London im Herbst 1453: Mittlerweile saß der dritte König aus dem Hause Lancaster auf Englands Thron: Heinrich VI.. Doch – von Regieren konnte keine Rede mehr sein, denn der König hatte sich auf höchst unheimliche Weise verändert. Und ein Mann aus dem Hause York sah seine große Stunde gekommen. Würde er künftig die Krone tragen?
Leise betritt Königin Margarete die Privatgemächer ihres Ehemanns und nähert sich dem reich geschnitzten Sessel, der wie fast immer vor dem großen Fenster steht. Ungeduldig winkt sie den Dienern, sich zu entfernen, und beugt sich dann zu dem starren Gesicht des Königs hinab. In ihren Armen trägt sie den Thronfolger; erst wenige Tage ist er alt: der kleine Prinz Eduard – der ersehnte männliche Stammhalter der Familie Lancaster.
Ein Freudentaumel hatte all ihre Getreuen erfasst, als die Nachricht von der Geburt des Jungen verkündet wurde. Nur der König selbst nahm keinerlei Notiz davon. Er saß da, so wie er jetzt auch dasitzt: völlig teilnahmslos und ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Mit leeren Augen starrt er vor sich hin, nichts und niemand vermag seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Bringt man ihm Essen, dann isst er, bringt man ihn zu Bett, dann schläft er. Die übrige Zeit tut er – gar nichts. Die Ärzte haben alles Mögliche versucht, um den kranken Herrscher aus seiner Erstarrung zu wecken. Nichts hat ihm geholfen. Der König von England ist nur noch eine leere Hülle, ein lebender Toter!
Erschrocken bekreuzigt sich die Königin: So etwas darf sie nicht einmal denken. Doch auch an diesem Tag nimmt Heinrich VI. keinerlei Notiz von dem kleinen Prinzen. Verzweifelt wendet sich die Königin ab und trocknet sorgfältig ihre Tränen, bevor sie den Raum verlässt. Niemand darf sie weinen sehen – sie, die nun die Krone für ihren kleinen Eduard retten muss.
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Jetzt runterladen!Anders als sein Vater Heinrich V. war Heinrich VI. nie ein starker Regent gewesen. Er war das einzige Kind des Königspaars und gerade einmal acht Monate alt, als sein Vater im Jahr 1421 starb. Bis zu seiner Volljährigkeit wurde das Königreich von Regenten verwaltet, vor allem von seinem Onkel Humphrey, Duke of Gloucester, und John von Lancaster, Duke of Bedford. Letzterer hatte die Verantwortung über Frankreich, das im Verlauf des Hundertjährigen Kriegs an die englische Krone gefallen war. Vorübergehend, muss man sagen. Denn im Sommer 1453 sollte sich das Blatt entscheidend wenden.
Zunächst aber sah alles sicher und stabil aus. Der französische Adel war mit inneren Querelen beschäftigt und dachte nicht daran, sich gegen die englische Fremdherrschaft zu vereinen. Das änderte sich schlagartig mit dem Auftritt einer jungen Kriegerin namens Jeanne d’Arc, die Visionen von Heiligen empfing und in deren vermeintlichem Auftrag auszog, Frankreich von den Engländern zu befreien und dem enterbten Dauphin Karl zu seinem rechtmäßigen Platz auf dem Thron Frankreichs zu verhelfen. Stück für Stück verlor England seine Besitztümer auf dem Festland, 1429 wurde Karl VII. in Reims gekrönt. Jeanne d’Arc aber geriet vor Paris in englische Gefangenschaft und starb ein Jahr später in Rouen auf dem Scheiterhaufen.
Als der junge Heinrich 1437 in London die Regierungsgeschäfte übernahm, war Karl VII. in Frankreich auf dem Vormarsch. Heinrich war 16 Jahre alt und eher schüchtern, mehr dem Geistig-Kulturellen zugeneigt als dem Krieg. Religion und Bildung waren seine Interessengebiete, und er wollte auch sein Volk daran teilhaben lassen. Zum Beispiel gründete er 1440 in Eton an der Themse eine Wohltätigkeitsschule für Knaben aus armen Familien, das spätere Eton College.
Heinrich war der einzige englische Monarch, der auch zum König von Frankreich gekrönt wurde. Aber seine Krönung hatte nicht annähernd die politische Wirkung wie die Krönung Karls VII. Und: Heinrich konnte nicht mehr auf das bewährte Bündnis mit Burgund bauen, denn sein Thronkonkurrent Karl und die zerstrittenen französischen Adelsfamilien der Armagnacs und der Bourguignons hatten sich zwei Jahre zuvor in der Friedenskonferenz von Arras zusammengerauft. England war raus, und die Franzosen rückten mit Nachdruck gegen die letzten Besitztümer des Inselreichs vor. In dieser Situation griffen Heinrichs Berater auf eine seit Jahrhunderten bewährte politische Strategie zurück: Eine königliche Ehe sollte für Frieden sorgen!
William de la Pole, 1. Duke of Suffolk, übernahm die Aufgabe des Heiratsvermittlers und konnte Karl VII. tatsächlich davon überzeugen, seine fünfzehnjährige Nichte dem Erzfeind zur Frau zu geben: Margarete von Anjou. Sie war nicht nur eine gefeierte Schönheit, sondern auch klug, ehrgeizig und willensstark. 1445 wurde die Ehe geschlossen. Der Ehevertrag enthielt auch einen knapp zweijährigen Waffenstillstand zwischen beiden Ländern. Doch die Friedenspolitik scheiterte, unter anderem weil Margaretes Vater René von Anjou die Abtretung der englischen Provinz Maine an das Haus Anjou durchsetzte. Der englische Adel tobte und gab Suffolk die Schuld, weil er ja diese vermaledeite Ehe erst eingefädelt hatte! Also wurde er kurzerhand ermordet und der Krieg flammte erneut auf.
1453 wurde Bordeaux von den Franzosen erobert. Der letzte und einzige englische Besitz auf dem Kontinent war nun die Hafenstadt Calais, und auch die war nicht mehr sicher. Heinrich erlitt einen Zusammenbruch, dessen Ursache nicht vollständig geklärt ist. Hatte ihn die Nachricht von der endgültigen Niederlage seines Reichs im Hundertjährigen Krieg in jenen Zustand völliger Teilnahmslosigkeit versetzt, den die Medizin heute als „Katatonie“ bezeichnet? Oder war es eine Erbkrankheit, die schon seine Vorfahren geplagt hatte? Sein Großvater mütterlicherseits war Karl VI. gewesen, der „wahnsinnige“ König von Frankreich. Allerdings hatte sich die Geisteskrankheit bei Karl völlig anders geäußert; der französische König hatte unter zeitweisen Wahnvorstellungen und Wutausbrüchen gelitten. Aber die Ärzte jener Zeit konnten Geisteskrankheiten weder voneinander unterschieden noch zielgerichtet behandeln. Betroffene waren meist dazu verurteilt, elend und verachtet dahinzuvegetieren – bis zu ihrem vorzeitigen Tod. Einem König ging es da sicherlich besser als seinen Untertanen, aber auch für Heinrich VI. und letztlich für ganz England war seine Krankheit schicksalhaft. Denn seine Regierungsunfähigkeit lockte machthungrige Gegner aus der Reserve.
Es sind in der Weltgeschichte immer wieder genau solche Situationen, die dazu führen, dass sich ein anderer den Thron holen will. Und genau so ein Mann war Richard Plantagenet, 3. Duke of York, Urenkel des Stammvaters König Edward III. in direkter männlicher Linie. Er war Statthalter der englischen Krone in Irland, Erbe riesiger Ländereien und einer der reichsten Männer im Inselreich, dazu ein erfahrener Politiker und hartnäckiger Strippenzieher gegen die Mächtigen im Dunstkreis des kranken Königs. Und Richards Erbanspruch auf den Königsthron war mindestens genauso hoch wie derjenige des schwächlichen Königs Heinrich VI.!
Richard vermied es allerdings, unverblümt die Krone zu fordern. Stattdessen bot er dem Königshaus seine Dienste als Lordprotektor an, eine Art oberster Verwalter des Reiches und Beschützer der Krone. Tatsächlich erhielt er mithilfe einflussreicher Unterstützer den Posten. Von nun an durfte er die Regierungsgeschäfte führen und über wichtige Angelegenheiten entscheiden. Das war ein schlauer Schachzug, doch es gab mindestens eine Person bei Hofe, die Richard gründlich misstraute: Königin Margarete. Sie war fest entschlossen, die Krone zu verteidigen – für ihren kranken Ehemann Heinrich und für ihren Sohn, den kleinen Prinzen Eduard. Auch sie konnte auf mächtige Unterstützer zählen, während der König allmählich aus seiner Erstarrung wieder zum Leben erwachte und sich erholte. Richard musste feststellen, dass seine Autorität bei Hofe dahinschwand – und mit ihr natürlich auch seine Aussichten auf die Krone. Und es sollte nur noch ein paar Monate dauern, bis sich die Spannungen zwischen den Adelshäusern nahe der Stadt St. Albans in der ersten offenen Schlacht entluden. Mit dieser Schlacht, die Richard von York für sich entschied, begann jene lange Reihe dynastischer Konflikte, die heute als die Rosenkriege bekannt sind.
Nach der Schlacht hatte Richard allen Grund zur Freude. Wichtige Gefolgsleute Heinrichs waren tot, und der König selbst war verletzt in die Hände der Yorks gefallen. Für den Rest des Sommers 1455 hielt Richard den König gefangen und regierte das Land wieder als Lordprotektor. Würde er nun auch die Krone bekommen? Ganz so einfach war das nicht. Er durfte den kränkelnden König nämlich nicht einfach beseitigen, so wie es dessen Großvater Henry Bolingbroke damals mit dem letzten Plantagenet-König Richard II. getan hatte. Denn im Gegensatz zu diesem hatte King Henry VI. einen männlichen Erben – nämlich den kleinen Lancaster-Prinzen Eduard! Starb der König, würde Eduard ihm auf den Thron folgen und nicht Richard von York. Allerdings schien es auch noch einen anderen Weg zu geben...
Mittlerweile hatte es weitere Kriegshandlungen gegeben, Henry VI. galt als genesen und saß wieder auf seinem Thron. Königin Margarete hatte unterdessen ihren Einfluss bei Hofe ausbauen und einflussreiche Verbündete gewinnen können, allen voran den 2. Duke of Somerset, Edmund Beaufort. Er war nach der Ermordung Suffolks zum obersten Berater des Königs aufgestiegen, nach der Rückkehr Richard Plantagenets ins Amt des Lordprotektors eingesperrt und von genesenen König wieder in Amt und Würden gesetzt worden. Systematisch untergruben Margarete und Somerset nun die Befugnisse der York-Anhänger. Richard wiederum ging in Irland auf Propagandatour gegen die Lancasters, während mächtige York-Anhänger auch in Südengland die Werbetrommel für ihn rührten. Zusammen mit ihnen und mit irischem Geld stellte Richard neue Truppen auf. Und vier Jahre nach der Ersten Schlacht von St. Albans trafen Richard und Heinrich erneut mit ihren Armeen aufeinander.
Sie lieferten sich mehrere Scharmützel an verschiedenen Orten, bei denen mal die Yorks und mal die Lancasters den Sieg davontrugen. Die letzte Schlacht dieser Serie gewannen Yorks Getreue, und zwar durch den Verrat eines königlichen Befehlshabers. Erneut wurde der König gefangengenommen und nach London eskortiert. Und Richard Plantagenet hatte nun genug vom Warten und Taktieren. Im Oktober 1460 marschierte er mit zeremoniell aufrecht vor sich her getragenem Schwert in den Saal des königlichen Parlaments hinein und legte seine Hand auf den Thron. Das war damals die offizielle symbolische Geste der Inbesitznahme der Königswürde. Denn nun erhob Richard ganz offiziell als direkter Nachfahr des königlichen Stammvaters Edward III. Anspruch auf den Thron von England!
Doch die Mehrheit im Parlament stand treu zu Heinrich und wollte sich dem Willen des Herzogs von York nicht beugen – ererbtes Recht hin oder her. Nach wochenlangen Verhandlungen kam schließlich ein Kompromiss zustande: Heinrich VI. sollte bis zu seinem Tod offiziell an der Macht bleiben, und danach sollte Richard von York den Thron erben.
So hätte eigentlich wieder Frieden zwischen den verfeindeten Adelshäusern herrschen können. Aber Königin Margarete schäumte vor Wut – hatten die Lords mit ihrem faulen Kompromiss doch nichts anderes getan, als ihren kleinen Prinzen Eduard um sein Erbe zu prellen! Doch dann kam ihr eine Wendung zur Hilfe, die niemand hatte vorhersehen können. Denn der Tod schlug schneller zu als jemals gedacht. Und es war nicht etwa der Tod des kränklichen Königs, sondern derjenige von Richard Plantagenet, und zwar bei einer weiteren Schlacht gegen die Lancastrianer: der Schlacht von Wakefield am 30. Dezember des Jahres 1460. Sie endete mit dem Sieg des Hauses Lancaster.
Würde dessen rote Rose nun für alle Zeiten das Wappen der englischen Könige zieren? Nein. Denn auch Richard von York hatte noch einen Sohn hinterlassen. Er hieß Eduard, genau wie der enterbte Sohn des verstorbenen Heinrichs und seiner Witwe Margarete von Anjou. Und dieser Junge aus dem Hause York sollte bald beweisen, dass er das Zeug dazu hatte, seines Vaters Werk zu Ende zu führen: in den Schlachten von Towton und Tewkesbury. Zur Krone verhelfen sollte ihm indessen ein Mann namens Richard Neville, der zweimal die Fronten wechselte und unter dem bezeichnenden Beinamen „Warwick the Kingmaker“ in die Geschichte einging.
Zusammenfassung
Mitte des 15. Jahrhunderts regierte König Heinrich VI. (King Henry VI.) aus der Familie Lancaster über England. Er war ein schwacher König und erlitt im Sommer 1453 außerdem noch einen Zusammenbruch, der ihn über ein Jahr regierungsunfähig machte.
Das war für einen Herzog namens Richard Plantagenet aus der verfeindeten Familie York eine gute Gelegenheit, seinen eigenen Anspruch auf den Königsthron durchzusetzen. Er griff jedoch nicht direkt nach der Krone, sondern bot sich zunächst als Lordprotektor an. Im Hintergrund sammelte er jedoch Anhänger und Truppen gegen Heinrich.
Mit der Genesung des Königs nahmen die Spannungen zwischen den Adelshäusern wieder zu. Sie entluden sich 1455 bei St. Albans in der ersten großen Schlacht der Rosenkriege.
Nach einigen innenpolitischen Querelen beschloss das englische Parlament Folgendes: Heinrich VI. sollte bis zu seinem Tod offiziell an der Macht bleiben, und danach sollte Richard von York den Thron erben. Damit wurde der eigentliche Thronfolger, der kleine Prinz Eduard von Lancaster, faktisch enterbt.
Noch vor Heinrichs Tod starb Richard in der Schlacht von Wakefield. Die Königswürde blieb weiterhin beim Haus Lancaster. Die Familie York würde sich damit allerdings nicht abfinden.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. A) Lancaster
2. B) Katatonie
3. D) Frankreich
4. C) St. Albans
5.A) Richard von York