Die fatale Fehlentscheidung eines Königs, ein wütender Mob von Adelsleuten und ein dreifacher Mordversuch sollten ganz Europa in die bis dahin größte Katastrophe führen: den Dreißigjährigen Krieg. In dieser Story erfährst du, wie sich im 17. Jahrhundert die Wut böhmischer Protestanten auf die katholischen Machthaber in einem beispiellosen Akt der Gewalt auf der Prager Burg entlud.
Der böhmische Graf tastet noch einmal nach seinem Degen, den er unter der Kleidung verborgen hat und blickt die stolzen Türme des Veitsdoms auf der Prager Burg empor. Gleich wird die Heilige Messe der verhassten Katholiken zu Ende sein. Dann werden einige von ihnen einen echten Grund haben, ihre Stoßgebete zum Allmächtigen zu schicken! Die königlichen Statthalter zum Beispiel!
Endlich verkünden die Domglocken das Ende des Gottesdienstes. Der protestantische Adlige sieht sich bedeutungsvoll nach seinen Verbündeten um. Und als die ersten Menschen aus der Kirche strömen, gibt er das vereinbarte Zeichen zum Angriff – und gleichermaßen das Zeichen für die zahllosen eingeweihten Bürger der Stadt, die so lange vor den Toren der Prager Burg gewartet haben. Schon strömen sie herein: Dutzende Protestanten rennen durch das Matthiastor auf das große Burgareal, andere kommen über die alte Schlossstiege im Osten. Alle haben dasselbe Ziel: dabei zu sein, wenn Graf Heinrich Matthias von Thurn und die anderen Adelsmänner den katholischen Beamten in der Ratskanzlei eine gehörige Lektion erteilen!
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Jetzt runterladen!Am 23. Mai 1618 stürmten böhmische Protestanten die königlichen Kanzleiräume auf der Prager Burg – und warfen nach einem kurzen, aber heftigen Wortwechsel drei Beamte des katholischen Königs (und späteren Kaisers im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation) Ferdinand II. aus einem der Fenster der Prager Burg. Die drei Herren stürzten 17 Meter tief bis in den überwucherten Burggraben und überlebten das Attentat auf wundersame Weise mit nur einigen Blessuren, was sie flugs dem rettenden Eingreifen der Heiligen Mutter Maria zuschrieben. Dieses Ereignis ging als zweiter Prager Fenstersturz oder auch als Defenestration in die Geschichte Europas ein. Der Begriff „Defenestration” ist vom lateinischen Wort „Fenestra” für Fenster abgeleitet und hat eine Entsprechung in der tschechischen Sprache, weshalb er in Tschechien gebräuchlicher ist.
Aber wie konnte es zu jener brutalen Tat kommen, die den Kontinent für die nächsten 30 Jahre in einen Strudel blutiger Schlachten riss? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einen Blick auf die macht- und religionspolitische Situation im Mitteleuropa des frühen 17. Jahrhunderts werfen. Seit dem 10. Jahrhundert bestand hier das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Herrschaftsgebiet der römisch-deutschen Kaiser. Es war kein Reich nach heutigen Maßstäben, sondern ein Flickenteppich aus Grafschaften und Fürstentümern, freien Städten, Reichsstiften und Herzogtümern, Bauernrepubliken und eigenständigen Abteien. Das führte zunehmend zu Spannungen und Machtkämpfen zwischen den einzelnen Fürsten und Königen und mit den Kaisern, die ihrerseits immer mehr Macht für sich beanspruchten. Hinzu kam, dass seit der von dem Augustinermönch Martin Luther Mitte des 16. Jahrhunderts angeschobenen Reformation zwei völlig unterschiedliche Glaubensauffassungen innerhalb der christlichen Kirche existierten – eine katholische und eine protestantische.
Nach außen hin trat dieser Zwiespalt anfangs noch wenig zutage, denn seit dem sogenannten Augsburger Religionsfrieden im Jahre 1555 durften die Fürsten und andere Herrscher für sich selbst entscheiden, ob ihre Reichsgebiete nun protestantisch oder lieber katholisch wie das Kaiserhaus geprägt sein sollten. Doch genau das, was eigentlich zur Entspannung der Lage beitragen sollte, verschärfte die Situation im Lande stetig. Denn die freie Religionswahl galt nicht für den einzelnen Bürger, sondern nur für das Herrschaftsgebiet jedes einzelnen Landesherrn. Und jeder dieser Landesherren, aber auch Vertreter der Ritterorden, Freien Städte und Reichstädte hatten Sitz und Stimme in der Ständevertretung, also im Parlament. Sie bezeichnete man damals als Reichsstände. Auf heutige Verhältnisse übertragen könnte man sagen: Das damalige Parlament bestand aus zwei grundlegend verfeindeten Parteien – den Katholiken und den Anhängern der protestantischen Reformation Luthers. Diese beiden konfessionellen Lager blockierten sich in den wichtigsten Reichsinstitutionen wie dem Reichstag und dem Reichskammergericht politisch gegenseitig. Und beide Seiten bauten ihre eigenen Militärbündnisse auf.
Die Protestanten beschlossen als Erste, die Interessenvertreter ihrer Religion zu vereinen. Im Jahre 1608 riefen die lutherischen und calvinistischen Reichsstände die Protestantische Union ins Leben, der bald schon 30 Fürstentümer angehören sollten. Weitere Verstärkung holte man sich aus dem Ausland, indem man auch noch das protestantische England als Bündnispartner dieser Union gewinnen konnte. Nur ein Jahr später gründeten auch die katholischen Reichsstände einen eigenen großen Zusammenschluss, um das Gleichgewicht in Europa wieder herzustellen. Dieses Bündnis nannte sich Katholische Liga und konnte außer dem mächtigen Bayern und zahlreichen weiteren Fürstentümern auch zwei extrem einflussreiche Bündnispartner mit ins Boot holen – den Papst als Oberhaupt der katholischen Kirche und König Ferdinand II. aus dem Hause Habsburg, der im Jahr 1619 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gewählt werden würde.
Ähnlich wie Jahrhunderte später im Kalten Krieg standen sich in Europa nun also zwei große Machtblöcke gegenüber, und es war nur noch eine Frage der Zeit, wer als Erster zum Angriff auf den Gegner blasen würde. Und diese Frage sollte sich schließlich im Jahr 1618 im Königreich Böhmen entscheiden. Einem Königreich, in dem die Anhänger der evangelischen Glaubensausübung die überragende Mehrheit der Bevölkerung und des Adels stellten.
Böhmen war damals eine sogenannte Wahlmonarchie, also ein Herrschaftsgebiet, dessen Krone durch Wahl des Herrschers und nicht durch Erbschaft auf den jeweiligen Nachfolger überging. So war auch Ferdinand II., Erzherzog von Innerösterreich aus dem Hause Habsburg, im Juni 1617 zum König von Böhmen gewählt worden, und zwar auf Vorschlag seines Cousins und Vorgängers Erzherzog Matthias, der seit 1612 auch Kaiser des Heiligen Römischen Reichs war.
Erzherzog Ferdinand war sowohl Anhänger des Absolutismus – also der königlichen Alleinherrschaft – als auch der katholischen Gegenreformation. Beides hatte er in seinem eigenen Erzherzogtum schon eindrucksvoll bewiesen. Von daher verwundert es, dass die protestantischen Stände Böhmens ausgerechnet ihn zu ihrem König wählten. Und tatsächlich kam es, wie es kommen musste: Schon kurz nach seiner Thronbesteigung begann der neue König damit, die Macht der protestantischen Stände einzuschränken. Er erließ allerlei neue Verordnungen, um sein Königreich in den Schoß der römisch-katholischen Kirche zurückzuführen. Damit brach er ein altes kaiserliches Versprechen: den Majestätsbrief, mit welchem Kaiser Rudolf II. im Jahr 1609 speziell für das Land Böhmen den Religionszwang durch den Landesherren abgeschafft hatte.
Ferdinand setzte sich darüber hinweg. Und als er schließlich die 1611 als erste neu errichtete Kirche der evangelischen Bürgerschaft in Klostergrab niederreißen ließ, war für die böhmischen Stände das Maß endgültig voll. Graf Heinrich Matthias von Thurn und seine adeligen Mitstreiter beschlossen, die Vertreter des Königs – die man damals Statthalter nannte – aus der Prager Burg zu werfen. Das geschah am 23. Mai 1618 tatsächlich, und zwar im wahren Sinn des Wortes...
Jaroslaw Borsita, Graf von Martinitz, war der Erste, der von den protestantischen Adelsmännern zum Fenster der Burgkanzlei gezerrt und hinausgeworfen wurde. Ihm folgten Wilhelm Slavata, Graf von Chlum und Koschumberg sowie letztlich auch noch der Kanzleisekretär Philipp Fabricius. Trotz der erschreckenden Höhe überlebten die drei und konnten trotz ihrer Verletzungen in den angrenzenden Wald entkommen. Nach einer etwas boshaften Legende, die sich hartnäckig über die Jahrhunderte hielt, waren die Hinausgestürzten auf einem großen Misthaufen zu Füßen der Burgmauer weich gelandet. Dafür gibt es jedoch in den zeitgenössischen Augenzeugenberichten keinen Beleg. Vielmehr vermuten die Forscher*innen, dass die spezielle Bauform der Burgmauer unter dem betreffenden Fenster zum wundersamen Überleben der drei Beamten beitrug: Sie fällt nicht senkrecht ab, sondern bildet eine leichte Schräge, die den Sturz bremste und nicht zum zweifellos tödlichen freien Fall werden ließ.
Dennoch: Die Defenestration war eine offene Kriegserklärung an den Habsburger Ferdinand II., denn mit jenem zweiten Prager Fenstersturz spielten die Akteure auf den ersten Prager Fenstersturz an, der sich 200 Jahre zuvor ereignet hatte und bei dem die Gestürzten ums Leben gekommen waren. Damals im Jahr 1419 hatte der böhmische Adel auf dieselbe Weise seinen Protest gegen die Krone zum Ausdruck gebracht, nachdem der böhmische Prediger und Reformer Jan Hus in Konstanz als Häretiker – also als Abtrünniger der katholischen Glaubenslehre – mitsamt seinen Schriften auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, weil er die Anhäufung von Reichtümern und den Sittenverfall in der Papstkirche angeprangert hatte. Hus’ Anhänger hatten daraufhin das Neustädter Rathaus in Prag gestürmt und einige Ratsherren aus dem Fenster gestürzt. Das löste vor dem Hintergrund großer nationaler und sozialer Spannungen die Hussitenkriege aus, die nach 17 blutigen Jahren mit einer Art Vergleich endeten: 1436 musste der böhmische Landtag den römisch-deutschen Kaiser Sigismund als ihren König anerkennen, dafür behielt die hussitische Bevölkerung gewisse Freiheiten in der Ausübung ihres Glaubens.
Nun also, 182 Jahre später, tobte der Aufstand der böhmischen Stände gegen den ihrer Meinung nach wortbrüchigen König Ferdinand. Er wurde am 27. August 1619 kurzerhand für abgesetzt erklärt und durch einen protestantischen Gegenkönig aus dem Hause Wittelsbach ersetzt: Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz und Schwiegersohn des englischen, irischen und schottischen Königs Jakob I.. Friedrich sollte sich jedoch nur etwas über ein Jahr auf dem böhmischen Thron halten. Denn Ferdinand, der genau einen Tag nach Friedrichs Königswahl zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gewählt wurde, konnte nun das große Kampfbündnis der Katholischen Liga gegen den „Ketzerkönig” und dessen Anhängerschaft mobilisieren...
Zusammenfassung
Weil Böhmens katholischer König Ferdinand II. gegen den Majestätsbrief Kaiser Rudolfs II. verstieß und die katholische Gegenreform im Land umzusetzen begann, kam es zum Aufstand der protestantischen Stände.
Am 23. Mai 1618 stürmten protestantische Adelige die königlichen Kanzleiräume auf der Prager Burg und warfen drei katholische Beamte aus dem Fenster. Sie überlebten verletzt. Dieses Ereignis ging als zweiter Prager Fenstersturz in die Geschichte ein. Der erste Prager Fenstersturz war 1419 am Beginn der Hussitenkriege gewesen.
Die böhmischen Stände erklärten den katholischen böhmischen König Ferdinand II. für abgesetzt und wählten Friedrich von der Pfalz zum protestantischen Gegenkönig.
Der blutige Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten war nicht mehr aufzuhalten. Der zweite Prager Fenstersturz, auch Defenestration genannt, gilt deshalb als Beginn des Dreißigjährigen Kriegs.
Teste dein Wissen im Quiz
Richtige Antworten:
1. C) Ferdinand II.
2. C) In Prag
3. A) Prager Burg
4. D) Königliche Beamte
5. B) 30-jähriger Krieg