Wie kommt es, dass Unternehmer, die nur ihre eigenen Profite im Sinn haben, uns Verbraucher trotzdem mit allem versorgen, was wir brauchen? Wer sagt ihnen, was sie zu welchem Preis herstellen sollen? Adam Smith, der „Vater der klassischen Nationalökonomie“, nannte diesen Prozess „the invisible hand” – auf Deutsch: „die unsichtbare Hand“. Nach dieser Story weißt du, was sich hinter dieser Invisible-Hand-Theorie verbirgt – und wo sie an ihre Grenzen stößt.
Heute ist der große Tag. Heute will Carlotta ihren Blog veröffentlichen. Wie immer sitzt sie in ihrem Lieblingscafé und schlürft einen großen Latte Macchiato. Ihre Website ist fertig, die ersten Artikel sind bereits hochgeladen, jetzt muss Carlotta nur noch auf „veröffentlichen“ klicken. Nervös hält sie ihre Finger über das Touchpad. Klicken oder nicht klicken, das ist die Frage.
Carlotta zögert. Was, wenn die Artikel nicht gut sind? Erst mal noch einen Kaffee!“ Mit einem nervösen Gefühl im Bauch geht Carlotta zur Kasse und bestellt einen doppelten Espresso. Zurück vor dem Laptop starrt ihr wieder ihr Blog entgegen und scheint zu sagen: „Trau dich! Ich bin gut!“ Espresso in der linken Hand, der rechte Zeigefinger schwebt über der Taste, Carlotta schließt die Augen – und dann ... macht es KLICK!
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Jetzt runterladen!Carlotta ist nicht die Einzige, die ihren Arbeitsplatz in ein Café verlegt hat. Arbeit im Home Office, die allgemeine Vernetzung der globalen Wirtschaft und die Entwicklung kleiner, schneller Laptops hat Millionen Texter, Übersetzer, Blogger und andere Freiberufler zum Arbeiten in Cafés gelockt. Von dieser Entwicklung haben nicht nur große Café-Ketten profitiert. Wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, sprießen in Stadtteilen mit dem entsprechenden Publikum Cafés wie Pilze aus dem Boden – natürlich alle mit WLAN und Steckdosen an den Tischen.
Die unsichtbare Hand reicht aber noch viel weiter. Wo es Cafés gibt, wird natürlich auch Kaffee getrunken. Die Nachfrage nach diesem Rohstoff steigt, und wie auf Kommando wird die Kaffeeproduktion in Ländern wie Kenia oder Brasilien hochgefahren. Es entstehen neue Plantagen, Arbeiter werden eingestellt, der Transport nimmt zu, alle Prozesse, die zum Espresso in Carlottas´ linker Hand führen, werden ausgeweitet.
Der große Widerspruch in dieser Geschichte: Einerseits kann Carlotta glücklich Espresso trinkend im Café sitzen, andererseits hat niemand in der gesamten Wertschöpfungskette ihr Glück im Sinn. Stattdessen verfolgt jeder seine eigenen Interessen. Der Café-Betreiber, der Plantagenarbeiter, der Lastwagenfahrer, der die Kaffeebohnen zum Hafen bringt … Alle haben nur ein Ziel: Geld zu verdienen. Alle Beteiligten handeln also im ureigensten Interesse, und trotzdem führt Eigeninteresse dazu, dass die Interessen aller gewahrt werden. Und hier kommt der Schotte Adam Smith ins Spiel. Er nannte dieses Phänomen „Invisible Hand“ – unsichtbare Hand, weil alle Beteiligten handeln, als würden sie von einer unsichtbaren Hand geleitet. Erstmals erwähnt er sie 1759 in seinem zweibändigen moralphilosophischen Werk „Theorie der ethischen Gefühle“. Im Jahr 1776 beschrieb er sie in seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen” (englisch: „The wealth of Nations”) mit den Worten:
„Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Leben brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“
Laut Smith ist der Bäcker nicht so sehr daran interessiert, dass alle satt werden, sondern daran, dass er seine Brötchen verkauft. Und damit er sie verkauft, müssen sie schmecken! Es ist für ihn also von Nutzen, dass er die Wünsche seiner Kunden erfüllt.
Adam Smith war davon überzeugt, dass eine gesunde Portion Eigennutz ganz automatisch auch zu einer Art Allgemeinwohl führen würde.
Anders als in der zentral gelenkten Planwirtschaft gibt in der freien Marktwirtschaft niemand Anweisungen, wer was wann produzieren soll. Die Wirtschaftsakteure des globalen Markts von heute entscheiden alles selbst. Für eine zentrale Planungsbehörde wäre es auch völlig unmöglich, das Verhalten der Unternehmer und Verbraucher aufeinander abzustimmen, ganz zu schweigen von den Abermillionen wirtschaftlichen Entscheidungen, die im Sekundentakt überall auf der Welt getroffen werden.
Hätte eine zentrale Behörde Carlotta geraten, Bloggerin zu werden? Oder wäre sie dem Wunsch ihrer Mutter gefolgt und hätte Carlotta für ein Medizinstudium angemeldet? Wäre eine Behörde sozusagen als „sichtbare Hand” in der Lage, die notwendigen Daten zu sammeln, um Plantagenbetreibern in Brasilien zu sagen, dass sie ihre Produktion erhöhen sollen, damit die Nachfrage in Europa befriedigt werden kann? Ein zentrales System für die Wirtschaft wäre schlicht überfordert. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass solche Systeme der Zentralplanwirtschaft in der Vergangenheit gescheitert sind. Stattdessen ist es das dezentrale System der eigenen Interessen aller Marktteilnehmer, das in der Lage ist, mit der Komplexität des Marktmechanismus fertig zu werden.
Aber wie funktioniert nun die unsichtbare Hand des Marktes? Ist sie eine mystische Kraft, die den Akteuren der Wirtschaft Ideen und Lernpläne in die Köpfe pflanzt? Nein, es ist der Preis der Güter, der signalisiert, wo sich Gewinnchancen bieten. Sobald die Nachfrage nach Kaffee steigt, steigt auch der Preis, und dann lohnt es sich plötzlich, in Brasilien noch mehr Kaffee anzubauen. Die Preise selbst werden in sämtlichen Wirtschaftssektoren spontan und ungeplant gebildet, indem Millionen von Anbietern und Nachfragern auf unzähligen untereinander vernetzten Märkten zusammentreffen. Und diese Preise zeigen an, ob ein Gut reichlich vorhanden oder knapp ist. Je höher der Preis, desto knapper ist ein Gut. Gold ist so teuer, weil es nur wenig davon gibt, Luft kostet nichts, weil es unendlich viel davon gibt. Sollte sich das einmal ändern, wird auch ein Markt für Luft entstehen, auf dem sich der Preis entsprechend einpendelt.
Es ist also ein Prozess der Selbstregulierung. Der Verbraucherin signalisiert ein steigender Preis, dass sie weniger von diesem Gut kaufen kann, dem Anbieter, dass es sich lohnt, mehr von dem Gut zu produzieren. Diese beiden Reaktionen führen zu einem permanenten Preisfindungsprozess. In der Theorie von Smith sorgt der Preis also für einen organischen Mechanismus, der die Wirtschaft lenkt, der zum allgemeinen Wohlstand beiträgt und den er die „unsichtbare Hand” genannt hat. Smith war einer der Vordenker der sogenannten Neoklassik, die sich in der Makroökonomie des späten 19. Jahrhunderts allmählich gegen die klassische Nationalökonomie durchzusetzen begann.
Spätere Wirtschaftswissenschaftler haben allerdings darauf hingewiesen, dass Smiths Theorie von der heilsamen und alles bestimmenden Rolle des Marktpreises auch ihre Tücken hat. Einer von ihnen war der deutsche Nationalökonom Friedrich List. Er lebte zur Zeit des Vormärz, also jener kurzen, aber bewegten Epoche vor der Revolution 1848/49, und setzte sich an die Spitze einer gesamtdeutschen Unternehmerbewegung zur Abschaffung der hinderlichen Binnenzölle im Deutschen Bund – jenem Flickenteppich aus damals 38 verschiedenen Königreichen, Fürstentümern, Freien Städten und kirchlichen Gebietskörperschaften. In seinem Hauptwerk „Das nationale System der Politischen Ökonomie” hob Friedrich List die „produktiven Kräfte” einer jeden Nation hervor. Zu diesen zählte er neben einer gut ausgebauten Infrastruktur und einem effizienten Bildungssystem vor allem eine verlässliche Rechtsordnung. Und – freilich nur für eine begrenzte Übergangszeit – auch Einfuhrzölle auf ausländische Waren. Insbesondere meinte er damit die englischen Textilprodukte, die damals zu Billigpreisen den deutschen Markt überschwemmten. Und während Smith der Ansicht gewesen war, dass ein unbegrenzter und am besten weltweiter Freihandel den Wohlstand aller Beteiligten steigern würde, entgegnete List ihm rund 80 Jahre später, dass die gerade erst entstehende heimische Industrie erst einmal einen gewissen staatlichen Schutz vor der viel weiter entwickelten Konkurrenz benötige. „Protektionismus” lautet der entsprechende Fachbegriff und er steht für die Aussage, dass wirtschaftlicher Wohlstand durchaus eine gewisse staatliche Mitwirkung und Kontrolle vertragen könne.
Die Geschichte zeigt es ohnehin: Überlässt man die Wirtschaft ohne jede Rechtsordnung sich selbst, kommt es zu unerwünschten Auswirkungen. Denn die „unsichtbare Hand” hat kein Gewissen. Die Folgen eines ungezügelten freien Marktes bekamen vor allem die Arbeiterinnen und Arbeiter im Zuge der Industriellen Revolution zu spüren. Der Kapitalismus nahm von England ausgehend im 18. Jahrhundert Fahrt auf und führte zu großen sozialen Verwerfungen. Die industrielle Revolution hatte einige Menschen sehr reich gemacht, viele andere aber auch sehr arm. Fabriken, Kohleminen, Infrastruktur, überall wurde gebaut und gewirtschaftet. Nur diejenigen, die für all das schwitzten, hatten nichts von der schönen neuen Welt. Der Arbeitsmarkt, der damals wie alle Märkte vom Preis gesteuert wurde, schloss die Arbeiterinnen und Arbeiter vom Wohlstand aus. Die Soziale Marktwirtschaft war noch Zukunftsmusik. Und so wurden Stimmen laut, die eine Veränderung forderten.
Vielleicht sogar eine Revolution…
Das sprachliche Bild der „unsichtbaren Hand” hat unterdessen noch ein weiteres Anwendungsgebiet bekommen: nämlich in Bezug auf die Sprache selbst. Sprache lebt und verändert sich. Das können wir unschwer feststellen, wenn wir zum Beispiel ein Buch, einen Brief oder eine Zeitung aus dem 19. Jahrhundert mit einer entsprechenden Schrift von heute vergleichen. Oder wenn wieder einmal das „Jugendwort des Jahres” gekürt wird und die ältere Generation sich kopfschüttelnd bemüht, die offenbar nur Jugendlichen bekannte tiefere Bedeutung von Vokabeln wie „cringe” oder „smash” zu enträtseln. Und überhaupt benutzen wir schon seit Generationen jede Menge Worte aus dem Englischen, Französischen oder Spanischen, ohne uns dessen überhaupt bewusst zu sein. Partner, Tante, Liga: alles Lehnsworte! Keine zentrale Behörde hat sie jemals offiziell in den deutschen Wortschatz aufgenommen. Vielmehr wurden sie mit der Entwicklung wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zwischen den Völkern sozusagen ausgeliehen – entlehnt – weil sich mit ihnen bestimmte Begriffe einfach am treffendsten ausdrücken ließen. Und das funktioniert auch umgekehrt: Den „Kindergarten” zum Beispiel gibt es als Lehnswort auch im englischen Sprachraum.
Die eigentliche Frage lautet also: Wie funktioniert das mit dem Sprachwandel? 1994 begab sich der Sprachwissenschaftler Rudi Keller auf ihre Spur und kam zu folgender Ansicht: Sprache und ihr Wandel seien weder „Artefakte“ – also Ergebnisse geplanter menschlicher Tätigkeit – noch könne man sie als Naturphänomen sehen. Demnach seien Sprache und Sprachwandel sozusagen ein „Phänomen der dritten Art“, geschaffen von einer „unsichtbaren Hand“. Eben das Ergebnis einer Vielzahl kleiner, individueller und ungeplanter Veränderungen innerhalb der Sprachgemeinschaft, die zum Beispiel neue Worte für bekannte Begriffe erfindet oder kurzerhand die Bedeutung vorhandener Wörter ändert. Andere Wörter verschwinden ganz aus der Sprache, weil sie Menschen oder deren Berufe diskriminieren.
Keller verglich seine Sprachtheorie der „unsichtbaren Hand“ mit den Trampelpfaden, die mit der Zeit auf wohl jedem Uni-Campus wie von Zauberhand entstehen: abseits der sorgfältig abgezirkelten Fußwege, also unter Verletzung der Hausordnung. Diese Regelverletzung bringt aber den entscheidenden Vorteil: nämlich die kürzeste Verbindung von A nach B - weil die offiziellen Wege genau diese eben nicht zu bieten haben. Und so kommt es, wie es kommen muss: Immer mehr Uni-Angehörige nutzen die neue Abkürzung, bis sie zum Trampelpfad geworden ist. „Der einzelne Student denkt sich nicht viel dabei, er ist schlicht faul”, so schreibt Keller, „aber insgesamt entsteht so ein Wegesystem, das viel intelligenter organisiert ist als das von den Architekten geplante.”
Zusammenfassung
„Die unsichtbare Hand” steht sinnbildlich für die dezentrale, organische Koordinierung der Wirtschaft. Die Metapher stammt von Adam Smith, dem Urvater der Volkswirtschaft.
Adam Smith war davon überzeugt, dass Eigennutz ganz automatisch zum Gemeinwohl führt. Demnach führe das Profitstreben des Einzelnen zur Versorgung der Gesellschaft mit allem, was sie braucht.
Es ist der Preis, der den Nachfragern und Anbietern Signale für die effiziente Erfüllung ihrer Ziele und Bedürfnisse anzeigt.
Der Preismechanismus allein trifft keine moralischen Entscheidungen. Oder anders ausgedrückt: Die unsichtbare Hand hat kein Gewissen. Überlässt man die Wirtschaft sich selbst, kommt es zu unerwünschten Auswirkungen.
Teste dein Wissen im Quiz
A) Wirtschaftskriminalität
B) Verschwörungserzählungen
C) Wahlfälschung
D) Sprachwandel
Richtige Antworten:
1. C) Adam Smith
2. B) Ökonom
3. A) Selbststeuerung der Wirtschaft über Angebot und Nachfrage
4. C) Egoismus
5. D) Sprachwandel