Westdeutschland im Jahr 1955: Die Wirtschaft hatte sich erholt, der Aufschwung kam allmählich bei den Menschen an. Aber noch immer saßen Zehntausende Deutsche in sowjetischer Gefangenschaft, um die Schuld an Hitlers Angriffskrieg in den Arbeitslagern zu sühnen. Ihre Freilassung gilt bis heute als einer der größten Erfolge des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Aber ganz so einfach war das am Ende doch nicht.
Diese quälende Ungewissheit. Seit zehn Jahren hat die Frau kein Lebenszeichen mehr von ihrem Mann erhalten. Wird er nun in einem der Busse sein, die heute hier in Friedland ankommen sollen? Wird er heute zu ihr und der gemeinsamen Tochter zurückkehren, die ihren Vater noch nie gesehen hat? Angespannt steht die Frau in der Menschenmenge. Sie alle warten auf Angehörige, die sie seit langem verloren geglaubt hatten: Väter, Söhne, Ehemänner.
Und dann, endlich, das ersehnte Geräusch: das Läuten einer Glocke – der „Freiheitsglocke“, wie sie genannt wird. Mehrere Busse kommen angerollt und die Frauen strecken Schilder mit Namen und Fotografien in die Höhe. Plötzlich wird es still. Die Türen der Busse öffnen sich, und Jubel brandet auf. Menschen fallen einander in die Arme. Die Feuerwehrkapelle intoniert den Choral „Nun danket alle Gott“. Und für die wartenden Menschen ist es nun endlich Gewissheit: Der „Alte“, wie viele Deutsche ihren Bundeskanzler nennen, hat sein Versprechen eingelöst ...
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Jetzt runterladen!Es waren ausgemergelte, bartstoppelige Männer in abgetretenen Stiefeln und zerlumpten Mänteln, die nach tagelanger Reise in Zügen und Bussen im sogenannten Grenzdurchgangslager Friedland bei Göttingen ankamen. Sie waren die ersten 600 von rund 10.000 deutschen Wehrmachtsoldaten und -offizieren, die im zehnten Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gesessen hatten. Ihre Freilassung gilt bis heute als einer der größten Erfolge des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Er hatte sie direkt mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin und dem sowjetischen Parteichef Nikita Chruschtschow ausgehandelt, die nach dem Tod des Diktators Josef Stalin an die Macht gekommen waren.
Noch 1950 hatte Stalin verbreiten lassen, dass sich „keine deutschen Kriegsgefangenen mehr in der Sowjetunion befinden“ würden – „nur“ noch rund zehntausend wegen schwerer Kriegsverbrechen Verurteilte und Untersuchungshäftlinge. Ja, es stimmte: Unter diesen Gefangenen waren SS-Männer und Angehörige der ehemaligen deutschen Wehrmacht, die schwere Schuld auf sich geladen hatten. Trotzdem wollten die Deutschen ihren Ohren nicht trauen: Zehntausend?! Hunderttausende wurden noch vermisst! Niemand wusste, ob sie überhaupt noch lebten. Und auch aus der sowjetischen Besatzungszone, die inzwischen „DDR“ hieß, waren in den Nachkriegsjahren zahllose Menschen verschleppt worden. Dazu genügte es schon, sich kritisch über das kommunistische System geäußert zu haben. Oder von irgendjemandem verdächtigt oder angeschwärzt worden zu sein. Das Schicksal dieser Verschleppten wurde in der DDR einfach totgeschwiegen. Aber: War es für eine junge Demokratie wie die Bundesrepublik einfach so hinnehmbar, dass zehn Jahre nach Kriegsende immer noch Deutsche in sowjetischen Zwangsarbeitslagern saßen? Diese Frage konnte Bundeskanzler Konrad Adenauer nur mit Nein beantworten.
Dann aber, im Juni 1955, geschah etwas völlig Unerwartetes ...
Die Bundesrepublik war inzwischen weitgehend vom Besatzungsrecht der Westmächte befreit und hatte in der französischen Hauptstadt Paris eine Botschaft eröffnet. Und genau dort traf am 6. Juni eine Einladung ein, mit der im ganzen Westen kein Mensch gerechnet hatte: Die sowjetische Führung lud den deutschen Regierungschef Konrad Adenauer zu einem Staatsbesuch nach Moskau ein! Thema des sowjetisch-deutschen Treffens sollte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen sein. Ein heikler Punkt. Denn während sich die BRD wirtschaftlich und mittlerweile auch militärisch nach Westen orientierte, hatte sich im östlichen Teil Deutschlands unter sowjetischer Oberherrschaft ein eigener Staat namens DDR gegründet. Weil die Bundesregierung der BRD aber stets darauf bestand, dass es nur ein Deutschland geben könne und nicht zwei, sah sie sich dazu berechtigt, diese DDR nach außen hin gleich mit zu vertreten. Das hatte schon zu so manchem Missklang in der Außenpolitik geführt.
Adenauer stand unter Druck. Die Einladung nach Moskau konnte er nicht ablehnen, wollte er nicht jede Hoffnung auf eine deutsche Wiedervereinigung zunichte machen. Er wusste, dass eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nur mit den Sowjets gelingen konnte – und dafür könnte der Austausch von Diplomaten durchaus hilfreich sein. Aber niemand konnte einschätzen, ob die Sowjets nicht gerade damit die deutsche Zweistaatlichkeit für alle Zeiten festschreiben wollten. Denn mit der DDR unterhielt die Sowjetunion schon seit 1949 diplomatische Beziehungen.
Im September 1955 reiste Adenauer also mit einer größeren Delegation in die sowjetische Hauptstadt. Sein Plan stand fest: Er würde auf keinen Fall an den Verträgen rütteln lassen, mit denen die Bundesrepublik Teil der westlichen Wirtschafts- und Verteidigungsbündnisse geworden war. Und er würde dem sowjetischen Wunsch nach diplomatischen Beziehungen nur zustimmen, wenn die Sowjets zu Gegenleistungen bereit wären. Das Mindeste würde die Freilassung aller Deutschen sein, die noch immer in den sowjetischen Arbeitslagern saßen. Was Adenauer nicht wusste: Die Sowjetführung hatte ohnehin vor, diese Gefangenen freizulassen ...
Die Verhandlungen verliefen zunächst äußerst zäh. Bei einem festlichen Abendessen im Kreml versprachen die Sowjetführer Bulganin und Chruschtschow dem deutschen Kanzler Adenauer dann schließlich, alle deutschen Gefangenen freizugeben. Aber konnte der Bundeskanzler dem mündlichen Ehrenwort der kommunistischen Machthaber trauen?
Dann, am 7. Oktober 1955 trafen die ersten 600 von knapp 10.000 freigelassenen Kriegsgefangenen aus den sowjetischen Lagern in Friedland ein. Auch die rund 20.000 zivilen Gefangenen aus der DDR wurden dorthin zurückgebracht. Ihr Empfang war eher frostig, während die Spätheimkehrer im Westen überschwänglich begrüßt wurden. Aber was erwartete sie in der Heimat? Städte und Dörfer, die sie nicht mehr wiedererkannten, Frauen und Kinder, denen sie fremd geworden waren. Viele waren krank, an Körper und Seele. In ihrer alten Rolle als Oberhaupt und Ernährer der Familie waren sie nicht unbedingt willkommen, schließlich hatten die Frauen sich mit den Kindern jahrelang allein durchschlagen müssen. Und die alten Geschichten vom entbehrungsreichen Lagerleben wollte zuhause niemand hören. Dies alles trug wohl dazu bei, dass sich viele dieser Spätheimkehrer in eine Opferrolle hineinsteigerten und die eigenen Taten im Krieg ausblendeten. Einige prominente SS-Täter mussten sich in den folgenden Jahren noch vor westdeutschen Gerichten verantworten. Aber für die Mehrzahl der Spätheimkehrer gab es keine Aufarbeitung. Die Gesellschaft ging zur Tagesordnung über.
Am 16. Januar 1956 traf der letzte große Transport mit 474 Personen im Grenzdurchgangslager Friedland ein. Damit war der Zweite Weltkrieg endgültig Vergangenheit. Auf den Bundeskanzler aber wartete tief im Südwesten der Republik bereits eine neue Aufgabe, die ebenso Mut und Verhandlungsgeschick erforderte. Und vor allem die Bereitschaft, einen alten Dauerkonflikt mit einer ganz neuen Idee aus der Welt zu schaffen: den Konflikt um die sogenannte Saarfrage.
Zusammenfassung
Im Spätsommer 1955 folgte Bundeskanzler Konrad Adenauer einer Einladung zu einem Staatsbesuch in der Sowjetunion. Die Sowjets wünschten sich diplomatische Beziehungen mit der Bundesrepublik.
Adenauer wollte seinerseits die Freilassung von rund 10.000 deutschen Kriegsgefangenen und weiteren 20.000 Zivilisten erreichen, die aus der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR in sowjetische Lager verschleppt worden waren.
Nach mehrtägigen Verhandlungen erhielt Adenauer von der sowjetischen Staats- und Parteiführung in Moskau das Ehrenwort, dass die Gefangenen freigelassen werden würden.
Am 7. Oktober 1955 kamen die ersten 600 Freigelassenen im Grenzdurchgangslager Friedland an. Bis auf wenige Ausnahmen ließen die Sowjets bis Mitte Januar des Folgejahrs alle noch internierten Deutschen heimkehren.
Zwischen 1941 und 1945 waren etwas mehr als drei Millionen Soldaten der Wehrmacht in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. Schätzungen zufolge überlebten 1,11 Millionen die Lagerhaft nicht oder blieben vermisst.
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Richtige Antworten:
1. C) Sowjetunion
2. A) 1955
3. C) Konrad Adenauer
4. D) Bei Friedland
5. B) Nikita Chruschtschow
Der Begriff hat sich eingebürgert für den diplomatischen Erfolg, den der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer im September 1955 bei einem Besuch in Moskau erzielte. Er handelte mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin und Parteichef Nikita Chruschtschow die Freilassung von rund 10.000 deutschen Kriegsgefangenen sowie weiterer rund 20.000 Zivilpersonen aus. Die letzten Gefangenen dienten der Sowjetführung zeitweise als Verhandlungsmasse bei der Anknüpfung diplomatischer Beziehungen mit Bonn.
Sie gehörten zu den letzten Deutschen, die vom Herbst 1955 bis Januar 1956 aus sowjetischer Gefangenschaft nach Hause zurückkehren durften. Der Großteil der deutschen Kriegsgefangenen war bereits bis 1950 nach Hause entlassen worden. Ein Teil derjenigen, die noch in den Lagern oder Gefängnissen saßen, waren ehemalige Nationalsozialisten, die von den Sowjets wegen erwiesener Schuld zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren – das übliche Strafmaß betrug 25 Jahre Zwangsarbeitslager. Es waren aber auch Menschen unter diesen letzten Kriegsheimkehrern, die irrtümlich oder durch Denunziation ins Räderwerk der Sowjetbehörden geraten waren. Speziell in der Sowjetischen Besatzungszone waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit viele Menschen ohne Schuld verurteilt wurden, weil sie Kritik am Kommunismus gewagt hatten oder auch nur, weil irgendjemand sie angeschwärzt hatte.
Der Alltag in den Lagern war von Hunger, schlechten hygienischen Bedingungen und Krankheiten geprägt. Hinzu kamen die bittere Kälte der russischen Winter und auch Grausamkeiten der Bewacher. Die Deutschen wurden zum Wiederaufbau des von Hitlers Truppen zerstörten Landes herangezogen, so etwa im Straßen- und Wohnungsbau, in Bergwerken, der Schwerindustrie und der Landwirtschaft. Das sowjetische System der Kriegsgefangenschaft war allerdings nicht als Dauereinrichtung vorgesehen. Die Sowjetführung plante durchaus, die Deutschen früher oder später nach Hause zu schicken – spätestens, wenn sie ihren Beitrag zum Wiederaufbau abgeleistet hätten. Als Erste durften denn auch die Schwachen und Kranken gehen, die zu schwerer Arbeit nicht in der Lage waren. Die erste große Entlassungswelle hatte es bereits 1945 gegeben, eine zweite folgte im Jahr darauf.
Sowjetische Kriegsgefangene wurden unter grausamen Bedingungen in Lagern zusammengepfercht und zur Zwangsarbeit herangezogen. In Rüstungsbetrieben oder Bergwerken mussten sie schwerste und gefährliche Arbeiten ausführen. Heinrich Himmler, der „Reichsführer SS“, hatte am 20. Februar 1942 die menschenverachtenden Vorschriften dafür erlassen. Danach ging es offen um „Vernichtung durch Arbeit“. Deutschen war es streng verboten, den Gefangenen auch nur die kleinste menschliche Geste des Mitgefühls entgegenzubringen.
Zwischen 1941 und 1945 gerieten etwas mehr als drei Millionen Soldaten der Wehrmacht in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Schätzungen zufolge überlebten 1,11 Millionen die Lagerhaft nicht oder blieben vermisst; das sind rund 33 Prozent. Zum Vergleich: Im Ersten Weltkrieg hatte die Sterberate der deutschen Kriegsgefangenen in Russland bei rund 40 Prozent gelegen.
Schwierig – aus unterschiedlichen Gründen. Viele dieser Kriegsheimkehrer waren nicht nur schwer traumatisiert, sie mussten sich auch in völlig unbekannten Bedingungen zurechtfinden. Als Soldaten waren sie Befehlsempfänger gewesen, nun sollten sie als Bürger eines demokratischen Staatswesens leben und handeln. Das war schwerer als man heute glauben mag. Viele fühlten sich als Opfer, als von den Nazis Betrogene – und über dieser Opferrolle verdrängten sie, dass sie Täter gewesen waren. Und hinzu kam, dass viele heimgekehrte Familienväter zu Hause nicht mehr Fuß fassen konnten. Ihre Frauen hatten während ihrer Abwesenheit sich und die Kinder allein durchbringen müssen und gelernt, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Und nun sollten sie sich wieder dem „Hausherrn“ unterordnen? Das führte zu Reibereien und oft genug auch zur Scheidung.