Die Märchen „Aschenputtel” und „Rotkäppchen” kennst du bestimmt. Und sicherlich weißt du auch, dass es die Brüder Grimm waren, die diese Märchen berühmt gemacht haben. In dieser Story erfährst du, warum die beiden Sprachwissenschaftler auf die Idee kamen, ausgerechnet eine Märchensammlung zu veröffentlichen - und warum das Märchen „Rapunzel” zensiert werden musste.
Vor der Hütte senkt sich bereits die Dämmerung über die schneebedeckten Felder. Der alten Bäuerin fällt das gar nicht auf. Sie sitzt in ihrem zerschlissenen Sessel am Ofen und erzählt immer noch mit leuchtenden Augen, als wäre ihr Gedächtnis ein unerschöpflicher Geschichtenquell. Eine Erzählung nach der anderen breitet sie vor den beiden Besuchern aus. Und jede ist reich an fantastischen und unheimlichen Details. Begeistert lauschen die zwei jungen Männer, was die Alte ihnen hier seit Stunden erzählt: Ja, das sind die Geschichten, nach denen sie suchen. Mündlich überlieferte Erzählungen von Gut und Böse, von Königstöchtern, Hexen und Teufeln, von Belohnung und gerechter Strafe. Während die Kerzen langsam herunterbrennen und die alte Frau erzählt, machen Jacob und Wilhelm Grimm sich eifrig Notizen. Die beiden können es kaum erwarten, in ihre Schreibstube zurückzukehren, um das Gehörte vor dem Vergessen zu bewahren.
Die erste App, die dich wirklich schlauer macht.
Jetzt runterladen!Wäre dies hier ein Märchen, dann würde es wohl so beginnen: „Es war einmal vor langer Zeit, da zogen zwei Brüder durch die Lande, um nach Märchen zu suchen und sie in einem Buch zu versammeln.” Aber wir wollen ja keine Märchen erzählen, und deshalb sei hiermit richtiggestellt: Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm sind nicht von Haus zu Haus gezogen, um Stoff für ihre berühmte Märchensammlung zu finden. Auch stammte kaum eine der Geschichten von greisen Erzählerinnen aus dem einfachen Volk. Die Brüder wollten allerdings genau diesen Eindruck erwecken. Schließlich hatten sie sich zum Ziel gesetzt, gerade die volkstümlichen, alten Märchen, die sich die sogenannten einfachen Leute vor dem Zubettgehen, am heimischen Kamin oder am Stammtisch erzählten, zu sammeln, aufzuschreiben und für die Nachwelt zu erhalten. Und so versahen sie die Erstausgabe ihrer Märchensammlung mit dem Hinweis, dass alle Geschichten darin „nach mündlicher Überlieferung“ notiert worden seien. Das klang vertraut und besonders volksnah, gehörte allerdings eher ins Reich der Märchen. Aber von Anfang an ...
Die Familie Grimm war in Hanau in Hessen zu Hause. Die Eltern Dorothea und Philipp Wilhelm Grimm hatten neun Kinder, von denen drei schon im Säuglingsalter starben. Jacob und Wilhelm verbrachten ihre Jugend im hessischen Steinau, wo ihr Vater eine Stellung als Amtmann hatte. Er starb 1796, als beide noch Kinder waren. Die Mutter schickte die Brüder zwei Jahre später nach Kassel zu ihrer Tante, um ihnen eine angemessene Bildung zu ermöglichen. Sie besuchten das Friedrichsgymnasium und wenige Jahre später die Universität Marburg. Ihr Wissensdurst begeisterte ihren Lehrer Friedrich Carl von Savigny so sehr, dass er den Jungen seine Privatbibliothek öffnete und ihnen neben den Literaturklassikern der deutschen Sprache auch Werke der Romantik und des mittelalterlichen Minnesangs nahebrachte. Der Minnesang war keine Volkskunst, sie war einst als Teil der ritterlichen Kultur des niederen Adels entstanden. In diesen vergangenen Zeiten sahen Jacob und Wilhelm die Wurzeln deutschsprachiger Dichtung und Literatur. Sie begannen deren geschichtliche Entwicklung systematisch zu erforschen und beschränkten sich dabei nicht allein auf deutschsprachige Texte, sondern auch auf Überlieferungen aus mehreren europäischen Ländern. So beschäftigten sie sich mit altdänischen Heldenliedern und der altisländischen Versdichtung Edda.
Den Anstoß für die Märchensammlung der Brüder Grimm gaben schließlich die romantischen Schriftsteller Achim von Arnim und Clemens Brentano. Sie wollten eine Sammlung von Volksliedern herausbringen und waren auf der Suche nach geeignetem Material. Hier kam Jacob Grimm ins Spiel. Er war damals Anfang zwanzig und arbeitete als Bibliothekar in Kassel. Gemeinsam mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Wilhelm begann er eifrig, in literarischen Schriften erst Lieder, dann aber auch Märchen aufzuspüren. 1810 schließlich lieferten sie ihr Material bei Brentano ab, der es dann aber gar nicht verwendete. Inzwischen hatte die Grimms allerdings der Forschergeist gepackt. So sehr, dass sie ihre Recherchen auf eigene Faust fortsetzten. Die Märchen für ihre Sammlung stammen aus literarischen Texten und vor allem aus dem bürgerlichen Umfeld der Brüder. Es waren beispielsweise die Töchter einer befreundeten Familie, die den Grimms die Märchen über Rotkäppchen, Dornröschen oder den gestiefelten Kater erzählten. Dass diese Familie hugenottischen Ursprungs war, also französische Wurzeln hatte, war eigentlich nicht ganz im Sinne der Gebrüder Grimm. Denn den Brüdern schwebte eine Märchensammlung vor, die Seele und Denken der Deutschen widerspiegelte. Die Grimms wollten zeigen, dass die Deutschen eine gemeinsame Kultur verband. Dieser kulturellen Einheit sollte dann irgendwann auch die politische folgen. Damals gab es nämlich noch kein einheitliches Deutschland. So wurde zum Beispiel die Stadt Kassel, wo die Grimms lebten, politisch und militärisch vom Napoleonischen Frankreich kontrolliert. Und Jacob und Wilhelm hatten Sorge, dass alte deutsche Sagen, Mythen und Sprachformen durch den französischen Einfluss verloren gehen könnten.
Die Erstausgabe ihrer Märchensammlung stellten die beiden Sprachforscher im Jahr 1812 fertig. Sie umfasste 86 Märchen und trug den Titel „Kinder- und Hausmärchen”. Dabei war das Buch gar nicht für Kinder gedacht. Es war ein wissenschaftliches Werk, das die Grimms mit einem ausführlichen Kommentar versahen. Außerdem waren die Geschichten ziemlich düster und brutal: Die faule Tochter in „Frau Holle“ wird mit Pech übergossen, wer andere schlecht behandelt, muss in glühenden Eisenschuhen tanzen wie die böse Königin in „Schneewittchen“ oder im Backofen verbrennen wie die Hexe in „Hänsel und Gretel“. In der Geschichte „Das Mädchen ohne Hände” hackt ein Müller sogar der eigenen Tochter die Hände ab, nachdem er vom Teufel verführt worden ist. Und in „Der singende Knochen” erschlägt ein junger Mann aus Habgier seinen Bruder. Es sind eben nicht immer Dämonen und Geister, von denen eine Bedrohung ausgeht, sondern die Menschen selbst. In Grimms Märchen genauso wie in anderen Werken der Schwarzen Romantik.
Den Vorwurf, die grausamen Märchen seien wenig kindgerecht, ließ Jacob Grimm aber nicht gelten. Schließlich war die Sammlung ein Forschungsprojekt. Sein Bruder Wilhelm sah das anders: Ihm war daran gelegen, dass die Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen” von möglichst vielen Menschen gelesen werden.
Um die Sammlung einem breiteren Publikum schmackhaft zu machen, begann Wilhelm Grimm eine Neuausgabe vorzubereiten. Zunächst entfernte er diejenigen Märchen, die nicht aus dem deutschen Sprachraum stammten. Der „Gestiefelte Kater” beispielsweise, der einer französischen Erzählung ähnelt, wurde durch „Die Bremer Stadtmusikanten” ersetzt, während andere Märchen so verändert wurden, dass sie zumindest deutscher klangen: So machte Wilhelm aus der französischen „fée“ eine „Zauberin“. Darüber hinaus sollten die Texte nun den gesellschaftlichen Idealen der Zeit entsprechen. Und das waren vor allem Ideale der Romantik und des Biedermeier. Die Romantiker pflegten das Geheimnisvolle und Träumerische, der Biedermeier bürgerliche Tugenden wie Fleiß, Ehrlichkeit, Pflichtgefühl, Treue und Bescheidenheit. Wilhelm Grimm arbeitete diese Aspekte in die Märchen ein und entfernte alles vermeintlich Anstößige – also alles, was irgendetwas mit Sexualität zu tun hatte. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass die langhaarige Rapunzel in der Urfassung schwanger war? Hatte sie sich etwa mit dem Prinzen vergnügt, nachdem er an ihrem Haar zu ihr hinaufgeklettert war? Wie dem auch sei – in allen späteren Ausgaben ist jedenfalls keine Rede mehr von einer Schwangerschaft des in den Turm gesperrten Mädchens.
Tatsächlich wurden die Märchen der Brüder Grimm von Ausgabe zu Ausgabe braver. Die Grundmotive der Schwarzen Romantik blieben zwar erhalten, wurden aber, wenn nötig, durch moralische Lehren ergänzt: Das Gute siegt über das Böse, Bescheidenheit über Gier, Geduld über Eifer, Tugend über Laster. So einfach kann die Welt sein …
Diese Änderungen lohnten sich jedoch. Denn mit der Veröffentlichung der sogenannten kleinen Ausgabe von 1825 gelang ein Bestseller. Die Ausgabe versammelte nur noch 50 Märchen, bot dafür aber zahlreiche Zeichnungen aus der Feder ihres jüngeren Bruders Ludwig Emil Grimm, der inzwischen als Maler bekannt geworden war. Seine Zeichnungen gaben all den bösen Hexen und schönen Königstöchtern Gesichter. Damit war aus dem Bruderduo ein Trio geworden. Und die „Kinder- und Hausmärchen“ waren nun zu einem kindertauglichen Buch geworden. Vor allem aber hatte Wilhelm den Grimm’schen Erzählton derart perfektioniert, dass aus verkappten Volksmärchen Weltliteratur wurde. Aus einem Zufallsprodukt wurde das meistverbreitete Buch der Welt – neben der Bibel und dem Koran.
Weitaus weniger märchenhaft als bei den Grimms geht es in der Erzählung „Der Sandmann“ zu. Sie stammt von E.T.A. Hoffmann – und ist ganz sicher nicht zum Einschlafen gedacht…
Zusammenfassung
Jacob und Wilhelm Grimm haben die Märchen nicht erfunden, sondern gesammelt. Ziel war es, alte deutsche Märchen und Sagen zu verschriftlichen und damit zu erhalten.
Die Brüder zogen nicht durchs Land, um volkstümliche Märchen für ihre Sammlung zu finden. Sie spürten die Märchen in literarischen Schriften auf oder ließen sie sich von Bekannten erzählen.
Die Märchensammlung, die erstmals 1812 erschien, war ursprünglich ein wissenschaftliches Projekt und keineswegs als Kinderbuch gedacht.
Mit Blick auf eine breitere Leserschaft entschärfte Wilhelm Grimm die Märchensammlung erheblich. Außerdem passte er sie an die romantischen und biedermeierlichen Ideale seiner Zeit an.
Mit der sogenannten Kleinen Ausgabe von 1825 gelang den Grimm-Brüdern der Durchbruch. Die Sammlung wurde ein Weltbestseller.
Die Gebrüder Grimm haben die Märchenforschung als Wissenschaft begründet. Außerdem gelten sie zusammen mit Karl Lachmann und Georg Friedrich Benecke als Begründer der Germanistik.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. D) Die Herausgeber der „Kinder- und Hausmärchen”
2. B) Aus literarischen Texten und dem bürgerlichen Umfeld der Brüder
3. A) Motive der Romantik und Schwarzen Romantik
4. C) Für Kinder
5. A) Damit sie den gesellschaftlichen Idealen seiner Zeit entsprachen
6. D) Schneewittchen