Die „Ode an die Freude“ aus Beethovens 9. Sinfonie ist die wohl bekannteste Melodie des Komponisten. Heute ist sie die Europa-Hymne, in Deutschland und weltweit ein Sinnbild für die Völkerverständigung. Nach dieser Story weißt du, welch revolutionäre Idee in der Sinfonie steckt und warum Beethoven mit diesem Werk auch seinem eigenen Schicksal den Kampf ansagte.
Wild fuchtelt Beethoven mit Händen und Füßen, als spiele er jedes Instrument selbst. Dabei kann er kein einziges davon hören. Doch es ist sein Moment. Dort oben auf seinem Podest inmitten des Orchesters im Wiener Theater. Er ist die Geige, die Posaune, die Pauke. Auch wenn seine Ohren nur ein dumpfes Brummen und Rauschen wahrnehmen – in seinem Kopf hört er jeden einzelnen Ton. Er spürt jeden Takt, jede Note. Er fühlt sie – mit seinen Händen, Füßen, Armen und Beinen, mit seinem Bauch und seinem Herzen. Es ist seine Musik, seine Neunte Sinfonie.
Zum großen Finale betritt dann ein Chor die Bühne und besingt die „Freude, schöner Götterfunken“. Eine so volle Bühne hat die Welt bisher nicht gesehen, Musik wie diese noch nie zuvor gehört. Als der letzte Ton der Sinfonie verklingt, ist das Publikum kaum noch zu halten: tosender Applaus, Bravorufe. Doch was macht Beethoven da? Mit geschlossenen Augen schwingt er weiterhin seine Arme. Wie in Trance bewegt er seinen Körper zu einer Musik, die jetzt nur noch in seinem Kopf spielt.
Plötzlich spürt er eine Hand auf seiner Schulter und öffnet erschrocken die Augen. Eine Chorsängerin steht neben ihm. Sanft bewegt sie ihn dazu, sich zum Publikum umzudrehen. Beethoven dreht sich und schaut entgeistert in die jubelnde Menge, in den tobenden Saal – und verbeugt sich. Es ist seine letzte Sinfonie.
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Jetzt runterladen!Die Uraufführung der 9. Sinfonie im Jahr 1824 in Wien war Beethovens erster öffentlicher Auftritt seit Jahren – und wurde sein letzter. Zu diesem Zeitpunkt war längst bekannt, dass der 53-Jährige stark schwerhörig geworden war. Dirigieren konnte er das Orchester nicht. Also stand er auf einem Podest inmitten des großen Ensembles – und einige Meter vor ihm stand der „echte“ Dirigent des Abends und leitete das Orchester.
Beethoven hat diese 9. Sinfonie, eines seiner größten Werke, in nahezu völliger Gehörlosigkeit geschaffen. So vertraut war ihm die Sprache der Musik. Wo andere Noten sahen, ertönte in Beethovens Kopf das Spiel eines Orchesters. Er arbeitete mehr als sechs Jahre an der Sinfonie. In dieser Zeit isolierte ihn der stetig zunehmende Gehörverlust von der übrigen Welt. Auch ein Leberleiden machte ihm zu schaffen. Und doch ist die „Neunte“ kein Werk des Leids – ganz im Gegenteil: Beethoven entwarf in der dunkelsten Phase seines Lebens eine Liebeserklärung an die Freude und bot seinem eigenen Schicksal die Stirn.
Um dieser Absicht Ausdruck zu verleihen, ließ er für das berühmte Finale einen ganzen Chor auftreten. Ihn ließ er Zeilen des deutschen Dichters Friedrich Schiller singen: die „Ode an die Freude“. Schiller hatte sie im Sommer des Jahres 1785 in einem Bauernhaus in Gohlis bei Leipzig geschrieben und im Herbst in Loschwitz bei Dresden fertiggestellt, wo sein Freund und Gönner Christian Gottfried Körner einen Weinberg am Elbhang besaß. So manches Glas werden sie dort im Freundes- und Familienkreis geleert haben. Und dies findet sich auch im Gedicht wieder: Themen wie Freude, Einigkeit, Freundschaft, Glück und Freiheit – die liberalen Ideale und Ideen der Französischen Revolution – spielen eine tragende Rolle darin:
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
Muß ein lieber Vater wohnen.
Wem der große Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein,
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
Ja – wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund.
(...)
Freude trinken alle Wesen
an den Brüsten der Natur,
Alle Guten, alle Bösen
folgen ihrer Rosenspur.
Küße gab sie u n s und R e b e n ,
einen Freund, geprüft im Tod.
Wollust ward dem Wurm gegeben,
und der Cherub steht vor Gott.
(...)
Froh, wie seine Sonnen fliegen,
durch des Himmels prächtgen Plan,
Laufet Brüder eure Bahn,
freudig wie ein Held zum siegen.
(...)
Freude sprudelt in Pokalen,
In der Traube goldnem Blut
Trinken Sanftmut Kannibalen,
Die Verzweiflung Heldenmut – –
Brüder, fliegt von euren Sitzen,
Wenn der volle Römer kreist,
Laßt den Schaum zum Himmel sprützen:
Dieses Glas dem guten Geist.
39 Jahre später vertonte Beethoven Schillers Ode. Für ihn war sie der Ausdruck eines Traums vom gesellschaftlichen Aufbruch in eine neue Welt. In dieser neuen Welt sollte jeder Mensch – ganz im Geiste der Französischen Revolution – frei von sozialen Zwängen und Klassen leben. Das machte Beethovens Neunte auch zu einem politischen Stück. Auch in seiner Musik ging Beethoven buchstäblich revolutionär voran: Er ließ alte Konventionen hinter sich und bereitete endgültig den Weg zur musikalischen Epoche der Romantik.
Das Publikum war begeistert von diesem neuen Hörerlebnis. Doch Beethovens musikalische Revolution gefiel nicht allen. Kritiker fragten sich, ob die 9. Sinfonie Kunst sei oder ob Beethoven nun vollkommen den Verstand verloren habe. Sein Werk sei viel zu lang und missachte alle Regeln der Klassik.
Die Kritik kam nicht von ungefähr. In der Zeit vor Beethovens „Neunter“ war eine Sinfonie schlicht ein mehrteiliges Instrumentalwerk für ein Orchester. Ohne Solisten. Beethoven war der erste Komponist, der einzelne Sänger und einen Chor in einer Sinfonie auftreten ließ. Damit erfand er die „Sinfoniekantate“.
Aber auch schon der erste Satz bricht Regeln: Beethovens Reise beginnt ohne Kompass, ohne eine klare Melodie, die heraussticht. Stattdessen wird das Publikum rund 18 Minuten lang in die Klangwelt des Orchesters eingeführt. Die Idee der „neuen Welt“ ist noch nicht greifbar, aber spürbar: Beethoven erweiterte die übliche Orchesterbesetzung jener Zeit durch Instrumente wie Posaunen, Piccoloflöten und Trommeln. Noch stehen Klangfarben vor klaren Formen. Wie sagte der Philosoph und Beethoven-Fan Friedrich Nietzsche: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären.“
Dieser Urknall folgt dann im zweiten Satz mit donnernden Pauken und lebhaftem Rhythmus. Hoffnung und Tatendrang treiben die Gemeinschaft voran – die neue Welt ist zum Greifen nah.
Es folgt die nächste Phase des Wandels: Nach den Regeln der Klassik ist der dritte Satz einer Sinfonie immer sehr lebhaft, um das große Finale einzuleiten. Doch Beethoven lässt das Orchester nun langsam und getragen spielen, als würde er sagen: „Halte inne und besinne dich auf deinen Ursprung.“ Dieser Ursprung erklingt in den dominierenden Holzbläsern. Sie sind in der Klassik oft ein Sinnbild für die Natur. Friedlich schweben sie mit den Streichern durch eine harmonische Landschaft. Die Natur ist auch in Schillers Gedicht die Quelle aller Freude, denn nur in ihr erfährt sich der Mensch als Teil des Ganzen.
Den Überraschungseffekt mit Chor und Solisten hob sich Beethoven für das große Finale auf: den vierten Satz mit der berühmten „Ode an die Freude“.
Dieser vierte Satz war allerdings nicht nur durch seine Besetzung, sondern auch durch seine Länge von über 20 Minuten überwältigend für damalige Verhältnisse. Der Höhepunkt folgt im wahrsten Sinn des Wortes mit Pauken und Trompeten im „Freude, schöner Götterfunken“ des Chors. Die marschierende Hymne ist das majestätische Finale der 9. Sinfonie. In einem ästhetischen Durcheinander besingt sie die Freude einer neuen Welt: „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“ Und einige Liedzeilen später: „Freude trinken alle Wesen.“ In Schillers einstigem Trinklied stößt die ganze Menschheitsfamilie miteinander an.
„Wahre Kunst bleibt unvergänglich“, sagte Beethoven einst. Er sollte Recht behalten: Seine 9. Sinfonie hat Raum und Zeit überwunden – auch nach 200 Jahren. 1985 erhob der Europarat die Instrumentalfassung des 4. Satzes zur offiziellen Hymne der Europäischen Union. Bis heute gilt Beethovens „Neunte“ weltweit als Zeichen der Völkerverständigung.
In der Musik konnte sich Beethoven die ideale Welt erschaffen. Das persönliche Glück blieb ihm allerdings verwehrt. So ist eines seiner legendärsten Werke nicht nur eine Liebeserklärung, sondern auch Ausdruck seiner Einsamkeit: die Mondscheinsonate.
Zusammenfassung
Beethoven war nahezu gehörlos, als er seine 9. Sinfonie schrieb. Mit ihr hat er die klassische Sinfonie neu erfunden.
Die 9. Sinfonie ist auch ein politisches Stück: Beethoven beruft sich darin auf die Ideale der Französischen Revolution: auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Der Text des Chors geht zurück auf ein Gedicht von Friedrich Schiller.
Die Instrumentalfassung der „Ode an die Freude” wurde 1985 vom Europarat zur offiziellen Europa-Hymne erhoben.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. D) Beethovens 9. Sinfonie
2. B) Friedrich Schiller
3. C) Einsatz von Gesang
4. A) In sich geschlossener Teil eines mehrteiligen Werks
5. D) Hymne der Europäischen Union