Sie war die bekannteste Schlacht des Hundertjährigen Krieges: Die Schlacht von Azincourt. In diesem Kampf zwischen David und Goliath sollte es um nichts Geringeres gehen als um den französischen Königsthron. Warum in einem Krieg keineswegs immer nur der Stärkere gewinnen muss, hörst du in dieser Story.
Gelangweilt lehnt der Junge am hölzernen Zaun seines Aussichtspostens im Hafen von Harfleur und beobachtet das bunte Treiben auf dem riesigen Gelände. Es scheint ein Tag wie jeder andere in der nordfranzösischen Küstenstadt zu sein: Hafenarbeiter schleppen Kisten auf Schiffe, Marktfrauen preisen lautstark Fische, Obst und frisches Gemüse an. Der Knabe wendet seinen Blick wieder dem glitzernden Wasser zu und nimmt gedankenversunken ein Schiff ins Visier, das sich allmählich den Stadtmauern nähert. Es hat eine ungewöhnliche Form. Ist das eine neuartige Brigantine oder doch eher eine ganz normale französische Galeere? Der Junge überlegt. Und schließlich fährt ihm der Schrecken in die Glieder: Das hier ist überhaupt kein französisches Schiff! Schweißüberströmt greift er zum Seil der Warnglocke und schlägt Alarm. „Engländer!“, ruft er, so laut er nur kann. Augenblicklich bricht Panik aus: Die Arbeiter lassen ihre Kisten stehen, die Marktfrauen raffen ihre Waren zusammen, und zahllose Männer hetzen zu den dicken Mauern der Stadt, um die wenigen Verteidigungsanlagen gefechtsbereit zu machen. Wir sind viel zu wenige, geht es dem Jungen durch den Kopf, bevor er seine Augen erneut auf das offene Meer richtet. Mittlerweile sind es Hunderte von Schiffen, die auf den Hafen zuhalten...
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Jetzt runterladen!Im Sommer 1415 hatte der englische König Heinrich V. endgültig beschlossen, den französischen Königsthron für sich in Besitz zu nehmen. Im ganzen Land warb er kampferfahrene Ritter und Bogenschützen an, denen er einen Sold aus der königlichen Kasse zusicherte. Und am 11. August segelte König Heinrich mit einer gewaltigen Armada, mit Hunderten Schiffen über den Ärmelkanal. Anders als seine Vorgänger wollte er nicht plündernd und mordend das halbe Land verwüsten, sondern zunächst einen strategisch wichtigen Hafen an der Küste der Normandie besetzen – den Hafen von Harfleur. Doch genau diese Entscheidung sollte Frankreich in die Hände spielen. Denn anders als es der englische König erwartet hatte, leisteten die Einwohner von Harfleur erbitterten Widerstand, sodass die Hafenstadt über Wochen der Belagerung standhielt! Das verschaffte den untereinander zerstrittenen Franzosen die nötige Zeit, um ein Verteidigungsheer aufzustellen. Es dauerte gute fünf Wochen, bis es dem König von England gelang, die Hafenstadt einzunehmen. Würden die bedrohten Franzosen weiter südlich den kampferprobten Engländern nun widerstehen können? Schließlich schlugen sich die Bourguignons und die Armagnacs noch immer gegenseitig die Köpfe ein – und ihr König Karl VI. war dem Wahnsinn verfallen...
Wir erinnern uns: Der französische König Karl V. hatte die Engländer aus nahezu allen besetzten Provinzen verjagt. Doch als er 1380 starb, braute sich neues Unheil über Frankreich zusammen. Denn bei seinem Sohn Karl VI., der als elfjähriger Knabe die Krone von Frankreich erbte, brach Anfang der 1390er-Jahre eine rätselhafte Geisteskrankheit aus. Sie äußerte sich unter anderem in plötzlichen, unerklärlichen Gewaltausbrüchen und wurde damals schlicht als „Wahnsinn“ bezeichnet. Und obwohl der mittlerweile 25-jährige König auch Phasen geistiger Wachheit hatte und dann seine Entscheidungen selbst treffen wollte, nahm ihm der Hof die Regierungsgewalt aus der Hand.
Es war zunächst Karls junge Gattin Isabeau, die ihren kranken Gatten auf dem glatten höfischen Parkett vertrat. Doch es sollte nicht lange dauern, bis zwei andere Männer selbst an die Macht wollten. Der eine war Karls jüngerer Bruder Ludwig von Valois, der andere sein Cousin Johann Ohnefurcht, Herzog von Burgund. Die beiden französischen Adeligen waren erbitterte Gegner, die sich jahrelang wie zwei Raubtiere umkreisten, ohne einander ernsthaft zu verletzen – bis einer von ihnen Jahre später doch seine Zähne zeigte: Ende November des Jahres 1407 ließ Johann Ohnefurcht seinen Cousin Ludwig heimtückisch ermorden. Und genau dieser Mord sollte den Hundertjährigen Krieg erneut aufflammen lassen.
Denn sowohl der Mörder als auch das Opfer hatten einflussreiche Anhänger: der Mörder Johann Ohnefurcht die sogenannten Bourguignons, der ermordete Ludwig die Armagnacs. Und beide Gruppen wollten nach dem Machtverlust Karls des Wahnsinnigen selbst die alleinige Macht über Frankreich ausüben. Die Folge: In einem gnadenlosen Bürgerkrieg schlugen sich diese beiden Parteien jahrelang die Köpfe ein. Bis schließlich Johann Ohnefurcht ein verhängnisvolles Bündnis schloss: nämlich mit dem Feind im Norden, Englands König Heinrich V.!
König Heinrich hatte die Unruhen in Frankreich natürlich mitbekommen und ergriff begeistert die Gelegenheit, sich die ehemals englisch regierten Ländereien zurückzuholen und den Anspruch auf die französische Krone zu erneuern. Aber die lange Belagerung von Harfleur hatte ihn zu viele Fußsoldaten gekostet. So beschloss der englische König, mit seiner geschwächten Truppe an der Küste entlang nach Calais zu marschieren, um sich von dort aus wenigstens die ehemals englisch regierten Ländereien Normandie und Ponthieu zurückzuholen. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnte: Auch die französischen Truppen marschierten Richtung Calais, um die Engländer irgendwo auf dem beschwerlichen Weg abfangen zu können!
Mitte Oktober trafen beide Armeen schließlich an einem Fluss namens Somme zusammen. Und es begann ein absurdes Katz- und Mausspiel. Zu beiden Seiten des Flusses zogen die verfeindeten Heere tagelang in Sichtweite nebeneinander her, ohne dass sie einen einzigen Schwerthieb ausführen konnten! Doch dann gelang es den ausgehungerten und erschöpften Engländern schließlich doch, unbeobachtet die Somme zu überqueren. Das englische Heer zog weiter in Richtung Calais. Doch als es schließlich bei einer kleinen Ortschaft namens Azincourt anlangte, warteten auch schon die französischen Ritter und Armbrustschützen auf sie. Und zwar nicht nur mit einer kleinen Truppe, sondern in einer zahlenmäßig weit überlegenen und kampfbereiten Schlachtformation.
Die Franzosen waren siegessicher. Ihre gewappneten Ritter trugen die schwersten und modernsten Rüstungen, die zu jener Zeit geschmiedet wurden. Gegen sie sollten die gefürchteten englischen Langbogenschützen doch keine Chance mehr haben! Die hochadeligen Ritter rissen sich buchstäblich um die prestigeträchtigen Plätze an vorderster Front. Was sie nicht bedachten: Nach starken Regenfällen war der lehmige Boden völlig aufgeweicht. Und Heinrich V. hatte noch ein Ass im Ärmel: eine simple Abwehrwaffe, die sich schon vor über hundert Jahren im schottischen Unabhängigkeitskampf als erfolgreich bewährt hatte...
Stundenlang belauerten sich die beiden Heere. Der britische Militärhistoriker John Keegan begründet dieses Verhalten in seinem Buch „Das Antlitz des Krieges” mit der damaligen Kriegslehre, wonach die zuerst vorrückende Partei einen Nachteil gegenüber der anderen hatte. Schließlich war es der englische König, der seine Männer als erste vorrücken ließ: die einen mit schussbereiten Langbogen, die anderen mit beidseitig angespitzten Holzpfählen in den Händen. Diese Pfähle, schräg in den Boden gerammt, sollten den Angriff der berittenen Feinde auf grausame Weise stoppen!
Es dauerte eine Weile, bis die Engländer auf Schussweite heran waren und ihre Pfähle eingerammt hatten. Hätten die französischen Panzerreiter jetzt angegriffen, wären ihnen die Feinde wehrlos ausgeliefert gewesen. Aber sie zögerten – und ließen sich überrumpeln, als die erste Salve englischer Pfeile im hohen Bogen auf sie niederhagelte. Diese erste Attacke sollte die Franzosen vor allem zum Angriff provozieren. Und die fielen prompt darauf herein. Aber auf dem morastigen Schlachtfeld kamen die Pferde mit ihren schwergepanzerten Reitern nur langsam voran. Die Tiere rutschten, viele stürzten – während die englischen Bogenschützen unvermindert weiterschossen. Der Reiterangriff war zum Scheitern verurteilt. Und auch die französischen Fußtruppen rutschten und stolperten im Schlamm, und weil sie wegen des pausenlosen Beschusses ihre Helmvisiere geschlossen halten mussten, konnten die Krieger kaum etwas sehen. Wer stürzte, kam nicht mehr hoch, weil er von der nachrückenden Masse überrannt wurde. Die Folge war ein heilloses Gedränge, in dem zahllose Franzosen erdrückt wurden oder schlicht im Schlamm erstickten. Ihre zahlenmäßige Übermacht hatte ihnen nichts gebracht, ganz im Gegenteil. Reihenweise wurden sie im weiteren Schlachtverlauf erschlagen. Die Engländer hatten gewonnen!
Die Schlacht von Azincourt gilt als eine der bedeutendsten Schlachten des Hundertjährigen Kriegs. William Shakespeare widmete den englischen „happy few“ – was ins Deutsche übersetzt in etwa „die glücklichen Wenigen bedeutet – eine heldenhafte Darstellung der Schlacht in seinem Drama „Henry V“.
Die Niederlage schwächte Frankreich so nachhaltig, dass Heinrich V. in den Folgejahren die strategisch wichtige Stadt Caen am Ärmelkanal besetzen und 1420 den Vertrag von Troyes durchsetzen konnte. Dieser Vertrag sah seine Heirat mit der französischen Prinzessin Katharina von Valois vor. Und damit wurde der englische Monarch zum offiziellen Nachfolger des französischen Königs Karl VI.!
Zusammenfassung
Der englische König Heinrich V. (engl. Henry V.) wollte seinen Anspruch auf die französische Krone durchsetzen. Im Sommer 1415 landete er mit Hunderten Schiffen in der Hafenstadt Harfleur, die er wochenlang belagern musste.
Von Harfleur zog das englische Heer weiter Richtung Calais. Das französische Heer folgte ihm, um es auf dem Weg dorthin abzufangen.
Bei der Ortschaft Azincourt (auch: Agincourt) trafen die englische und die französische Armee aufeinander. Trotz der Übermacht der Franzosen errangen die Engländer einen ihrer größten militärischen Siege während des Hundertjährigen Kriegs.
Schlachtentscheidend waren einmal mehr die mit Langbogen bewaffneten Fußtruppen der Engländer. Allerdings trug auch das morastige Schlachtfeld seinen Teil dazu bei, dass die Franzosen keinen wirksamen Angriff führen konnten.
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Richtige Antworten:
1. A) Heinrich V.
2. D) Harfleur
3. B) Somme
4. C) Azincourt
5. A) Langbogen
6. C) Hundertjährigen Kriegs