Kann uns eine Geschichte über die Tiere eines Bauernhofs etwas über Macht und Machtmissbrauch im großen Stil erzählen? Und ob sie das kann! „Die Farm der Tiere“ von George Orwell schafft genau das. In der nächsten Story erfährst du mehr über den Meisterstreich des britischen Schriftstellers. Denn er lässt in dieser Fabel Tiere auftreten, um den Menschen ihre Schwächen aufzuzeigen.
Alle Tiere der Farm haben sich versammelt. Hier, in der großen Scheune, drängen sich die Schweine und Schafe, Kühe und Hühner, der Esel Benjamin, die Pferde Boxer, Clover und Molly – einfach alle, die auf der Manor Farm leben. Denn Old Major – das älteste und weiseste der Schweine – hat ein Treffen einberufen.
Es ist tiefste Nacht und der Farmer Mr. Jones liegt bereits im Bett – betrunken wie immer. Also müssen die Tiere keine Angst haben, gehört zu werden. Doch was Old Major zu sagen hat, das hat keiner von ihnen erwartet. Er spricht von ihrem grausamen Los und von der Misshandlung durch die Zweibeiner – doch das alles soll nun ein Ende haben! Gemeinsam wollen sie das Joch ihrer Ausbeuter abwerfen und sich eine neue Welt aufbauen! Eine Welt der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit:
„Alle Tiere sind Kameraden!“, ruft Old Major. „Wir müssen uns von der Knechtschaft der Menschheit befreien. Dies ist meine Botschaft an euch: Rebellion! Ich weiß nicht, wann sie kommen wird, aber eines Tages wird uns allen durch sie Gerechtigkeit widerfahren!“
Ein Raunen geht durch die Reihen der Tiere, ein Scharren von Hufen, aufgeregtes Gegacker – solche Gedanken sind ihnen ja noch nie gekommen! Und dann beginnt Old Major zu singen. Er stimmt ein Lied an, das er im Traum gehört hat – ein Lied, das von der Gleichheit aller Tiere handelt. Er richtet seine imposante Gestalt noch etwas höher auf und singt: „Tiere Englands, Tiere Irlands, Tiere alle nah und weit. Hört hier meine frohe Botschaft, von eurer gold'nen Zukunftszeit ...“
Die erste App, die dich wirklich schlauer macht.
Jetzt runterladen!Alle Tiere sind gleich – das ist die Ausgangsidee in George Orwells „Die Farm der Tiere“ aus dem Jahr 1945. Mit dem Untertitel „A Fairy Story“ – ein Märchen – legte der englische Autor dabei eine falsche Fährte. Denn „Die Farm der Tiere“ ist trotz ihrer tierischen Protagonisten keineswegs ein Märchen für Kinder. Obwohl es sich um eine Fabel handelt – also eine Geschichte, in der sprechende Tiere menschliche Charaktere verkörpern –, ist es ein hochpolitisches Werk. George Orwell thematisiert darin einen wichtigen Grundgedanken, der heute in jeder ernstzunehmenden demokratischen Verfassungen enthalten ist: Die Idee der Gleichheit aller Menschen. Etwas, das uns heute als selbstverständlich vorkommen mag. Zu der Schaffenszeit des Autors George Orwell, besonders in den 30er- bis 40er-Jahren, war es das jedoch beileibe nicht. Der Faschismus in Deutschland und Italien oder der Stalinismus unter dem Diktator Josef Stalin in Russland haben vor allem eins mit sich gebracht: die Unterdrückung, Verfolgung, Erpressung und Ermordung von Millionen Menschen. „Die Farm der Tiere“ greift diese Entwicklungen auf und schafft im Grunde ein politisches Gleichnis. Denn die Geschichte über die rebellischen Tiere einer englischen Farm, die eine Gemeinschaft der Gleichheit anstreben, ist sozusagen eine Spiegelung der Ereignisse in Russland während der Russischen Revolution von 1917.
Auch hier wurden Ideale wie Gleichheit, Brüderlichkeit und Gemeinschaft hochgehalten. Doch was aus dieser großen Vision wurde, war ein Albtraum. Unter Josef Stalin entstand eine Diktatur und Schreckensherrschaft. Im Namen der Gleichheit und Brüderlichkeit baute er seinen Machtapparat immer weiter aus und errichtete ein totalitäres System der Unterdrückung. Die Geschichte der Sowjetunion, die Orwell als Freiwilliger im Spanischen Bürgerkrieg beobachtete, wurde für ihn zur Inspiration für seine „Farm der Tiere“.
Auch die Fabel beginnt – wie so viele Geschichten – mit einer großen Idee. Und mit einem, der sie ausspricht. Auf der Farm von Mr. Jones ist es das weise, alte Schwein Old Major. Alle Tiere sollen gleich sein. Doch nachdem es in der Tiergemeinde die Idee einer Revolution verbreitet hat, stirbt es. Die Tiere bleiben ratlos zurück, aber zwei andere Schweine übernehmen nun die Führung und rufen das neue gesellschaftliche Ziel aus: den Animalismus. Den Tieren gelingt es tatsächlich, den faulen, trunksüchtigen Farmer Mr. Jones zu vertreiben. Die Schweine, als die intelligentesten unter ihnen, stellen neue Regeln des Zusammenlebens auf und notieren sie auf einer Tafel. Sie nennen diese Regeln die „Sieben Gebote des Animalismus“. Unter anderem besagen diese, dass alle Tiere gleich sind, dass sie einander nicht töten dürfen und dass menschliche Verhaltensweisen wie Alkohol trinken oder in Betten schlafen verboten sind.
Doch es sind nicht alle Schweine daran interessiert, diese Regeln zu befolgen. Vor allem das Schwein Napoleon hat andere Pläne. Er zieht die verlassenen Hundewelpen des vertriebenen Bauern auf und richtet sie heimlich zu seiner persönlichen Leibgarde ab.
Mit diesen Bluthunden hat Napoleon plötzlich Macht. Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut. Während also die restlichen Farmtiere hart für den Erhalt der Farm arbeiten, inszeniert sich Napoleon als ihr großer Anführer. Er sammelt ein paar Getreue um sich, vertreibt Andersdenkende oder lässt sie von seinen Bluthunden ermorden. Weil die Hennen nicht alle ihre Eier für die Geschäftemacherei der gierigen Schweine hergeben wollen, lässt er sie im Hühnerstall einsperren und dem Hungertod preisgeben. Diejenigen, die immer noch protestieren, werden in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und von Napoleons Hunden zerfleischt.
Aus der hoffnungsvoll gegründeten Farmgesellschaft ist eine Diktatur geworden. Und natürlich biegen sich die neuen Machthaber die Regeln nach ihren eigenen Bedürfnissen zurecht. Zum Beispiel das siebte Gebot, das durch einen später berühmt gewordenen Zusatz ergänzt wird: „Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher als andere.“
Und diese Gleichheit sieht so aus, dass die Schweine fortan gemütlich im Farmhaus wohnen und so tun, als wären sie mit der Leitung und Verwaltung der Farm vollauf ausgelastet. Um die anderen Tiere mit seiner Propaganda einzulullen, bedient sich Napoleon des redegewandten Schweins Schwatzwutz. Dem gelingt es tatsächlich, die anderen Tiere dahin zu bringen, dass sie unter immer schlechteren Bedingungen immer härter und härter arbeiten, um in irgendeiner fernen Zukunft in Wohlstand leben zu können. Jede Kritik wird im Keim erstickt.
Eingeschüchtert müssen die Tiere feststellen, dass sich ihre gemeinsam beschlossenen und an der Scheunenwand ausgehängten Sieben Gebote wie durch Zauberhand verändern. Plötzlich heißt es nicht mehr: „Kein Tier soll in einem Bett schlafen“, sondern: „Kein Tier soll in einem Bett mit Leintüchern schlafen“. Aus „Kein Tier soll Alkohol trinken” wird: „Kein Tier soll Alkohol trinken im Übermaß” – kein Wunder, dient doch die kleine Koppel, die der Altersruhesitz für alle werden sollte, längst als Acker für Braugerste. „Kein Tier soll ein anderes töten“ wird zu: „Kein Tier soll ein anderes töten ohne Grund“ – und dieser „Grund“ besteht einzig und allein im Machterhalt der Schweinediktatur.
Der Vorsatz der Gleichheit bleibt in dieser Fabel genau das: ein Vorsatz, ein unerreichbares Ideal. Die Schweine ziehen sich am Ende sogar menschliche Kleidung an und gehen auf zwei Beinen. Stolz empfangen sie eine Abordnung der benachbarten Farmer, um ihnen ihre Errungenschaften zu präsentieren. Und die Vierbeiner, die von draußen durch die Fenster hineinblicken, stellen staunend fest, dass sie Menschen und Schweine nicht mehr auseinanderhalten können: Die Brüder von einst haben sich in die Unterdrücker von damals verwandelt.
Ja, George Orwell war ein Autor mit Botschaft. Er gilt zu Recht, auch aufgrund seiner wegweisenden Dystopie „1984“, als einer der wichtigsten sozialkritischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Doch mit „Die Farm der Tiere“ bewies er auch, dass er es sich nicht zu leicht machen wollte. Denn er sprach seine Botschaft nicht mit erhobenem Zeigefinger aus und predigte von den Schwächen der Menschen. Nein, er übermittelte seine Warnung in „Farm der Tiere“ auf eine fantasievolle Art, indem er sie in einer spannenden Fabel verpackte und Tiere anstelle von Menschen auftreten ließ. Trotzdem waren die Parallelen zu den damaligen politischen Diktaturen, zum Stalinismus und Faschismus offensichtlich.
So steht das Schwein Old Major, das den Tieren die Idee der Gleichheit in die Köpfe setzt, für Karl Marx – den geistigen Vater des Sozialismus – und für den Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin, der später von Josef Stalin entmachtet wurde. Dieser wird in der Fabel vom Schwein Napoleon verkörpert, das sich zum Diktator aufschwingt. Stalin sicherte sich mithilfe seiner Geheimpolizei die Macht – bei Orwell spielen Napoleons Hunde diese Rolle. Das Einsperren und verhungern lassen der Hennen gilt als ein Gleichnis für den Holodomor – die „Tötung durch Hunger“, die das Stalin-Regime im Zuge der Zwangskollektivierung in den 1930er-Jahren an der Bevölkerung der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik beging. Dass es plötzlich zu Handelsbeziehungen zwischen Schweinen und Zweibeinern kommt und diese sogar zusammen feiern, steht symbolisch für die inkonsequente Haltung der Westmächte USA und Großbritannien gegenüber dem menschenverachtenden Stalin-Regime. Und auch der Bau bzw. Wiederaufbau der Windmühle, für den sich das Pferd Boxer aufopfert, hat seine Entsprechung in der Geschichte: Sie steht für das propagierte – und in keinem einzigen kommunistischen System eingehaltene – Versprechen eines künftig besseren Lebens für die arbeitende Klasse. Die Zerstörung der Mühle durch den Nachbarn Mr. Frederick zeichnet Hitlers „Unternehmen Barbarossa“ nach. Das war der Überfall Deutschlands auf die UdSSR im Jahr 1941, mit dem Hitler den Nichtangriffspakt mit Stalin brach.
George Orwell, eigentlich Eric Arthur Blair, war Anhänger eines demokratischen Sozialismus. 1937 hatte er im Spanischen Bürgerkrieg in den Reihen der „Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit“ für die Republik gekämpft – und musste schließlich vor der Verfolgung durch Stalin-treue Sozialisten flüchten. Auf dieser Erfahrung, verbunden mit den brutalen „Säuberungen” im totalitären Sowjet-Regime, basiert seine Fabel. Seine durchaus freche Art, Stalin als machthungriges Schwein darzustellen, macht „Die Farm der Tiere“ zu einer sehr offenen und provokanten Satire auf die Russische Revolution und Stalins Machtapparat in der Sowjetunion. Ein Umstand, der dazu führte, dass der Roman zunächst keinen Verleger fand. Schließlich war gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Kritik an dem Bündnispartner UdSSR weder in London noch in Washington erwünscht.
Aus diesem Grund fiel in der Erstausgabe, die schließlich am 17. August 1945 in London erschien, auch Orwells Vorwort „The Freedom of the Press“ („Die Pressefreiheit“) der britischen Zensur zum Opfer. In seinem Vorwort hatte der Autor nämlich genau diese Unterdrückung kritischer Äußerungen gegen den kommunistischen Bündnispartner kritisiert. „The Freedom of the Press“ wurde 1972 in Orwells persönlichen Unterlagen wiedergefunden, aber nach wie vor weigerten sich Verleger, es zu veröffentlichen. Eine der ganz wenigen Ausnahmen war der deutsche Diogenes-Verlag im Jahr 2002, wenngleich Orwells „Pressefreiheit“ dort lediglich im Anhang erschien. Der folgende Satz daraus wurde zu einem seiner berühmtesten Zitate:
„Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“
Kein Wunder, dass Orwells „Farm der Tiere“ wie auch „1984“ und weitere seiner Werke in den sozialistischen Vasallenstaaten der Sowjets bis zum Fall der Berliner Mauer strikt verboten waren. Gelesen wurden sie doch: aus Westdeutschland in die DDR und die Tschechoslowakei geschmuggelt, auf Schreibmaschinen Seite für Seite mit Durchschlagpapier abgetippt und heimlich von Hand zu Hand weitergegeben. In den 1950er-Jahren ließen westliche Geheimdienste sogar Ballone mit Bücherpaketen aufsteigen, um sie dem Wind über den Eisernen Vorhang zu senden.
Zusammenfassung
„Die Farm der Tiere“ von George Orwell ist eine Fabel, da sprechende Tiere die Hauptrollen übernehmen – das Werk ist jedoch keineswegs für Kinder gedacht.
„Die Farm der Tiere“ (Originaltitel: „Animal Farm“) wurde 1945 in London erstmals veröffentlicht. 1946 erschien sie in den USA.
Mit dieser Fabel griff Orwell die Entwicklungen der Russischen Revolution und des Stalinismus in der Sowjetunion auf. Einige Tiere sind klar als historische Figuren auszumachen. Besonders provokativ: das Schwein Napoleon steht für den Diktator Josef Stalin.
In der Geschichte streben die Tiere eigentlich eine freie Gemeinschaft an, in der alle Tiere gleiche Rechte haben an. Doch ihre Gemeinschaft entwickelt sich durch den Machtmissbrauch einiger Schweine allmählich zur Diktatur.
Damit ist Orwells „Farm der Tiere“ ein hochpolitisches Werk über Manipulation, Machtmissbrauch und Ungleichheit. Am Ende werden die arbeitenden Tiere genauso unterdrückt und ausgebeutet wie vor der Revolution.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. C) Fabel und politische Satire auf den Kommunismus
2. B) 1945
3. B) Aufstand der Tiere einer englischen Farm
4. D) Es entwickelt sich eine Diktatur
5. A) Napoleon
6. C) Josef Stalin