Im Sommer 1945 hatten die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz die Grenzen Europas neu gezogen und der Zwangsaussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten zugestimmt. Ein Beschluss mit Folgen …
Bis zum Horizont erstreckt sich die nahezu endlose Kolonne der Pferdewagen und Menschenmassen, die im unbekannten Westen eine neue Hoffnung suchen. Angst und Verzweiflung mischen sich mit stumpfer Erschöpfung, die keine Gefühle mehr zulässt. Alles haben sie zurücklassen müssen, Haus und Hof, Gärten und Äcker, die Erinnerungen an ihre Kindheit. Und allesamt hoffen sie, sich irgendwo im Westen ein neues Leben aufbauen zu können. Manche schleppen Körbe und Koffer, andere können ohne stützende Hände kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Die hoch beladenen Fuhrwerke, die von mageren Ochsen oder Pferden gezogen werden, können sie nicht mehr aufnehmen. Die Kinder sind ausgezehrt, die Gesichter der verbitterten Frauen eingefallen. Essen ist hier nirgendwo mehr zu finden, nicht einmal Futter für die Zugtiere. Und doch geht es unentwegt weiter, Schritt für Schritt einer ungewissen Zukunft entgegen ...
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Jetzt runterladen!Die Szene mag an die großen Siedlertrecks quer durch die USA erinnern, die man aus klassischen Wildwest-Filmen kennt. Und doch spielten sich diese Völkerwanderungen mitten in Europa ab. Im Winter 1944/45 hatte die erste große Flucht aus Pommern, Schlesien und Ostpreußen in die Westteile des Deutschen Reichs eingesetzt: Die Angst vor der Roten Armee und Berichte von Gräueltaten der Sowjetsoldaten an der Zivilbevölkerung trieben Millionen deutschstämmige Bewohner aus Osteuropa nach Westen – bei eisiger Kälte, kaum mit dem Nötigsten ausgestattet und in ständiger Lebensgefahr, weil die Russen sogar die Flüchtlingskolonnen noch mit Panzern und Tieffliegern verfolgten. Auf der Ostsee wurde das Lazarettschiff „Wilhelm Gustloff“ mit mehreren Tausend Flüchtlingen an Bord am 30. Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot versenkt.
Die zweite Welle folgte nach Kriegsende: Nun waren es Vertriebene und Aussiedler, die in trostlosen Kolonnen, Trecks genannt, über Oder und Neiße nach Westen zogen. Diese Zwangsmigration war eine der Folgen der Konferenzen von Jalta und Potsdam. Auf ihnen waren die Siegermächte übereingekommen, dass die bisherigen deutschen Ostgebiete wie etwa Pommern, Schlesien oder Ostpreußen künftig zu Polen gehören sollten. Die deutsche Bevölkerung dieser und weiterer Gebiete sollte in die Besatzungszonen westlich der Oder-Neiße-Linie umgesiedelt werden, und zwar, wie das Potsdamer Abschlussprotokoll betonte, in einem „ordnungsgemäßen und humanen Transfer“.
Im Grunde ging es darum, Ausschreitungen und Misshandlungen der deutschen Zivilbevölkerung zu vermeiden oder zumindest zu begrenzen – nicht nur in Schlesien, Pommern und Ostpreußen, sondern auch in den Gebieten Ungarns, der Tschechoslowakei, Jugoslawiens, Rumäniens, des Baltikums, der Ukraine und Russlands, wo deutsche Minderheiten lebten. Im Krieg waren die Menschen in Ost- und Südosteuropa von Deutschen unterdrückt und terrorisiert worden, hatten Massaker der SS und Kriegsverbrechen der Wehrmacht an der Zivilbevölkerung mit ansehen müssen. Die Menschen dort hatten verständlicherweise Wut auf alles Deutsche. Und nun, da Hitler-Deutschland endlich besiegt war, brach sich dieser Hass Bahn …
Erste wilde Vertreibungen der deutschen Einwohner hatten schon vor der letzten Schlacht um die Reichshauptstadt Berlin begonnen. Nun aber, nachdem die Siegermächte im Sommer ’45 offiziell die Umsiedlung der deutschen Bevölkerungsteile aus den ehemaligen Ostgebieten abgesegnet hatten, brachen dort alle Dämme des jahrelang angestauten Hasses. Familien, die seit Jahrhunderten in Polen und der Freien Stadt Danzig, im Sudetenland oder in Ungarn zuhause waren, hatten oft nur wenige Stunden, um das Notwendigste zusammenzupacken. Und wer es dann tatsächlich schaffte, sich mit ein paar Habseligkeiten und allen Familienangehörigen einem der Flüchtlingstrecks anzuschließen, konnte sich noch glücklich schätzen. Denn Tausende deutsche Zivilisten wurden in diesen Monaten ermordet, Hunderttausende in Arbeitslager verschleppt.
Der Anblick der endlosen Vertriebenen-Trecks muss verstörend gewesen sein: altertümliche Fuhrwerke mit Kleinkindern und Alten zwischen Stroh und Hausrat auf der Ladefläche, Wäschekörbe, die auf Rädern hinterhergezogen wurden, vor Hunger weinende Kinder, verzweifelte Mütter. Durch zerbombte Städte und verbrannte Dörfer zogen die Heimatvertriebenen immer weiter Richtung Westen. In den Ruinen der Häuser suchten sie nach alten Kartoffeln und Rüben – vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen. Denn junge Männer gab es fast nicht mehr, sie waren im Krieg gefallen, verschollen oder in Stalins Gefangenenlager verschleppt worden. Unzählige Menschen starben an Krankheiten, Unterernährung oder an purer Erschöpfung. Doch auch diejenigen, die durchkamen, fanden am Ziel ihrer entbehrungsreichen Reise nur trostlose Trümmerhaufen vor …
Es waren insgesamt mehr als zwölf Millionen Menschen, die in den Jahren ab 1945 westlich von Oder und Neiße eine neue Heimat suchten. Wer nicht bei Verwandten Unterschlupf fand, irrte ziellos im Land umher. Den Verwaltungen in den Städten und Gemeinden wurde sehr schnell klar, dass die gewaltigen Ströme der Einwanderer irgendwie in geregelte Bahnen gelenkt werden musste. Eigens berufene Flüchtlingskommissare begannen, Wohnraum für die Vertriebenen aufzutun. Viele wurden einfach als Mitbewohner in den Wohnungen der ortsansässigen Bevölkerung einquartiert – nicht unbedingt zu deren Freude. Andere mussten jahrelang in Barackenlagern hausen. Sie besaßen nicht viel mehr als die Lumpen, die sie am Leibe trugen.
Wohlfahrtsverbände versuchten, das schlimmste Leid zu lindern. Sie sammelten Kleidung und Hausrat für die Neubürger, Gemeindeküchen boten Notverpflegung an. Und selbst aus den USA wurden Hilfslieferungen nach Deutschland geschickt. Auch das Rote Kreuz schaltete sich ein und half den Neuankömmlingen, im zerstörten Deutschland noch lebende Angehörige ausfindig zu machen.
Die einheimische Bevölkerung stand den Geflüchteten vielerorts misstrauisch und ablehnend gegenüber. Sie waren Konkurrenten um Nahrung und die wenigen verfügbaren Arbeitsstellen, sprachen seltsame Dialekte und brachten ihre eigenen Weltanschauungen und Glaubensrichtungen mit. Politisch war ihre Integration lange Zeit kein Thema. Doch auch wenn man es kaum glauben mag: Trotz aller Probleme gelang es am Ende eines langen Prozesses tatsächlich, Millionen Neuankömmlinge in die gleichermaßen besitzlose Bevölkerung einzubinden – sei es als Erntehelfer oder als Fachkräfte im Handwerk. In der später gegründeten Bundesrepublik Deutschland beschleunigte vor allem das sogenannte Wirtschaftswunder die Eingliederung der Neubürger.
In der DDR wirkte sich die Industrialisierung unter Partei- und Staatschef Walter Ulbricht ähnlich aus. Arbeitskräfte waren in beiden deutschen Staaten begehrt. Aber anders als in der BRD wurde das Thema Flucht und Vertreibung in der DDR möglichst unter der Decke gehalten. Die Propaganda nannte die Heimatvertriebenen verschämt „Umsiedler“. Kein Wunder, hätte man anderenfalls doch die sozialistischen „Bruderländer“, allen voran die allmächtige Sowjetunion, in ein schlechtes Licht gerückt!
Unterdessen widmeten sich die Siegermächte der wohl schwierigsten Aufgabe, die sie sich während und nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen hatten: die Entnazifizierung Deutschlands. Es galt, unerkannt gebliebene Naziverbrecher aufzuspüren und das menschenverachtende Gedankengut des Nationalsozialismus aus den Köpfen der Bevölkerung zu tilgen.
Zusammenfassung
Bereits gegen Ende des Zweiten Weltkriegs flüchteten unzählige Menschen aus Schlesien, Pommern und anderen damaligen deutschen Ostgebieten vor der anrückenden Sowjetarmee Richtung Westen.
Nach Kriegsende wurden weitere Millionen deutschsprachiger Einwohner aus den früheren Ostgebieten vertrieben und gezwungen, sich westlich der Oder-Neiße-Linie anzusiedeln. Die Zahl der Geflüchteten und Vertriebenen wird auf mehr als zwölf Millionen geschätzt.
Die Flucht war eine Folge der Konferenzen von Jalta und Potsdam. Dort hatten die Siegermächte die Umsiedlung der deutschen Minderheiten aus den ehemaligen Ostgebieten beschlossen.
Bei den alteingesessenen Deutschen waren die Flüchtlinge und Vertriebenen zunächst wenig willkommen, zumal sie oft einfach in deren Wohnungen einquartiert wurden. Erst nach und nach gelang es den neu aufgebauten Verwaltungs- und Hilfsorganisationen, sie zu versorgen und zu integrieren.
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Richtige Antworten:
1. D) Trecks
2. C) Sowjetunion
3. A) In Wohnungen der Bevölkerung
4. B) Integration der Zuwanderer
5. A) Mangelnde Akzeptanz
In den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs flohen Millionen Menschen aus den damaligen deutschen Ostgebieten vor der vorrückenden Roten Armee. Gerüchte über Kriegsverbrechen als Vergeltung vorangegangener Kriegsverbrechen von Wehrmacht und SS schürten die Angst. Nach Kriegsende wurden weitere Millionen deutschsprachiger Einwohner aus den früheren Ostgebieten des besiegten Deutschen Reichs vertrieben und gezwungen, sich westlich der Oder-Neiße-Linie anzusiedeln. Das gleiche Schicksal traf die deutsche Bevölkerung des Sudetenlands in der Tschechoslowakei und weiterer Länder Ost- und Südosteuropas.
Der Beschluss, alle in Polen und der Tschechoslowakei lebenden Deutschen auszusiedeln, wurde bereits 1943 auf der Konferenz von Teheran ausgearbeitet. Stalin wollte sich die polnischen Gebiete östlich der Flüsse Bug und San sichern, die er nach dem Nichtangriffspakt mit Hitler annektiert hatte. Historisch waren diese Gebiete von verschiedenen Volksgruppen bewohnt. Die dort lebenden Polen wollte Stalin nach Kriegsende Richtung Westen zwangsumsiedeln, und zwar in die deutschen Ostgebiete, mit denen der polnische Staat für den Landverlust im Osten entschädigt werden sollte. Diese Gebiete seien von der deutschen Bevölkerung zu räumen.
Mit drei Streichhölzern auf einer Landkarte demonstrierte der britische Premier Winston Churchill in der Konferenz von Teheran 1943 die Verschiebung der polnischen Staatsgrenzen nach Westen. Das rechte (östliche) Streichholz stand symbolisch für Sowjetrussland, das mittlere für Polen, das linke für Deutschland. Churchill schob mit dem Finger das „russische“ Streichholz nach links gegen das „polnische“, wodurch dieses das „deutsche“ nach links, also nach Westen verdrängte. Diese sogenannte Westverschiebung Polens hatte nach Kriegsende eine der größten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts zur Folge: die gewaltsame Vertreibung von Millionen Polen und Ukrainern aus Ostpolen sowie die Zwangsaussiedlung der Deutschen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und der Kurmark.
Haus, Hof, Nutzvieh, kurz: alles, was sie zurücklassen mussten, wurde entschädigungslos beschlagnahmt. Mit dem Lastenausgleichsgesetz vom 14. August 1952 beschloss die Bundesrepublik Deutschland eine finanzielle Entschädigung für unmittelbar kriegsgeschädigte, geflüchtete und vertriebene Deutsche aus den früher zum Deutschen Reich gehörenden Gebieten. Das Gesetz schloss auch Spätaussiedler und Geflüchtete aus der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR ein. Die Entschädigung sollte vor allem Hilfe zur Eingliederung sein; mit dem Geld konnten sich die Neubürger eine neue Existenz aufbauen.
Die Fremden wurden als Konkurrenten um Nahrung und Wohnraum betrachtet, die ohnehin extrem knapp waren. Viele der Zugewanderten wurden auch noch als Mitbewohner in die Wohnungen der ortsansässigen Bevölkerung einquartiert. Unterschiedliche Lebensgewohnheiten, Ansichten, Glaubensrichtungen boten reichlich Konfliktstoff.