Kann man tatsächlich eine komplette Stadt einmauern, mit einer kilometerlangen Sperranlage mitten in den Fluten des Ozeans? So etwas ist im Dreißigjährigen Krieg tatsächlich geschehen, und zwar bei der Belagerung der französischen Hafenstadt La Rochelle durch den katholischen Kardinal Richelieu, der diese Hochburg der Protestanten in den Jahren 1627 und 1628 im wahren Sinn des Wortes aushungern wollte. Fast 30.000 Menschen waren dort ein ganzes Jahr lang von jeder Versorgung abgeschnitten. Wie es dazu kam und wie das Drama von La Rochelle ausging, erfährst du in dieser Story.
Voller Panik tastet sich die Frau in der Dunkelheit an der Stadtmauer entlang. Sie kann kaum noch gehen, so sehr hat ihr der Hunger bereits zugesetzt. Irgendwo MUSS es doch einen Ausgang geben, fährt es ihr wieder und wieder durch den Kopf. Doch schon seit Stunden fühlt sie hier nur eiskalte Steine, massives Mauerwerk und Mörtel. Verzweifelt lässt sie sich auf ihre Knie sinken und kriecht auf allen Vieren weiter. Meter für Meter schiebt sie sich voran und hält nur kurz an, wenn sie zufällig einen Grashalm oder einen kleinen Krümel Moos entdeckt – wertvolle Nahrungsquellen, die die anderen hungernden Stadtbewohner glücklicherweise übersehen haben! Die Anderen. Wohin sind die überhaupt verschwunden? Gibt es doch einen Fluchtweg aus diesem schrecklichen Gefängnis? Mit diesem kleinen Hoffnungsschimmer schleppt sich die ausgezehrte Frau weiter, immer weiter an dem endlosen Steinwall entlang – diesem katholischen Bollwerk des Todes! Ganz kurz blitzen ihre Augen auf, als sie plötzlich an einer Mauerkante ankommt. Liegt der rettende Ausgang vielleicht direkt hinter dieser Biegung? Mühsam schleppt sie sich um die Ecke. Doch was sie dort erblickt, raubt ihr endgültig die letzte Hoffnung. Da stehen sie alle! Hier also sind die anderen – Frauen, Kinder, Greise. Wie gelähmt starrt die Frau auf die abgemagerten Gestalten und weiß: Niemand wird die belagerte Stadt La Rochelle lebend verlassen...
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Jetzt runterladen!La Rochelle: eine Hafenstadt im heutigen Département Charente-Maritime an der südwestlichen Atlantikküste Frankreichs. Seit Jahrhunderten galt sie als uneinnehmbar: von einem massiven Festungsgürtel umschlossen, von zahlreichen Türmen bewacht und von unwegsamen Sümpfen umgeben, die jedem von der Landseite anrückenden Angreifer das Leben schwer machten. Die Seeseite war dank eines ausgeklügelten Systems enger Durchfahrten und Festungen auf den vorgelagerten Inseln île de ré, oléron und aix gut zu verteidigen. Auch wenn das mächtige Fort Boyard, das heute zwischen ihnen thront, zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs noch Zukunftsmusik war, gab es doch schon die beiden mächtigen Türme Tour de la chaîne und Saint-Nicolas, zwischen denen eine gewaltige Kette im Bedarfsfall den Hafeneingang versperrte.
Seit dem 12. Jahrhundert genoss die Stadt die wirtschaftlichen Privilegien eines Freihafens und war schon mehrmals von Feinden belagert worden, zuletzt 1573 durch König Karl IX. während der sogenannten Hugenottenkriege. Die Hugenotten gehörten der calvinistischen Glaubenslehre an, die als Strömung des Protestantismus vor allem in Frankreich, aber auch in England und den Kolonien der „Neuen Welt” Amerika verbreitet war.
Die Hugenotten in La Rochelle hatten anfangs ein durchaus friedliches Verhältnis zu den Katholiken gehabt. Man teilte sich sogar die vorhandenen Kirchen und nutzte sie einfach zu unterschiedlichen Zeiten. Aber das tolerante Nebeneinander hielt nicht lange vor; ein protestantischer Bürgermeister ließ sogar katholische Kirchen wie etwa Saint-Sauveur niederreißen und die Steine für den Bau neuer Befestigungsanlagen verwenden.
Die Hugenottenkriege endeten im Jahr 1598, als Frankreichs König Heinrich IV. der Stadt im Edikt von Nantes die vollen Bürgerrechte und weitgehende religiöse Freiheit zusicherte. Dieses Edikt, ein öffentlich bekanntgemachter herrschaftlicher Befehl also, bestimmte für ganz Frankreich den Katholizismus zur Staatsreligion. Gleichzeitig aber erlaubte es den Hugenotten, ihren Glauben an den meisten Orten frei ausüben zu dürfen. Nur Paris und Umgebung sowie einige Bischofssitze und Standorte königlicher Schlösser waren davon ausgenommen.
Und wir ahnen es schon: Auslöser der Ereignisse in den Jahren 1627 und 1628, die als das schlimmste menschliche Drama in die Geschichte von La Rochelle eingingen, war erneut der Kampf um Religion und Macht. Denn inzwischen saß König Ludwig XIII. auf dem Thron Frankreichs, und dem war diese Hugenotten-Hochburg an der Atlantikküste ein Dorn im Auge! Uneinnehmbar sollte die Stadt sein? Das käme auf den Versuch an, dachten sich Ludwig und sein oberster Minister Kardinal Richelieu. Wenn man La Rochelle nicht einnehmen konnte, musste man es eben aushungern – so etwa sah ihr Plan aus.
Im Herbst des Jahres 1627 ließ Richelieu auf der Landseite einen zweiten, eigenen Festungsring um die Stadt errichten, ganz so, wie es der römische Feldherr Iulius Gaius Caesar im Jahr 52 vor Christus bei der Eroberung von Alesia in Gallien getan hatte. Doch eines hatte die französische Hugenottenmetropole der antiken Gallierfestung voraus: den alten Hafen von La Rochelle und damit den Zugang zum Atlantik! Der Hafen mit seinen Verteidigungsanlagen sicherte die Verbindung zum wichtigsten Verbündeten der Hugenotten: dem protestantischen Königreich England. Die Engländer würden ihren Glaubensgenossen in La Rochelle beistehen, wenn es hart auf hart kommen sollte, hofften die Hugenotten. Sie dachten also gar nicht daran, vor den Katholiken die Waffen zu strecken.
Kardinal Richelieu suchte also verzweifelt nach einer Möglichkeit, La Rochelle auch von der Seeseite her abzuriegeln. Und tatsächlich kam ihm nach bereits mehrmonatiger Belagerung die rettende Idee: ein anderthalb Kilometer langer künstlicher Deich aus Steinen und leckgeschlagenen Schiffen, bestückt mit hölzernen Sperrwerken und Kanonen! Mehrere Tausend Katholiken kämpften rund um die Uhr auf dieser kolossalen Großbaustelle gegen Regen, Kälte und Schlick. Doch im Frühjahr 1628 war der Blockadewall fertig. Und in der belagerten Stadt brach eine Hungersnot aus, die täglich Hunderte Menschen das Leben kostete.
Es sollte eine der größten Katastrophen des Dreißigjährigen Krieges werden. Die Einwohner von La Rochelle waren wie in einem riesigen Gefangenenlager eingesperrt. Bald ernährten sie sich nur noch von angespülten Fischen, ausgekochten Tierhäuten, Gras, Schuhsohlen und alten Urkunden auf Pergament. Doch am 28. September schien die Rettung nah: England hatte eine Flotte von 150 Schiffen losgeschickt, um die Einwohner La Rochelles aus dieser Todesfalle zu befreien. Unter dem Dauerbeschuss der französischen Kanonen kämpften sich die Engländer durch den Hafen und setzten schließlich alles auf eine Karte: Sie steckten ihre eigenen Schiffe in Brand, um mit dieser Feuerwalze den Blockadewall Richelieus zu sprengen. Aber: Die Rechnung ging nicht auf. Die Meeresmauer des Kardinals hielt Stand, und die Engländer wurden wieder zurück aufs Meer gejagt. Nun gab es endgültig keine Hoffnung für die Bewohner mehr: Nach 13 Monaten französischer Belagerung musste das uneinnehmbare La Rochelle im Oktober 1628 erstmals in seiner stolzen Geschichte kapitulieren. Und die Bilanz dieser langen Zeit des Ausharrens war mehr als erschreckend: Von den vormals 28.000 Einwohnern La Rochelles hatten nicht einmal 6.000 Menschen überlebt. Zwar wurden die meisten von ihnen von König Ludwig XIII. aufgrund ihrer beispiellosen Tapferkeit begnadigt, und im Gnadenedikt von Arles bestätigte er ihnen sogar die bisherigen religiösen Freiheiten. Doch als Machtfaktor für die protestantische Seite waren die Hugenotten erledigt, die Verteidigungsanlagen ihrer Stadt wurden geschleift. Wie eine bittere Ironie des Schicksals erscheint es dabei, dass nur wenige Tage nach dem Ende der Belagerung ein Sturm den größten Teil von Richelieus Blockadebauwerk in seine Einzelteile zerlegte ...
Heute ist die Stadt La Rochelle mit den Arkaden am Quai Duperre, dem historischen Stadttor Grosse-Horloge, dem berühmten Aquarium La Rochelle und dem Musée des Automates das ganze Jahr über ein beliebtes Reiseziel für Gäste aus aller Welt. Am Alten Hafen – dem Vieux Port – steigt jedes Jahr das fünftägige Musik- und Tanzfestival Francofolies, im Yachthafen findet jährlich eine der größten Boots- und Schiffsmessen Europas statt. Die berühmten drei Türme von La Rochelle erinnern als steinerne Zeugen an die dramatischen Ereignisse von 1627/28.
Nur drei Jahre nach dem Drama von La Rochelle sollte der Dreißigjährige Krieg rund 1.400 Kilometer nordöstlich eine weitere protestantische Metropole auf grausame Weise buchstäblich von der Landkarte tilgen. Ihre völlige Vernichtung im Mai 1631 ging als die Bluthochzeit von Magdeburg in die Geschichte ein.
Zusammenfassung
Die Stadt La Rochelle trotzte als protestantische Hochburg dem katholischen König von Frankreich. Sie galt seit Jahrhunderten als uneinnehmbar.
Der katholische König Ludwig XIII. und dessen oberster Minister Kardinal Richelieu beschlossen, den Widerstand La Rochelles durch Aushungern zu brechen. 1627 ließen sie einen zweiten Befestigungsring um die Stadt errichten und zogen über Winter sogar eine Seebarriere vor dem Hafen, um die Zufahrt für Schiffe aus dem verbündeten Königreich England zu sperren.
Ein Befreiungsversuch seitens der englischen Flotte scheiterte. Nach 13 Monaten Belagerung und Hungersnot ergab sich La Rochelle im Oktober 1628 den Katholiken. Von ursprünglich 28.000 Einwohnern hatten nicht einmal 6.000 die Belagerung überlebt.
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Richtige Antworten:
1. C) La Rochelle
2. A) Richelieu
3. B) England
4. C) 13 Monate
5. A) 6.000