Hitlers Partei, die NSDAP, war Ende 1932 die stärkste Fraktion im Reichstag. Und der selbsternannte Führer wollte unbedingt Reichskanzler werden. In dieser Story erfährst du, welche fatale Fehleinschätzung Hitler den Weg ins Kanzleramt ebnete – und dass von einer „Machtergreifung Hitlers“ keine Rede sein kann.
Die Arbeiterfrau wird immer nervöser. Schon seit über einer Stunde hält sie das bescheidene Abendessen auf dem Kohleherd warm, so gut es geht. Ihr Mann müsste längst zuhause sein! Ist er etwa in eine dieser Schlägereien hineingeraten, die neuerdings an der Tagesordnung sind? Diese brutalen Horden in den braunen Uniformen machen vor nichts und niemandem Halt – und die Kommunisten zahlen mit gleicher Münze zurück!
Die Arbeiterfrau hält es nicht mehr in der leeren Küche. Sie wirft sich den Mantel um und rennt die Treppen hinunter. Inzwischen ist es stockdunkel geworden, aber die Straße ist voller Menschen. Alle strömen in eine Richtung: Zum Regierungsviertel. Die Frau schließt sich der Menge an, ohne lange nachzudenken. Aber schon nach kurzer Wegstrecke stockt ihr der Atem: Tausende Uniformierte mit Hakenkreuzfahnen marschieren im Licht unzähliger Fackeln die Straße entlang, tausende Schaulustige jubeln einer dunklen Gestalt zu, die an einem der hell erleuchteten Fenster steht. Und dann hört die junge Frau aus zahllosen Kehlen den unheilverkündenden neuen Gruß der heraufdämmernden NS-Diktatur, der für die nächsten Jahre das gesamte öffentliche Leben in Deutschland bestimmen wird: „Heil Hitler”!
Die erste App, die dich wirklich schlauer macht.
Jetzt runterladen!Es war der Abend des 30. Januar 1933 – des Tages, an dem Adolf Hitler zum neuen Kanzler des Deutschen Reichs ernannt worden war. Seine Anhänger feierten ihn mit einem hastig organisierten, großangelegten Fackelzug. Der Führer der Nationalsozialisten hatte es also tatsächlich an die Schalthebel der Macht geschafft. Seine Anhänger feierten dies als die nationalsozialistische Machtergreifung. Aber: Seinen Aufstieg ins Kanzleramt verdankte Hitler lediglich einer gehörigen Portion Glück und den persönlichen Machtspielchen einiger anderer Männer.
Drei Monate vor jenem denkwürdigen 30. Januar war die Situation für den selbsternannten Führer nämlich noch eine völlig andere gewesen. Denn für die Ernennung des Reichskanzlers war Paul von Hindenburg zuständig − der Reichspräsident der Weimarer Republik. Hindenburg war ebenso wie Hitler ein erklärter Gegner der Demokratie. Mit Genugtuung hatte er die Stimmenverluste der SPD bei den letzten Reichstagswahlen beobachtet und die Zerwürfnisse der Parteien im Reichstag für seine eigene Machtpolitik ausgenutzt. Seit zwei Jahren regierte er mit Notverordnungen an einem Parlament vorbei, das immer handlungsunfähiger geworden war. Denn die Weimarer Verfassung hatte das Amt des Reichspräsidenten mit unverhältnismäßig viel Macht ausgestattet. Die Nationalsozialisten mit ihren prügelnden SA-Horden waren in seinen Augen allerdings nur ein Haufen Rüpel. Die SA war die Kampforganisation der NSDAP, sorgte für Chaos auf den Straßen und setzte auf Einschüchterung der politischen Gegner und linken politischen Parteien; allen voran die KPD. Paul von Hindenburg hielt Adolf Hitler insofern schlicht für unfähig, ein derart wichtiges Staatsamt auszuüben. Doch der Reichspräsident sollte seine Meinung bald ändern. Und das lag nicht etwa daran, dass Hitler plötzlich ungeahnte Qualitäten bewiesen hätte. Nein, den Weg ins Kanzleramt bahnten ihm zwei ehemalige Militärs, die in der Weimarer Demokratie in die höchsten Ränge der Politik aufgestiegen waren. Der eine hieß Franz von Papen, der andere Kurt von Schleicher.
Franz von Papen war von Juni bis Dezember 1932 Reichskanzler gewesen. In seiner kurzen Amtszeit hatte er unter anderem in einer Art Staatsstreich die SPD-geführte Landesregierung von Preußen entmachtet, was die innere Krise der Republik nochmals gravierend verschärfte. Daraufhin musste Papen mitsamt seinem Präsidialkabinett zurücktreten. Und Hindenburg ernannte Anfang Dezember einen neuen Reichskanzler. Nicht etwa Adolf Hitler, der erwartungsvoll in den Startlöchern stand. Nein. Der neue Kanzler hieß: Kurt von Schleicher. Er war ebenso wie sein Vorgänger der Ansicht, die lästigen Nationalsozialisten durch eine Beteiligung an der Regierung zähmen zu können. Denn obwohl Hitlers Schlägertrupps fortwährend für blutige Unruhen in Berlin und anderen Städten sorgte, konnte doch niemand mehr die Augen davor verschließen, dass der Nationalsozialismus zu einer Massenbewegung geworden war. Die Menschen sehnten sich nach politischer und wirtschaftlicher Stabilität, und genau dies versprach ihnen die Propaganda der NSDAP. Sie bot für jeden das Passende: Den Mittelständlern versprach sie Sicherheit und einen nie dagewesenen Aufschwung, den Arbeitern das Ende von Not und Ausbeutung. Mit dieser Partei, so dachte sich Kurt von Schleicher, könnte er endlich wieder eine stabile Regierung auf breiter Basis bilden – und damit seine eigene Macht ausbauen.
Aber Hitler hatte eine bloße Beteiligung an der Regierung der Republik rundweg abgelehnt. Er wollte den Chefsessel und sonst nichts. Schleicher setzte daher auf eine andere Strategie: Er versuchte, den gemäßigteren Teil der NSDAP zu einer parteiübergreifenden Zusammenarbeit mit den Vertretern der Arbeiterschaft zu bewegen. Das lief auf eine Spaltung der Nazi-Partei hinaus und misslang gründlich, denn Hitler beharrte auf seinem Führungsanspruch und blockierte jede Annäherung. Schleichers Plan war gescheitert. Schlimmer noch: Sein Vorstoß kostete ihn den Rückhalt bei den Reichen und Mächtigen der Republik. Industriebosse und Großgrundbesitzer waren nun vorgewarnt und konnten sich notgedrungen mit dem Gedanken anfreunden, auch einen Mann als Reichskanzler zu akzeptieren, der Adolf Hitler hieß. Und an dieser Stelle trat Schleichers Vorgänger Franz von Papen auf den Plan...
Papen wollte zurück an die Macht, und auch er wollte die Nationalsozialisten dazu benutzen. Hinter dem Rücken seines Konkurrenten begann er mit Hitler und Vertretern der bürgerlichen Rechten zu verhandeln. Sein Plan war so einfach wie gefährlich: Er, Papen, müsste ja gar nicht selbst an der Spitze der Regierung stehen. Er könnte ebenso gut Vizekanzler werden und mit einer bürgerlich-nationalen Mehrheit im Kabinett Hitler im Zaum halten. Sie würden Hitler „einrahmen“ und dessen Extremismus eindämmen. „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht“, soll Papen gesagt haben. Eine fatale Fehleinschätzung – wie sich noch zeigen sollte..
Der amtierende Reichskanzler Kurt von Schleicher war unterdessen immer mehr unter Druck geraten. Sein letzter Ausweg: ein „Notstandsplan“, den er unter strengster Geheimhaltung aufstellen ließ. Der Plan hatte es in sich: Gewerkschaften sollten unterdrückt, Streikverbote erlassen und im Falle eines Generalstreiks die Reichswehr eingesetzt werden. Und weil es auf der Hand lag, dass das Parlament diese demokratiefeindlichen Verordnungen gleich wieder aufheben würde, plante Schleicher wieder einmal die Auflösung des Reichstags − und zwar diesmal ohne Neuwahlen. Damit war Schleichers Plan verfassungswidrig, und Reichspräsident Hindenburg lehnte ihn folgerichtig ab. Schleicher blieb nur der Rücktritt.
Und am 30. Januar 1933 schlug Hitlers große Stunde: Paul von Hindenburg ernannte ihn zum neuen Kanzler des Deutschen Reichs. Franz von Papen wurde wunschgemäß Vizekanzler. Aber von der Vorstellung, Hitler politisch in die Ecke drängen zu können, musste sich Papen sehr schnell verabschieden. Denn der neue Reichskanzler mühte sich gar nicht erst mit den politischen Querelen der Republik ab. Sein Ziel waren Neuwahlen des Parlaments, das künftig in seinem Dritten Reich nur noch ein Scheinparlament sein würde. Innerhalb kürzester Zeit gelang es Hitler tatsächlich, alle Strukturen der ersten Demokratie der deutschen Geschichte zu zerschlagen. Dabei sollte ihm ein Großbrand in die Karten spielen, der sich nur wenige Wochen nach seiner Ernennung ereignete: der Reichstagsbrand. Er würde den Anlass zur sogenannten Reichstagsbrandverordnung geben, mit der sich für das deutsche Volk alles änderte. Es begann die NS-Zeit, während der Deutschland unaufhaltsam auf den Zweiten Weltkrieg zusteuerte...
Zusammenfassung
Die NSDAP war 1932 zweimal die stärkste Partei im Reichstag geworden. Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte trotzdem nicht Adolf Hitler, sondern Kurt von Schleicher zum neuen Reichskanzler.
Schleicher musste nach wenigen Wochen wieder zurücktreten. Sein Vorgänger Franz von Papen überredete den Reichspräsidenten, nun doch Adolf Hitler als neuen Reichskanzler einzusetzen. Das geschah am 30. Januar 1933.
Papen hoffte darauf, als Vizekanzler die eigentliche Macht im Staate zu erlangen und Hitler politisch in die Ecke drängen zu können. Das erwies sich als großer Irrtum.
Hitler strebte Neuwahlen an, um für seine NSDAP doch noch die absolute Mehrheit zu erringen.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. D) Paul von Hindenburg
2. C) Notverordnungen
3. A) Kurt von Schleicher
4. C) Am 30. Januar 1933
5. D) Politische Machtspiele
6. A) In Berlin