen aufmüpfiger Untertanen zu schützen. Denn all die revolutionären Ideen, die seit den napoleonischen Eroberungen in den Köpfen gebildeter Bürger herumspukten, jagten den Fürsten kalte Schauer über den Rücken. Der Geist der Französischen Revolution musste also ganz schnell zurück in die Flasche, und diese sollte so fest wie möglich zugestöpselt werden! Daher wurde neben der Restauration und der Legitimität auch die Solidarität unter den Herrscherhäusern zum Prinzip des Wiener Kongresses erhoben. Damit sicherten sich die Fürsten gegenseitigen Beistand zu – zum Schutz der neuen – oder besser gesagt alten Ordnung vor erneuten Aufständen. Das schloss im Notfall auch militärische Unterstützung im Kampf gegen das jeweils eigene Volk ein, falls dieses wieder einmal mehr Mitbestimmung fordern sollte.
Die wohl schwierigste Aufgabe des Wiener Kongresses aber war das große Puzzle namens Europa. Viele Grenzen galt es zu verschieben, Herrschaftsgebiete neu aufzuteilen. Und dabei ging es alles andere als solidarisch zu.
Zumindest in einem Punkt schien Einigkeit zu herrschen: Ein Gleichgewicht der europäischen Großmächte sollte künftig Frieden und Stabilität in Europa sichern. Dafür setzten sich insbesondere zwei Männer ein: der österreichische Außenminister Klemens Fürst von Metternich, der den Kongress leitete – und der Chefunterhändler Frankreichs, eben jener Talleyrand. Als Vertreter der Verliererseite hatte er natürlich keine Gebietsansprüche zu stellen, er konnte froh sein, wenn Frankreich nicht allzu sehr geschröpft wurde. Aber er konnte daran mitwirken, dass kein anderer Staat zu viel erhielt und dadurch zur neuen Übermacht werden könnte.
Zunächst vom Rande des Geschehens hatte er aufmerksam beobachtet, wie die Interessen der Großmächte aufeinanderprallten. Zum Beispiel um das unter Russland, Österreich und Preußen aufgeteilte Polen! Der russische Zar Alexander I. zum Beispiel wollte Polen wieder zu einem Königreich machen und es im Ganzen unter seine Herrschaft stellen. Der König von Preußen wiederum schielte begehrlich auf Sachsen, das 1813 an der Seite Napoleons gegen die Koalition gekämpft hatte und nun sozusagen Preußens Kriegsbeute werden sollte. Die Streitigkeiten zogen sich hin; schließlich drohte Zar Alexander sogar offen mit Krieg!
Das wiederum änderte die Sicht Österreichs und des britischen Chefunterhändlers Lord Robert Steward Castlereagh auf Frankreich: Plötzlich wurde der Verlierer nämlich als Bündnispartner gegen Russland und Preußen benötigt! Denn nun galt es, deren drohende militärische Übermacht zu verhindern. Also fand man sich mit Talleyrand zu einem geheimen Abkommen zusammen. Der Plan ging auf, Preußen und Russland mussten zurückstecken. Und Talleyrand verhandelte dabei für Frankreich so geschickt, dass sein Land kaum Gebietsverluste hinnehmen musste. Doch noch während die Auseinandersetzungen über viele weitere Grenzverlegungen weiterliefen, trafen höchst beunruhigende Nachrichten aus Frankreich ein: Napoleon war von der Insel Elba zurückgekehrt und hatte unverzüglich damit begonnen, ein neues Heer aufzustellen!
Diese Bedrohung beschleunigte die Einigung auch der letzten Streithähne auf dem Wiener Kongress 1815 erheblich. Zahllose kleine Gebietsstreitigkeiten hatten die diversen Gesprächsrunden der Unterhändler zum zähen Ringen werden lassen, aber am Ende hatten sich für die meisten territorialen Fragen geeignete Lösungen gefunden. Das Königreich Bayern gab Tirol, Vorarlberg, Salzburg und das Innviertel an Österreich zurück und erhielt dafür unter anderem die linksrheinische Pfalz. Das Kaisertum Österreich verzichtete auf seine niederländischen Ansprüche und seine ehemaligen Besitzungen am Oberrhein, bekam dafür aber wieder Galizien – eine historische Landschaft im heutigen Südpolen und der Westukraine – sowie Illyrien im Westen der Balkanhalbinsel zugesprochen.
Im Streit um das abtrünnige Königreich Sachsen konnte der preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg einen brauchbaren Kompromiss aushandeln: Das Königreich begnügte sich mit dem nördlichen Teil Sachsens und bekam dafür unter anderem die Provinz Posen, die Stadt Danzig sowie Westfalen und die Rheinprovinz im Westen zugesprochen. Von nun an war der Staat Preußen also eine territorial ziemlich zerpflückte Angelegenheit. Das sollte sich noch als äußerst unpraktisch erweisen, aber fürs Erste war Unterhändler Hardenberg zufrieden.
Auch die „polnische Frage” wurde zur Zufriedenheit gelöst: Russland verzichtete auf die Annexion ganz Polens, sicherte sich aber die Herrschaft über das Herzogtum Warschau, das zu diesem Zweck als Königreich neu gegründet wurde. Der russische Zar regierte es in einer sogenannten Personalunion als König mit. Dieses Konstrukt wird auch als Kongresspolen bezeichnet.
Kurz gesagt: Am Ende konnten die meisten Beteiligten Landgewinne verzeichnen und Frankreich konnte seinen Platz unter den Großmächten behaupten. Im Januar 1815 wurde der „Verlierer“ Frankreich in der Wiener Kongressakte zur fünften Großmacht erhoben, um das Gleichgewicht der europäischen Mächte zu gewährleisten.
Aus dem Wiener Kongress gingen also fünf ungefähr gleichstarke europäische Großmächte hervor: Preußen, Österreich, Russland, Großbritannien – und Frankreich. Dies wird auch als Pentarchie bezeichnet. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „Fünfherrschaft”. Ihr Ziel: Keine der fünf Großmächte sollte stark genug sein, die anderen zu dominieren. Das Gleichgewicht der Kräfte war erreicht und sollte dem Kontinent tatsächlich eine mehrere Jahrzehnte andauernde Phase des Friedens bescheren. Aber der Preis dafür war hoch: Mit der Restauration wurden alle Ideen bürgerlicher Mitbestimmung hinweggefegt und ein monarchistisches System zementiert, das alle freiheitlichen Bestrebungen ausbremste und bald auch gewaltsam unterdrückte. Und: Die sogenannte deutsche Frage war ungelöst geblieben. Genau hierin sehen manche Forschende die Wurzeln jenes aggressiven Nationalismus, der die patriotische Bewegung in den folgenden Jahrzehnte immer wieder überlagern sollte.
Denn für diejenigen, die sich ein geeintes Deutschland wünschten, war der Wiener Kongress eine einzige Enttäuschung gewesen. Anstelle eines deutschen Nationalstaats – eines würdigen Nachfolgers des von Napoleon zerschlagenen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation – wurde mit der Schlussakte des Wiener Kongresses ein anderes Gebilde auf den Weg gebracht: der Deutsche Bund. Das war ein loser Staatenbund, dem sich bei seiner Gründung 34 deutschsprachige Teilstaaten und vier freie Reichsstädte anschlossen. Er hatte sogar eine Verfassung: die Deutsche Bundesakte. Aber auch eine ganze Reihe von Kinderkrankheiten...
Zusammenfassung
Nach dem Sturz Napoleons im Herbst 1814 trafen sich die Staatsmänner Europas für mehrere Monate in Wien, um die Grenzen in Europa neu zu ordnen.
Vertreter aus rund 200 Staaten nahmen am Wiener Kongress teil. Sie strebten die Wiederherstellung der alten Ordnung an, wie sie vor Beginn der Französischen Revolution von 1789 geherrscht hatte.
Ein wichtiges Ergebnis war das Gleichgewicht der Mächte in Europa. Es brachte dem Kontinent eine mehrere Jahrzehnte andauernde Phase des Friedens.
Frankreich konnte trotz seiner Niederlage in den Befreiungskriegen seine Rolle als Großmacht behaupten.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. C) Der Wiener Kongress
2. A) Zur politischen Neuordnung Europas
3. C) Restauration
4. A) Frankreich
5. B) Talleyrand (Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord)
6. C) Waterloo