Sie sitzt auf einem Schieferfelsen am Rheinufer, kämmt unschuldig ihr Haar und singt die vorbeifahrenden Boote reihenweise ins Verderben: die Loreley. Heinrich Heine hat die blonde Frau am Rhein weit über Deutschland hinaus berühmt gemacht. Aber wusstest du, dass er die Loreley gar nicht erfunden hat?
Zwischen Bingen und Koblenz liegt ein Tal, das die meisten Menschen mit zwei Worten beschreiben: Wie romantisch! Der Rhein gräbt sich dort tief in die Landschaft, grüne Hügel ragen links und rechts steil empor, darauf Burgen, Schlösser und Ruinen. Doch Moment! Wo wollen denn alle diese Menschen hin? Aus der ganzen Welt sind sie hergekommen, sie fragen im Besucherzentrum nach einem ganz bestimmten Ort. Sie wollen zu diesem Rheinfelsen, zu der Stelle im Tal von St. Goar, wo der Strom eine seiner engsten Stellen hat. Dorthin, wo es dieses ganz besondere dreifache Echo gibt. Aber nein: Sie suchen nicht nur einen Felsen im Landschaftspark. Sie suchen eine ganz bestimmte Frau, einen urdeutschen Mythos: Die Loreley! Zu finden ist sie am Fuße des Felsens. Nahe der Stadt Sankt Goarshausen sitzt sie als 2,20 Meter hohe Bronzestatue am Rhein, nackt mit ellenlangem Haar und blickt unschuldig zu Boden. Jeden Sommer scharen sich die Touristen um die Loreley-Statue. Jeder möchte ein Selfie mit ihr. Und daran ist vor allem einer schuld: Heinrich Heine.
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Jetzt runterladen!Die Loreley aus dem Jahr 1824 ist das wohl berühmteste Gedicht Heinrich Heines. Zumindest die erste Strophe dürfte fast jeder schon einmal gehört haben:
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Mährchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Was dem guten Heine da allerdings nicht aus dem Sinn kam, war gar keine „Mähr” oder Sage aus alten Zeiten. Erst gute 20 Jahre waren vergangen, seit sich der romantische Dichter Clemens Brentano die Figur der Loreley ausgedacht hatte. Diesen Namen trug nämlich ursprünglich nur der Felsen im mittleren Rheintal, der schon seinerzeit ein beliebter Aussichtspunkt auf idyllische Ortsgemeinden wie Bornich oder Kaub und trutzige Wehranlagen wie Burg Rheinfels oder Burg Katz (damals noch Katzenelnbogen) war. Der Fluss windet sich auf diesem Abschnitt zwischen St. Goar und Oberwesel in engen Kurven durch das Felsmassiv. Es ist ein heute entschärfter, damals aber gefährlicher Flussabschnitt für Kähne und Schiffe, der Ängste schürte und die Fantasie beflügelte.
Brentano übertrug den Namen des Felsens in einer seiner Balladen auf eine Zauberin namens Lore Lay, die „zu Bacharach am Rheine” wohnt. Ihre Magie ist ihre Schönheit: Jeder Mann verfällt ihr und findet dadurch den Tod. Nur der Eine, den sie selbst liebt – ausgerechnet dieser ist gegen ihre magische Schönheit immun. So stürzt sich Lore Lay am Ende selbst aus Liebeskummer von ihrem Felsen in den Rhein ...
Diese Version kennt heute aber kaum jemand mehr. Es war Heinrich Heine, der das Bild jener schönen Nixe prägte, die auf dem Schieferfelsen sitzt, ihr goldenes Haar kämmt und mit ihrem Gesang die vorbeifahrenden Schiffer betört. Sie achten nicht mehr auf die gefährlichen Strömungen und die scharfen Felszacken dicht unter der Wasserlinie, sondern fahren blind in ihr Unglück. Ihre Schiffe zerschellen am Felsen ...
Noch zu Heines Lebzeiten wurde das Gedicht weltweit berühmt. Das lag vor allem auch an der Melodie, die der Musiker Friedrich Silcher später dazu komponierte. Die schlichte und getragene Volksweise lässt die Abendstimmung über dem majestätischen Strom, der in der zweiten Strophe in die Handlung einführt, buchstäblich fühlbar werden:
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar [;]
Ihr gold’nes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr gold’nes Haar.
Sie kämmt es mit gold’nem Kamme,
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe
Er schaut nur hinauf in die Höh´.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Ley gethan.
Der Mythos Loreley wurde mit Heines Gedicht zum Inbegriff der Rheinromantik. Seine Verse wurden auf farbenfrohe Postkarten mit zuckersüßen Motiven gedruckt, die man seiner Liebsten schicken konnte. Allerdings: Ein waschechter Romantiker war Heine keineswegs. Mit ihm endete im Grunde die Epoche der Romantik. Und Heine gilt heute als ihr letzter Vertreter.
Die Epoche der Romantik begann Ende des 18. Jahrhunderts und erfasste nicht nur die Literatur, sondern auch Musik, Kunst und Philosophie. Als Antwort auf die nüchterne Vernunft der Aufklärung setzten die Romantiker auf große Gefühle und verloren sich träumerisch in der Natur. Sie begeisterten sich für das Magische, Übernatürliche, Märchenhafte – insbesondere für das Mittelalter.
Heinrich Heine war ein Kind der Romantik, in seiner Jugend stand sie in voller Blüte. Er las ihre Dichter und eiferte ihnen nach. Er fühlte aber auch, dass ihre Zeit zu Ende ging.
Im Gedicht von der „Loreley“ finden sich dann auch typische Stilmerkmale der Epoche: Die melancholische Stimmung, die idyllische Natur, das Abendlicht, die märchenhafte Figur auf dem Felsen – das alles liebten die Romantiker. Heine aber hatte genug davon, nur und ausschließlich in romantischen Gefühlen zu schwelgen! Stattdessen schreibt er: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin?“ Heines lyrisches Ich ist offenbar verwirrt. Irgendwie gelingt es ihm nicht mehr, sich unbeschwert in die Märchenwelten zu flüchten. Das Vergangene ist vergangen, es gibt kein Zurück.
Und die Schiffer im Gedicht? Sie zeigen, wohin es führt, sich von romantischen Gesängen einlullen zu lassen. Sie sehen die tatsächliche Gefahr nicht mehr, die unmittelbar vor ihrem Bug lauert: die Felsen, an denen ihr Schiff zerschellen wird.
Heine ahnte: Die romantische Weltflucht ist nicht mehr zeitgemäß. Es braucht einen neuen Ton, eine andere Sprache, um die Wirklichkeit und ihre Missstände abzubilden.
Und diesen neuen Ton, den Heine in die Dichtung brachte, unterfütterte er mit jeder Menge Ironie ...
Für seinen ironischen Ton wurde Heinrich Heine berühmt. In vielen seiner Gedichte macht er sich über die Romantik lustig, indem er ihre typischen Stilmittel und Sprachbilder auf die Spitze treibt. Der Leser ist verunsichert: Ist das hier noch ernst gemeint? Das klingt doch irgendwie übertrieben, fast ins Lächerliche gezogen. Mal schwingt Heines Spott ganz beiläufig zwischen den Zeilen mit, mal tritt er ganz offen zu Tage.
Zum Beispiel in diesem Gedicht:
Das Fräulein stand am Meere,
Und seufzte lang und bang.
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! Sein sie munter,
Das ist ein altes Stück
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.
Heine macht sich in diesem Gedicht über etwas typisch Romantisches lustig. Denn wie so oft in romantischen Gedichten steht einfach nur jemand da und ist von der Natur völlig ergriffen. Bei Heine ist es das Fräulein, das von einem Sonnenuntergang ganz fasziniert ist.
Auch die romantische Schwärmerei für das Mittelalter konnte Heinrich Heine nicht teilen. Das war ihm viel zu rückwärtsgewandt. Nicht zuletzt war das Mittelalter die hohe Zeit der Religion gewesen, insbesondere der katholischen Kirche, die die Menschen unterdrückte und keine andere Weltsicht duldete als die ihre. „Das tausendjährige Reich der Romantik hat ein Ende und ich selbst war sein letzter und abgedankter Fabelkönig“, schrieb Heine an einen Freund.
Ja, Heine erklärte die Romantik für beendet. Der Rückzug der Romantiker in innere Traumwelten hatte sich erschöpft. Es war an der Zeit, sich mit den realen Missständen im Deutschen Bund auseinanderzusetzen. Heine hatte das begriffen und begann, politische Gedichte zu schreiben. Doch bevor er sie schrieb, musste er seine deutsche Heimat erst einmal verlassen …
Zusammenfassung
Die „Loreley“ ist gar keine Sagengestalt aus einem alten deutschen Märchen. Erfunden hat sie der romantische Dichter Clemens Brentano zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Brentano übertrug den Namen eines Schieferfelsens im mittleren Rheintal zwischen Mainz und Bonn auf eine Frauengestalt: eine wunderschöne Zauberin namens „Lore Lay”, die sich aus Liebeskummer von eben jenem Felsen stürzt.
Heine machte aus Brentanos „Lore Lay” die nixenhafte Frauengestalt „Lore-Ley”, die die Rheinschiffer durch ihren unwiderstehlichen Gesang ablenkt und reihenweise in den Tod treibt.
Der Komponist Friedrich Silcher vertonte Heines Gedicht. Es gibt noch weitere Vertonungen, unter anderem von Franz Liszt, aber gerade Silchers schlichte Volksweise wurde weltberühmt.
„Die Loreley“ kann man als bloßes romantisches Gedicht lesen, es steckt aber gleichzeitig auch Kritik an der eigenen Epoche darin. Heinrich Heine gilt als Überwinder der Romantik, weil er deren typische Stilmittel ironisch brach.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. D) Heinrich Heine
2. B) Romantik
3. A) Clemens Brentano
4. C) „Das Fräulein stand am Meere”
5. D) Rhein