Warschau, Frühjahr 1943: In einem abgeriegelten Stadtteil, dem Ghetto, hatte Hitlers SS Hunderttausende jüdische Männer, Frauen und Kinder zusammengepfercht. Von dort sollten sie in die Vernichtungslager Treblinka, Majdanek und Auschwitz abtransportiert werden. Aber hinter den Ghettomauern gab es Widerstand gegen die Deportationen. In dieser Story erfährst du, wie mutig sich die Menschen gegen ihre deutschen Peiniger erhoben.
Der junge Mann wirft einen raschen Blick auf seine Uhr und rennt weiter die schmalen Gänge der unterirdischen Stadt entlang. Er hetzt durch stinkende Abwasserkanäle, kriecht durch Löcher in uralten Kellerwänden ungesehen von Haus zu Haus. Nur noch zwei Türen bis zum geheimen Versammlungsraum. Gerade noch rechtzeitig trifft er dort ein, um die letzten Absprachen des Komitees mitzubekommen, das die verschiedenen Widerstandsgruppen im Warschauer Ghetto koordiniert. Morgen früh werden sie mit vereinten Kräften losschlagen und die verdammte SS zur Hölle schicken! Der junge Mann blickt zur Decke empor, als könnte er direkt durch sie hindurch auf die Straßen des Ghettos blicken. Noch haben die Deutschen keine Ahnung, dass unter ihren Lederstiefeln längst eine unterirdische Stadt entstanden ist. Und noch viel weniger ahnen sie, dass in wenigen Stunden Hunderte jüdische Freiheitskämpfer aus dem Untergrund auf die Straßen des Warschauer Ghettos strömen werden...
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Jetzt runterladen!Ein jüdischer Aufstand gegen schwerbewaffnete SS-Männer? Das, was im Frühjahr 1943 im Untergrund der Stadt Warschau von gut organisierten Freiheitskämpfern in Angriff genommen wurde, hätte drei Jahre zuvor noch niemand für möglich gehalten. Ein Jahr nach dem deutschen Überfall auf Polen hatten die Nazis damit begonnen, einen kompletten Stadtteil der polnischen Hauptstadt mit einer rund 18 Kilometer langen, drei Meter hohen Mauer abzuriegeln und ihn zu einem rein jüdischen Wohnbezirk umzufunktionieren. In dieses Ghetto mussten die jüdischen Einwohner zwangsweise umziehen. Mit kaum mehr als einer Handvoll Habseligkeiten wurden sie aus ihren Wohnungen getrieben und in den zuvor leergeräumten Häusern dieses abgeriegelten Stadtteils einquartiert – jeweils mehrere Familien in einer Wohnung. Die polnischen Juden lebten auf diesen rund drei Quadratkilometern unter unsäglichen Bedingungen: Die Lebensmittelzuteilungen der Deutschen waren in keiner Weise ausreichend, um die vielen Männer, Frauen und Kinder im Ghetto am Leben zu erhalten. Seuchen wüteten unter den zusammengepferchten Menschen. Täglich mussten Tote aus den Straßen gekarrt werden, an jeder Ecke fanden verzweifelte Tauschhändel statt, bei denen eine Handvoll Kartoffeln gegen ein zerlumptes Kleidungsstück oder ein paar Holzscheite gegen ein Paar abgetretene Schuhe die Besitzer wechselten. Die Befehle der deutschen Behörden hatte der jüdische Ordnungsdienst unter Leitung des sogenannten Judenrates umzusetzen – eine Art Ältestenrat aus 24 von den Besatzern ernannten Mitgliedern. Und mit jedem Vorrücken der deutschen Wehrmacht wurden es mehr Menschen im Ghetto. Aus Südosteuropa trafen mittlerweile auch Transporte mit Sinti und Roma ein, die von deutschen Soldaten zusammengetrieben und deportiert wurden. Einen Weg hinaus gab es für sie alle nicht – nur den Tod in den Gaskammern der Vernichtungslager.
Im Januar 1942 hatten 15 Nazigrößen in einer Villa am Berliner Wannsee die Pläne für jenen millionenfachen Völkermord an den Juden Europas beschlossen, den sie zynisch als die „Endlösung der Judenfrage“ bezeichneten. Kaum beschlossen, ging Hitlers sogenannte Schutzstaffel, die SS, zur Tat über. Sie begann, jeden Tag Tausende Menschen aus Warschau und anderen Städten in die Vernichtungslager abzutransportieren. Bis Jahresende sollte es vollständig geräumt sein. Aber diesen Termin konnte die SS nicht halten. Denn die Todgeweihten begannen, sich zu wehren.
Etwa zur selben Zeit, als in der Sowjetunion die deutsche Wehrmacht Richtung Stalingrad vorrückte, begannen die Nazis schließlich, täglich Tausende Menschen in die Vernichtungslager abzutransportieren, sodass Ende Oktober 1942 “nur” noch 50.000 Menschen in diesem abgeriegelten Umschlagplatz des Grauens dahinvegetierten. Ursprünglich sollte das Ghetto noch im selben Jahr vollständig geräumt werden, doch nachdem diese Räumung dann zynischerweise auf Hitlers Geburtstag im kommenden Jahr verlegt wurde, begann sich zunehmend Widerstand unter den zurückgebliebenen Juden zu regen. Kleine Widerstandsgruppen schlossen sich zu größeren zusammen, hielten Kontakt zueinander und planten erste gemeinsame Aktionen. Die Kämpfer waren kaum ausgebildet und schlecht bewaffnet. Dennoch gelang es ihnen bereits im Januar 1943, hunderte SS-Leute aus dem Ghetto zu jagen und damit viele Menschen vor dem Abtransport zu bewahren. Bei den Kämpfen erlitten die Widerständler allerdings hohe Verluste.
Innerhalb weniger Wochen aber erneuerten sie ihre Kampforganisation, die Organizacja Bojowa. Auch von außen kam Hilfe. Pistolen und sogar einige Gewehre wurden ins Ghetto geschmuggelt, Sprengsätze gebaut und ein ausgeklügeltes System unterirdischer Verstecke und Verbindungswege angelegt. Durchbrüche in Kellerwänden verbanden ganze Häuserzeilen und Straßenzüge miteinander.
Die SS ahnte von all dem nichts, als sie am frühen Morgen des 19. April 1943 zur endgültigen Räumung des Ghettos anrückte.
Als die SS-Einheiten in das Ghetto eindrangen, wurden sie von mehreren hundert bewaffneten Verteidigern mit Schüssen und Brandflaschen empfangen – sogenannten Molotowcocktails. Völlig überrumpelt, ergriffen hunderte SS-Leute die Flucht. Doch am nächsten Tag kamen sie zurück – mit Flammenwerfern und schweren Geschützen! In den folgenden Tagen brannten sie Teile des Ghettos nieder, um die Verteidiger aus ihren Verstecken zu treiben. Viele wurden getötet. Dennoch brauchten Hitlers Truppen fast einen Monat, um den Aufstand im Ghetto völlig niederzuschlagen. Rund 300 Aufständische hatten sich mit ihren Angehörigen im letzten noch unzerstörten Bunker in der Ulica Miła verschanzt. Er wurde erst Anfang Mai entdeckt und angegriffen. Die SS leitete Gas hinein, das viele der Menschen tötete, unter ihnen den Kommandanten der jüdischen Kampforganisation, Mordechaj Anielewicz. Andere begingen Selbstmord, einige wenige konnten entkommen. Auch wenn in den folgenden Tagen und Wochen noch hier und da einzelne Kämpfe aufflammten: Der Aufstand im Warschauer Ghetto war verloren. Die SS beendete ihren Einsatz am 16. Mai mit der Sprengung der Großen Synagoge von Warschau – als „schönen Schlussakkord“, wie es der Befehlshaber Jürgen Stroop später zynisch beschreiben sollte.
Das Warschauer Ghetto wurde dem Erdboden gleichgemacht. Insgesamt rund 56.000 Juden wurden dabei getötet oder in Vernichtungslager deportiert. Nur wenige überlebten in letzten Verstecken und konnten schließlich aus den Ruinen des Stadtteils fliehen. Der 2013 verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war einer von ihnen.
Reich-Ranicki war 1939 zusammen mit rund 17.000 jüdischen Menschen 1939 aus Deutschland ausgewiesen worden. Im Ghetto arbeitete er als Dolmetscher für den von den deutschen Behörden eingesetzten sogenannten Judenrat. Während dieser Zeit unterstützte er die jüdische Kampforganisation ZOB und war Mitarbeiter einer Einrichtung, der wir heute zahlreiche Augenzeugenberichte aus dem Warschauer Ghetto verdanken: „Oneg Schabbat”. Das war der Tarnname für ein geheimes Ghetto-Untergrundarchiv, das nach seinem Gründer auch „Ringelblum-Archiv” genannt wird. Die jüdische Gruppe um den Historiker Emanuel Ringelblum sammelte darin alles, was später einmal über das Leben und Sterben im Warschauer Ghetto Auskunft geben könnte: Briefe, Dokumente jüdischen Lebens, Abschriften von Behördenbefehlen und viele weitere Archivalien. In wasserdichten Metallkisten und Milchkannen verborgen und unter Häusern vergraben, überdauerte ein Großteil des Oneg Schabbat tatsächlich die Zeit bis nach dem Krieg. Auch die persönlichen Aufzeichnungen von Adam Czerniaków sind erhalten geblieben. Er war ein polnischer Politiker und von den Nazis zwangsweise an die Spitze des Judenrates gesetzt worden. Als Czerniaków ab Mitte 1942 jeden Tag bis zu 7000 Menschen zum Abtransport in die Vernichtungslager „bereitstellen” sollte, wählte er den Freitod durch Gift, um nicht mitschuldig an diesem Menschheitsverbrechen der Nazis zu werden.
Aber auch die Nazis selbst trugen dazu bei, dass sich die Nachwelt ein Bild über das Warschauer Ghetto machen kann. 1942 wurden in dem abgeriegelten Stadtteil Aufnahmen für einen NS-Propagandafilm gemacht, der jedoch nie fertiggestellt wurde. Ein israelisch-deutsches Team schnitt 2009 aus den geschönten und gestellten Fragmenten einen Dokumentarfilm unter dem Titel „Geheimsache Ghettofilm”, der den Zynismus der Nazipropaganda nur zu deutlich entlarvt.
Und die Überlebenden des Aufstands im Warschauer Ghetto? Die meisten schlossen sich der polnischen Untergrundarmee an, die im Sommer des Folgejahrs den großen Warschauer Aufstand anführen sollte. Gute Nachrichten aus der Sowjetunion gaben dem Widerstandswillen der Polen neuen Auftrieb: Das Blatt im Zweiten Weltkrieg hatte sich gewendet, die Rote Armee war unterwegs nach Westen und trieben die deutschen Truppen vor sich her. Hitlers Russlandfeldzug war in einer eingekesselten Stadt an der Wolga gestrandet. Ihr Name: Stalingrad.
In Warschau befand sich das größte Ghetto für jüdische Einwohner. Im Herbst 1940 hatte die SS zu diesem Zweck einen ganzen Stadtteil abgeriegelt und rund eine halbe Million Juden aus halb Europa darin zusammengetrieben.
Aus den Ghettos wurden sie später direkt in die Vernichtungslager abtransportiert.
Am 19. April 1943 begann im Warschauer Ghetto der größte organisierte Widerstandskampf gegen die deutschen Besatzer. Fast einen Monat lang setzten sich die jüdischen Kämpfer erfolgreich gegen die SS-Truppen zur Wehr.
Der Ghetto-Aufstand in Warschau wurde von der SS blutig niedergeschlagen. Wenige Widerstandskämpfer überlebten und schlossen sich polnischen Widerstandsgruppen an.
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war einer der Warschauer Juden, die das Ghetto überlebten.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. A) In Warschau
2. B) Ghetto
3. C) 1940
4. A) In Vernichtungslager
5. C) 19. April 1943
6. B) Marcel Reich-Ranicki