Hast du gewusst, dass es auch in der DDR eine Art „Wirtschaftswunder“ gegeben hat? Es begann ein gutes Jahrzehnt später als in der Bundesrepublik und fiel deutlich bescheidener aus – aber es stärkte durchaus den Glauben an den Sieg des Sozialismus …
Ein Dezembertag in Schwedt an der Oder im Jahr 1963. Im Erdölverarbeitungswerk herrscht festliche Stimmung. Die Deutsche Demokratische Republik wird sich heute ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk machen – so empfinden es die Männer und Frauen, die zur großen Eröffnungsfeier geladen sind: DDR-Parteiprominenz, Delegationen aus den sozialistischen Bruderländern und Ehrengäste aus den Betrieben, die an dem gewaltigen Projekt mitgebaut haben. In der Messwarte wartet die junge Ingenieurin Gisela Ufer am riesigen Schaltpult auf den entscheidenden Moment. Kameras sind auf sie gerichtet. Alles wartet auf das Kommando des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Walter Ulbricht. Hände werden geschüttelt, Reden werden gehalten. Ein wichtiges Zwischenziel beim Aufbau des Sozialismus ist erreicht. Walter Ulbricht schaut noch einmal in die Runde der Versammelten, holt tief Luft und sagt:
„Genosse Werkdirektor, schalten Sie die Automatik auf ,Schieber auf’ und geben Sie dem sowjetischen Erdöl aus der Erdölleitung ,Freundschaft’ den Weg in das Tanklager der Deutschen Demokratischen Republik frei, damit es zum Ruhme der Erbauer der gigantischen Leitung für den gegenseitigen Nutzen und den Wohlstand unserer Völker, für die ökonomische Überlegenheit des sozialistischen Weltsystems und die Erhaltung des Friedens fließe.“
Gisela Ufer drückt auf den Schalter. Und für die Wirtschaft der DDR beginnt ein neues Zeitalter.
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Jetzt runterladen!Sowjetisches Erdöl sollte die chemische Industrie der DDR auf Touren bringen. Das hatten die SED-Oberen und die Staatliche Plankommission bereits 1958 beschlossen. Und das Erdölverarbeitungswerk Schwedt spielte in diesem „Chemieprogramm“ eine zentrale Rolle. Hier wurde das dickflüssige schwarze Rohöl in seine chemischen Grundstoffe zerlegt, um daraus verschiedenste Folgeprodukte herstellen zu können. Diesen Industriezweig nennt man „petrochemische Industrie“. Sie liefert die Vorstufen unter anderem für Lösemittel und Kosmetika, aber vor allem auch für Kunststoffe und Kunstfasern. Die wurden unter anderem im VEB Chemische Werke Buna in Schkopau bei Halle hergestellt. Und genau für diese Produkte wurde wenig später der wohl bekannteste Werbeslogan der DDR-Zeit erfunden: „Plaste und Elaste“. Dahinter steckten allerlei Küchenutensilien, Geschirr, Kleinmöbel, Spielzeug und sonstige damals hochmoderne Gebrauchsgegenstände, außerdem eine ganze Reihe von Kunstfasern für die Textilproduktion. Eine dieser Kunstfasern hieß „Dederon“. Der Name wurde direkt aus dem Staatskürzel „DDR“ abgeleitet. Aus Dederon wurden quietschbunte Kittelschürzen und elegante Herrenhemden hergestellt – in denen man fürchterlich schwitzte. Denn das dichte Kunstfasergewebe ließ weder Luft noch Feuchtigkeit durch...
„Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit“: Dieses Motto prangte landauf, landab auf Spruchbändern und in den Schlagzeilen der Zeitungen. Die Chemie sollte neben der Schwerindustrie das zweite starke Standbein der DDR-Wirtschaft werden. Und das Erdöl dafür? Das kam direkt aus der Sowjetunion – durch eine rund 3000 Kilometer lange Rohrleitung, die den Namen „Drushba“ – Freundschaft – trug.
Freundschaft? Ja, tatsächlich! Ende der 50er waren sich Sieger und Besiegte des Zweiten Weltkriegs auch im Osten näher gekommen. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow wollte nämlich dem kapitalistischen Westen künftig weniger auf militärischem, sondern mehr auf wirtschaftlichem Gebiet die Stirn bieten. Und die DDR, dieser sozialistische Brückenkopf direkt an der Schnittstelle zum Westen, sollte dabei eine besondere Rolle spielen! Chruschtschow griff Ulbricht also mit Krediten und langfristigen Lieferverträgen für preisgünstiges Erdöl unter die Arme. Im Gegenzug lieferte die DDR Waren in die Sowjetunion. Auch die Zusammenarbeit in Forschung und Entwicklung wurde ausgebaut. Auf diesem Gebiet stand die DDR nämlich gar nicht so schlecht da – vor allem, seit der Bau der Berliner Mauer auch den letzten Fluchtweg in den Westen versperrt hatte. Fachleute mussten nun im Lande bleiben; und wenn sie jemals selbst ein besseres Leben führen wollten, dann mussten sie wohl oder übel auch am ökonomischen Fortschritt des Sozialismus mitarbeiten.
Und Partei- und Staatschef Walter Ulbricht? Der hatte sich in Ostberlin schon seine eigenen Gedanken zum Thema gemacht. Denn die 1949 eingeführte starre Zentralplanwirtschaft schien immer weniger dazu geeignet, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu immer höheren Leistungen zu motivieren. Ganz im Gegenteil. Sie mussten es ausbaden, wenn wieder einmal das Material fehlte und die Produktion ins Stocken geriet. Dann bekamen sie nämlich weniger Lohn. So war die Stimmung in den volkseigenen Betrieben immer gereizter geworden, und viele gute Ideen und Verbesserungsvorschläge blieben unausgesprochen. Wozu sollte man sich auch anstrengen – es gab ja keinen Pfennig zusätzlich dafür!
Anfang der 60er-Jahre aber änderte sich alles. Nikita Chruschtschow signalisierte Reformwillen, und Ulbricht nutzte die Gelegenheit.
Eine Expertengruppe wurde tätig und analysierte die Lage. Daraus entstand ein Konzept, das Ulbricht Anfang 1963 im Beisein Chruschtschows offiziell verkündete: das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“. Es kam einer Revolution gleich: Betriebe wurden nicht mehr von oben gegängelt, sie durften flexibler planen und investieren. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter gab es Leistungsprämien und Möglichkeiten zur Mitbestimmung. Kurz: Zwang und Druck wurden durch marktwirtschaftliche Elemente abgelöst. Das aber schmeckte nicht jedem Genossen in der Parteispitze, bedeutete es doch Macht- und Kontrollverlust!
Die vollständige Umsetzung der nationalen Reformen erforderte einen längeren Prozess, aber die Botschaft kam an: Gute Arbeit lohnte sich endlich! Und tatsächlich: Bereits 1964 stieg die Arbeitsproduktivität in der DDR um sieben Prozent. Doch im Herbst desselben Jahres wurde Nikita Chruschtschow in Moskau von seinen eigenen Genossen entmachtet. Und sein Nachfolger Leonid Breschnew hielt von Reformen rein gar nichts. War es nun also schon wieder vorbei mit dem Neuen Ökonomischen System? Nein, noch nicht ganz. Denn die DDR-Wirtschaft war angesprungen. Investitionen und Erträge wuchsen, und das wirkte sich auch auf den Lebensstandard der Bevölkerung aus. Technische Geräte wie Kühlschrank, Waschmaschine oder Fernseher hielten nun in immer mehr Haushalte Einzug. Allerdings waren sie extrem teuer: Manches Gerät kostete mehrere Monatslöhne! Ganz allmählich stiegen aber auch die Nettolöhne, und die Mangelwirtschaft schien endlich der Vergangenheit anzugehören. Immer mehr Familien konnten sich nun sogar ein Auto Marke Trabant oder Wartburg leisten. Der fahrbare Untersatz wurde zum Statussymbol.
Aber noch immer war das sozialistische Wirtschaftssystem weit davon entfernt, die BRD im Pro-Kopf-Verbrauch an Konsumgütern zu überholen. Walter Ulbricht geriet politisch immer stärker unter Druck. Mit der Entmachtung Chruschtschows hatte er seinen mächtigsten Fürsprecher verloren, und seine Gegner in der Parteispitze gewannen allmählich Oberwasser. Denn auch wenn das Neue Ökonomische System der DDR-Wirtschaft auf die Beine geholfen hatte: In der Parteiführung war es höchst umstritten. Auch, weil es immer noch zu sehr auf die Industrie abgestellt war. Und gegen Ende des Jahrzehnts bekam die Sowjetunion wirtschaftliche Probleme. Staatschef Breschnew ließ die Lieferungen von Erdöl, Steinkohle und chemischen Ausgangsstoffen drosseln. Nun zeigten sich die Folgen der Abhängigkeit von den sowjetischen Rohstofflieferungen, in die sich die DDR hineinmanövriert hatte: Den großen Stahlwerken ging das Material aus, innerhalb weniger Monate fehlten zehntausende Tonnen Rohstahl zum Plan. Weitere Industriebetriebe in der Produktionskette waren betroffen: Maschinenbau, Waggonbau, Leichtmetallbetriebe, und, und, und. Der Produktionsrhythmus geriet ins Stocken, mit fatalen Folgen auch für den gealterten Ulbricht. Anfang Mai 1971 zwangen ihn seine Gegner im Politbüro, beim Zentralkomitee um Ablösung zu ersuchen. Der 77-Jährige wurde aufs politische Abstellgleis geschoben: Er blieb zwar Vorsitzender des Staatsrats, was in etwa der Position eines Staatspräsidenten entsprach. Diesem Staatsrat aber wurden entscheidende Befugnisse entzogen und dem Ministerrat unter Willi Stoph zugesprochen.
Der Machtwechsel an der Spitze bedeutete auch das Ende des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft. Unter ihrem neuen Staatschef Erich Honecker kehrte die DDR zur Zentralplanwirtschaft der Fünfzigerjahre zurück. Immerhin zog Honecker Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit und rief eine neue Strategie aus: die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Würde es mit ihr gelingen, den Westen zu überholen? Oder würde sie das Land nur noch direkter in die Pleite führen?
Zusammenfassung
Ende der 1950er-Jahre beschloss die Partei- und Staatsführung der DDR ein Förderprogramm für die chemische Industrie. Es sollte nicht nur die Konsumgüterproduktion der DDR steigern, sondern die staatlichen Betriebe auch von Rohstoff-Importen aus dem Westen unabhängig machen.
Das Rohöl dafür lieferte die Sowjetunion ab 1963 über die rund 3000 Kilometer lange Erdölleitung „Freundschaft“.
Im selben Jahr verkündete Partei- und Staatschef das „Neue Ökonomische System“, das den volkseigenen Betrieben mehr Handlungsspielraum und den Arbeitenden finanzielle Anreize für gute Leistungen gewährte. Seine Einführung wurde möglich, weil der sowjetische Partei- und Staatschef Chruschtschow Reformen vergleichsweise offen gegenüberstand.
Das „Neue Ökonomische System“ trug rasch erste Früchte, stieß aber in der Parteispitze auf Widerstand. Nach Chruschtschows Sturz ging die sowjetische Wirtschaftshilfe stark zurück. Ulbricht geriet unter Druck bei seinen eigenen Genossen.
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Richtige Antworten:
1. D) Walter Ulbricht
2. C) Chemische/petrochemische Industrie
3. A) Sowjetunion
4. B) „Drushba“
5. A) Schwedt
6. C) Mehr Entscheidungsspielraum für Betriebe
Walter Ulbricht (geb. 1893 in Leipzig, gest. 1973 in Groß Dölln, Brandenburg) war ein deutscher Kommunist, Mitbegründer der Staatspartei SED sowie Staatsoberhaupt der DDR. Während der Novemberrevolution 1918 war er Mitglied eines Soldatenrats und wurde Kommunist. In den letzten Jahren der Weimarer Republik war er Chef der KPD und führte deren Kampf gegen die Sozialdemokraten an. Ulbricht hing den Lehren von Karl Marx und Wladimir Iljitsch Lenin an, den er als Delegierter der Kommunistischen Internationale (Komintern) in Moskau kennengelernt hatte. Während der Hitler-Diktatur floh Ulbricht auf Beschluss des Politbüros nach Prag. Später organisierte er von Paris aus den kommunistischen Widerstand im NS-Reich. Im Zweiten Weltkrieg sprach er bei Radio Moskau politische Texte an die deutschen Soldaten ein und forderte die Deutschen vor Stalingrad mit Megafondurchsagen zur Kapitulation auf. An der Spitze der sogenannten Gruppe Ulbricht, der KPD-Funktionäre und antifaschistische deutsche Kriegsgefangene angehörten, kehrte er 1945 nach Deutschland zurück. In der Sowjetischen Besatzungszone organisierte er die Wiedergründung der KPD und den Vereinigungsparteitag mit der SPD zur SED. Nach der Gründung der DDR 1949 prägte Ulbricht maßgeblich deren Aufbau und deren Politik mit. Er war zunächst stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats und ab 1950 Generalsekretär des Zentralkomitees der SED (nach dem Volksaufstand von 1953 wurde dieser Posten in „Erster Sekretär“ umbenannt). Er setzte 1961 den Mauerbau und ab 1963 einige Wirtschaftsreformen durch. Darüber und auch über den Umgang mit der Entspannungspolitik des Bundeskanzlers Willy Brandt kam es zum Streit mit der Mehrheit im Politbüro. 1971 wurde Ulbricht mit Billigung der Sowjets von Erich Honecker entmachtet, blieb aber bis zu seinem Tod Staatsratsvorsitzender.
1958 beschloss die Partei- und Staatsführung das sogenannte Chemie-Programm. Es sollte mit sowjetischem Erdöl die chemische und petrochemische Industrie der DDR auf Touren bringen und neben der Schwerindustrie das zweite starke Standbein der DDR-Wirtschaft werden. Im Erdölverarbeitungswerk Schwedt wurde das Rohöl in seine chemischen Grundstoffe zerlegt. Diesen Industriezweig nennt man „petrochemische Industrie“. Sie liefert die Vorstufen unter anderem für Lösemittel und Kosmetika, aber vor allem auch für Kunststoffe und Kunstfasern. Ab 1963 kam das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ hinzu. Es sollte die starre Zentralplanwirtschaft der Fünfzigerjahre reformieren.
Das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“, so der vollständige Name, wurde 1963 von Walter Ulbricht verkündet und bestand aus einer Reihe von Reformen der bestehenden zentralen Planwirtschaft. Die volkseigenen Betriebe bekamen unter anderem mehr Entscheidungsfreiheit über Materialeinsatz und Warenverkehr, für die Arbeiter gab es Leistungsprämien und Möglichkeiten zur Mitbestimmung. Gängelei und Druck wurden durch marktwirtschaftliche Elemente abgelöst; gute Arbeit sollte sich künftig lohnen. Tatsächlich stieg die Arbeitsproduktivität bereits im folgenden Jahr um sieben Prozent. Dennoch waren Ulbrichts Reformen in der DDR-Parteispitze umstritten – auch, weil sie sich immer noch zu wenig positiv auf die Konsumgüterproduktion auswirkten. Das große Ziel, die BRD im Pro-Kopf-Verbrauch zu überholen, rückte dadurch in immer weitere Ferne.
„Plaste und Elaste“ war der wohl bekannteste Werbeslogan der DDR. Er stand für eine ganze Reihe von Produkten der chemischen Industrie, darunter Geschirr, Kleinmöbel, Spielzeug und sonstige damals hochmoderne Gebrauchsgegenstände aus Kunststoff. Hinzu kamen Fasern, aus denen Textilien hergestellt wurden. Eine dieser Kunstfasern hieß „Dederon“. Der Name wurde direkt aus dem Staatskürzel „DDR“ abgeleitet.
Es floss durch eine rund 3000 Kilometer lange Rohrleitung, die den Namen „Drushba“ – Freundschaft – trug. Sie wurde von 1959 bis 1964 von der Sowjetunion und den anderen Mitgliedsstaaten des sozialistischen Wirtschaftsbündnisses RGW („Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“) gebaut. In ihrer letzten Ausbauphase reichte sie von Westsibirien bis nach Schwedt an der Oder.
Das Rohöl wurde mit Waren aus eigener Produktion bezahlt, also im Tausch erworben. Ihre eigenen Kunststoff- und Textilprodukte konnte die DDR unterdessen gut für Devisen am Weltmarkt verkaufen – und dabei mit Billigpreisen die westliche Konkurrenz unterbieten. Das ging aber nur solange gut, bis die Sowjets die Ölzufuhr drosselten und zudem noch ihre Rohstoffpreise erhöhten.
Nein. Die berühmt-berüchtigte „Drushba-Trasse“ ist eine Erdgasleitung. Sie wurde ab Mitte der 1970er-Jahre von sogenannten Freundschaftsbrigaden aus der DDR unter abenteuerlichen Bedingungen gebaut. Die SED-Staatsführung legte das Großprojekt in die Verantwortung ihrer Jugendorganisation, der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ). Diese lockte junge Ingenieure und Arbeiter mit weit überdurchschnittlichen Löhnen zum Trassenbau und feierte sie als sozialistische Helden. Die „Trassniks“, wie sich die jungen Leute selbst nannten, waren derweil froh, dem engstirnigen Regime zuhause für ein paar Monate oder auch Jahre zu entkommen. Die „Drushba-Trasse“ war das wohl teuerste Prestigeprojekt der DDR und brachte deren Wirtschaftskraft an ihre Grenzen. Neben Baumaterial und schwerer Technik musste sie auch noch Plattenbausiedlungen nebst Schulen, Kindergärten und Einkaufsläden entlang der entstehenden Erdgastrasse finanzieren. Ungeachtet dessen wurde die „Drushba-Trasse“ mit gewaltigem Propagandarummel als „Schritt ins nächste Jahrtausend“ und als Symbol der „unverbrüchlichen Freundschaft zur Sowjetunion“ gefeiert.
Es war der meistverspottete Propaganda-Slogan der Ulbricht-Regierung, deren Kurs in den Sechzigerjahren darauf ausgerichtet war, den Westen im Pro-Kopf-Verbrauch an Konsumgütern zu „überholen“. Der ursprüngliche Hintergrund war allerdings wissenschaftlicher Natur. Das Zitat „Überholen, ohne einzuholen“ stammt nämlich vom damaligen Vorsitzenden des DDR-Forschungsrates, Peter-Adolph Thiessen (1899–1990). Der Chemieprofessor und Atomforscher hatte sich in Vorträgen mit Fragen der Effizienz beschäftigt. Dazu zeichnete er einen Kreis, welcher von einer geraden Linie durchschnitten wurde. Nun stelle man sich zwei Objekte vor, die den Kreis von Schnittpunkt zu Schnittpunkt durchqueren. Das eine, etwas schnellere, bewegt sich auf der Kreisbahn, das andere, langsamere, auf der Geraden. Welches ist früher am Ziel? Unter bestimmten Voraussetzungen ist es das, welches den direkten und damit kürzeren Weg nutzt. Auf die Wirtschaftspraxis übertragen, bedeutete das: Die DDR solle sich nicht bemühen, die BRD auf deren Weg einholen zu wollen. Vielmehr sollte sie ihre Kräfte auf einen eigenen, direkten Weg zum wirtschaftlichen Ziel konzentrieren. Ulbrichts Propagandastrategen gefiel das. Sie beschränkten sich allerdings auf die Kurzversion – und die eigentliche Aussage geriet in Vergessenheit.