Ann Radcliffe gilt als die Königin der Schauerliteratur. Wie keine andere schaffte sie es, eine Atmosphäre zu erzeugen, in der das Bedrohliche zwar nicht immer offensichtlich, aber jederzeit spürbar ist. In dieser Story erfährst du, mit welchen Mitteln ihr das gelang und wie sie zur ersten Bestsellerautorin der Literaturgeschichte wurde.
Die Burg liegt tief verborgen in den dichten Pinienwäldern. Etwas Düsteres umgibt sie; die dunklen Steinmauern scheinen alles Licht aufzusaugen. Als Emily die Burg zum ersten Mal betritt, ahnt sie sofort, dass hier etwas nicht stimmt. Ein eisiger Wind weht durch das Gemäuer, überall sind Schatten – und ... war da nicht ein Wispern? Womöglich hat das alles mit dieser Legende zu tun, die sich die Menschen erzählen. Es heißt, die ehemalige Burgherrin sei hier unter seltsamen Umständen zu Tode gekommen. Nein, an solche Schauermärchen will Emily nicht glauben. Dann aber, eines Nachts, beobachtet sie eine geheimnisvolle Gestalt, die wie aus dem Nichts auftaucht und lautlos unter dem Fenster ihres Burgzimmers vorbeigleitet. Angespannt folgt Emily ihr mit den Augen. Das kann doch kein Mensch gewesen sein … Aber wenn es kein Mensch war: Was war es dann?
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Jetzt runterladen!So viel sei verraten: Ein Gespenst war es nicht. Aber die junge Protagonistin Emily St. Aubert wird noch einige Male feststellen, dass ihre Sinne sie getäuscht haben. Für alles, auch für die unheimlichsten Phänomene, gibt es am Ende eine logische Erklärung. Zumindest in den Romanen der britischen Schriftstellerin Ann Radcliffe. Ihr geht es nicht um billigen Horror, sondern darum, eine unterschwellige Bedrohung spürbar werden zu lassen und dem Ungewissen Raum zu geben.
So auch in ihrem vierbändigen Roman „The Mysteries of Udolpho“. Er machte Ann Radcliffe über die Grenzen Englands hinaus berühmt. Dabei ist die Handlung ziemlich weitschweifig und verworren. Sie beginnt in der französischen Gascogne des 16. Jahrhunderts. Innerhalb weniger Wochen verliert Emily beide Eltern, und da sie noch nicht volljährig ist, wird ihre wohlhabende Tante zu ihrem Vormund ernannt. Emily indes hat sich unsterblich in den feingeistigen jungen Mann Valancourt verliebt und möchte ihn heiraten. Doch daraus wird nichts, weil ihre Tante einen zwielichtigen italienischen Edelmann ehelicht. Und dieser Signor Montoni hält überhaupt nichts von dem mittellosen Valancourt. Stattdessen will er Emily mit dem reichen Grafen Morano aus Venedig verheiraten. Als Emily sich weigert, reist Montoni mit den beiden Frauen zu seiner einsam gelegenen Burg Udolpho. Hier wird die unglückliche Emily just in den Gemächern untergebracht, in denen die einstige Burgherrin unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen ist.
Schon bald stellt sich heraus, dass Montoni hohe Spielschulden hat. Aus seiner Sicht gibt es eine einfache Lösung für das Problem. Seine Frau soll ihm ihre Besitztümer überschreiben. Die aber lässt sich darauf natürlich nicht ein und verschwindet ganz plötzlich. Emily ist davon überzeugt, dass Montoni seine Frau ermordet hat, und fürchtet nun um ihr eigenes Leben. Auch die unheimlichen Phänomene in dem düsteren Gemäuer jagen ihr Angst ein. Sie stößt auf Blutspuren, hört nachts schauerliche Melodien und beobachtet eine geisterhafte Gestalt. Immer furchterregender wirken die Burg und ihr Besitzer. Was aber ist eigentlich real und was nur Schein?
Geschickt spielt Ann Radcliffe mit den Erwartungen ihrer Leserschaft, die das Gruseln liebt und dem Geheimnis von Udolpho auf den Grund gehen möchte. Am Ende aber spukt es vor allem in Emilys Kopf. Dabei ist die Bedrohung, die sie spürt, sehr real: Montoni will nun Emily mit allen Mitteln dazu bewegen, ihm als Erbin der Tante ihre Güter zu überschreiben. Im Gegenzug dürfe sie in ihre Heimat zurückkehren, verspricht er. Emily fügt sich, wird aber weiterhin auf der Burg festgehalten. Klingen hier sozialkritische Töne an? Erst darf Emily ihren Auserwählten nicht heiraten. Dann soll sie zwangsverheiratet werden. Und schließlich verliert sie ihr Vermögen an den gierigen Montoni. So übertrieben die Handlung uns heute vorkommen mag, Zeitgenossinnen der Autorin dürften sich bei der Lektüre durchaus in der weiblichen Hauptfigur wiedererkannt haben: Mit der Heirat ging ihr Vermögen an den Ehemann über, und eigenes Geld zu verdienen war ihnen nicht erlaubt. Insofern flieht Emily schließlich nicht nur aus Montonis Fängen, sondern auch vor der gesellschaftlichen Rolle, die für sie als Frau vorgesehen ist. Am Ende führt ihre Flucht allerdings in die Arme des geliebten Valancourt zurück und somit wohl kaum in ein selbstbestimmtes Leben.
Heute gilt Ann Radcliffe als Königin des Schauerromans. Wohl auch deshalb, weil sie anderen Autoren wie Charles Dickens und Fjodor Dostojewski vorgemacht hat, wie sich eine Stimmung zaubern lässt, in der die Bedrohung unterschwellig spürbar ist. Vieles spielt sich nur in der Fantasie ab. Bei Radcliffe entsteht die bedrohliche Stimmung insbesondere durch vermenschlichte Beschreibungen von Natur oder Gebäuden. Das geheimnisvolle Schloss Udolpho beschreibt Radcliffe zum Beispiel mit den Worten: „Still, einsam und erhaben stand es da, der König der Gegend, und schien trotzend jedem zu drohen, der es wagen würde, sein einsames Gebiet zu betreten.“
Generell spielen Landschaften in der Schwarzen Romantik eine tragende Rolle: Sie bilden nicht nur die atmosphärische Kulisse, sondern spiegeln auch die Gefühle der Protagonisten wider. In Radcliffes Werk erscheint der Protagonistin Emily eine Landschaft entweder beängstigend düster oder überwältigend schön. Je nach Gefühlslage.
Wer Ann Radcliffes eindringliche Naturbeschreibungen liest, wird verwundert sein zu erfahren, dass die Tochter eines Londoner Kurzwarenhändlers selbst nie in Frankreich oder Italien war. Sie ließ sich stattdessen von Gemälden italienischer und französischer Barockmaler inspirieren.
Ihr Roman um das geheimnisvolle Schloss Udolpho und seinen finsteren Besitzer erschien 1794 und wurde 1795 erstmals ins Deutsche übersetzt. Drei Jahre später kam ein stark gekürzter Raubdruck heraus, dem unter anderem ausgerechnet die opulenten Landschaftsbeschreibungen fehlen. Eine ungekürzte Neuübersetzung erschien erst wieder 2019 als Book on Demand unter dem Titel „Die Geheimnisse von Udolpho”.
Ann Radcliffes eigenes Leben war weder überwältigend romantisch noch dramatisch: An der Seite ihres Mannes, des Oxford-Absolventen und Herausgeber des English Chronicle, führte sie ein ruhiges Leben und vertrieb sich die Zeit mit Schreiben. Einer richtigen Erwerbstätigkeit durfte sie als bürgerliche Frau ohnehin nicht nachgehen. Aber sich Geschichten ausdenken, das konnte sie. Und wie! Mit ihrem Roman Udolphos Geheimnisse wurde sie sogar zur ersten Bestsellerautorin der Literaturgeschichte. Ihre britische Schriftstellerkollegin Jane Austen band das Werk in ihren Roman „Northanger Abbey“ ein und ließ ihre Heldin Catherine sagen, es sei „das beste Buch der Welt“ („the nicest book in the world“).
Erstaunlicherweise zog sich Radcliffe aber schon mit Anfang 30 aus der Öffentlichkeit zurück und hörte auf zu schreiben, obwohl auch ihr letzter Roman ein Verkaufsschlager war. Die Gerüchteküche brodelte, manche vermuteten, dass sie über der vielen Beschäftigung mit dem Unheimlichen verrückt geworden sei. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Radcliffe, die unter Asthma litt, rein körperlich nicht imstande war, dem wachsenden Erfolgsdruck standzuhalten.
Nun mag es in Ann Radcliffes Geschichten für alle übernatürlichen Phänomene eine rationale Erklärung geben. In den Märchen der Brüder Grimm hingegen sieht das ganz anders aus …
Zusammenfassung
Die britische Schriftstellerin Ann Radcliffe war die erste Bestseller-Autorin der Literaturgeschichte. Sie gilt als die Königin der Gothic Novel, des Schauerromans. Dabei ging es ihr vordergründig nicht um Gruselmomente; vielmehr zauberte sie mit ihren atmosphärisch dichten Beschreibungen eine unterschwellig spürbare Ungewissheit und Bedrohung, womit sie wiederum namhafte Autoren wie Dostojewski inspirierte.
Hauptfigur in ihrem 1794 erschienenen Werk „Udolphos Geheimnisse“ (im englischen Originaltitel „The Mysteries of Udolpho“) ist die Waise Emily (in manchen deutschen Übersetzungen auch „Emilie“). Sie ist ein schwärmerisches junges Mädchen, das mit seiner Tante und deren zwielichtigem Ehemann auf einer düsteren Burg in Italien lebt. Hier begegnen ihr wiederholt scheinbar übernatürliche Phänomene, die sich am Ende jedoch alle logisch erklären lassen.
Im Werk klingen auch sozialkritische Töne an. So kann Emily nicht selbstbestimmt über ihr Leben und Vermögen entscheiden, was der Situation vieler bürgerlicher Frauen im 18. und 19. Jahrhundert entspricht.
Landschaften spielen in Ann Radcliffes Romanen eine entscheidende Rolle. Sie sind nicht nur atmosphärische Kulisse, sondern spiegeln auch die Emotionen der jungen Protagonistinnen wider.
Ann Radcliffe war die erste Bestseller-Autorin der Literaturgeschichte. Die Göttinger Schriftstellerin Meta Forkel-Liebeskind übersetzte ihre Romane und machte sie so auch in Deutschland bekannt.
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Richtige Antworten:
1. D) Ann Radcliffe
2. A) Eine mittelalterliche Burg
3. B) Schauerroman
4. C) Landschaftsbeschreibungen
5. D) Sie wurde die erste Bestsellerautorin der Literaturgeschichte.